Читать книгу Geschichte der abendländischen Philosophie - Anthony Kenny - Страница 14
Heraklit
ОглавлениеHeraklit war der letzte und berühmteste der frühen ionischen Philosophen. Er war vielleicht 30 Jahre jünger als Xenophanes, denn es wird berichtet, dass er mittleren Alters war, als das sechste Jahrhundert zu Ende ging (D.L. 9.1). Er lebte in der großen Metropole Ephesos, auf halbem Wege zwischen Milet und Kolophon. Von seinem Werk sind größere Teile als von irgendeinem der früheren Philosophen erhalten geblieben. Allerdings bedeutet dies nicht, dass wir ihn verständlicher finden. Seine Fragmente haben die Form prägnanter, in kunstvoller Prosa geschriebener Aphorismen, die häufig unklar sind und manchmal absichtlich zweideutig. Heraklit argumentierte nicht: Er verkündete. Der delphische Stil war vielleicht eine Nachahmung des Orakels des Apollon, das – in seinen eigenen Worten – „weder spricht, noch verbirgt, sondern andeutet“ (KRS 244). Die zahlreichen Philosophen späterer Jahrhunderte, die Heraklit bewunderten, konnten seinen paradoxen, vieldeutigen Aussprüchen ihre eigene Färbung verleihen.
Selbst in der Antike hielt man Heraklit für schwierig. Er erhielt den Beinamen „der Rätselhafte“ und wurde „Heraklit der Dunkle“ genannt. Er schrieb eine aus drei Büchern bestehende – heute verschollene – Abhandlung über die Philosophie und hinterlegte sie im großen Tempel der Artemis (Paulus’ „Diana der Epheser“). Man konnte sich nicht darauf einigen, ob es ein Text der Physik oder ein politischer Traktat sei. „Was ich davon verstanden habe, zeugt von hohem Geist“, soll Sokrates gesagt haben, „und, wie ich glaube, auch was ich nicht verstanden habe; nur bedarf es dazu eines delischen Tauchers“ (D.L. 2.22).7 Hegel, ein deutscher idealistischer Philosoph des 19. Jahrhunderts und großer Bewunderer Heraklits, verwendete die gleiche Meeresmetapher, um eine allerdings gegenteilige Einschätzung auszudrücken. Erreichten wir nach den schwankenden Spekulationen der frühen Vorsokratiker Heraklit, komme endlich Land in Sicht. Stolz fügte er hinzu: „Es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen.“8
Heraklit sah sich, genau wie Descartes und Kant in späteren Zeitaltern, als jemanden, der einen völligen Neuanfang in der Philosophie vollzieht. Er hielt die Arbeiten früherer Denker für wertlos: Homer hätte in jedem Dichterwettstreit gleich zu Beginn disqualifiziert werden sollen, und Hesiod, Pythagoras und Xenophanes seien lediglich Vielwisser gewesen, ohne wirklichen Verstand (D.L. 9.1.). Dennoch war Heraklit, auch darin Descartes und Kant ähnlich, von seinen Vorgängern stärker beeinflusst, als ihm bewusst war. Wie Xenophanes stand er der Volksreligion höchst kritisch gegenüber: Blutopfer zu bringen, um sich von Blutschuld zu befreien, sei etwa so, als wolle man Lehm mit Lehm abwaschen. Eine Statue anbeten sei wie das Flüstern in einem leeren Haus, während Phallusprozessionen und dionysische Riten einfach abstoßend seien (KRS, 241, 243).
Wie Xenophanes glaubte auch Heraklit, dass die Sonne jeden Tag neu entstehe (Aristoteles, Mete. 2. 2355b13–14), und wie Anaximander nahm er an, die Sonne unterstehe einem kosmischen Vergeltungsprinzip (KRS 226). Die Theorie vom vergänglichen Wesen der Sonne ist bei Heraklit zu einer Lehre vom universalen Fluss aller Dinge erweitert. Er behauptete, dass sich alles in Bewegung befinde, und nichts still stehe. Die Welt ist wie ein fließender Strom. Wenn wir zweimal in denselben Fluss steigen, können wir unsere Füße nicht zweimal in dasselbe Wasser tauchen, denn das Wasser ist Momente später nicht mehr dasselbe (KRS 214). Das scheint recht plausibel, doch scheint es, dass Heraklit übertrieb, als er behauptete, wir könnten nicht zweimal in denselben Fluss steigen (Platon, Kra. 402a). Wörtlich verstanden scheint die Aussage falsch zu sein. Es sei denn, wir nehmen als Kriterium für die Identität eines Flusses das Wasser, das sich in seinem Bett befindet, statt seinen Verlauf. Allegorisch verstanden ist es wahrscheinlich die Behauptung, dass sich alles in der Welt aus ständig ändernden Bestandteilen zusammensetzt: Sollte dies gemeint sein, so müssten die Änderungen nach Aristoteles nichtwahrnehmbare Veränderungen sein (Ph. 8.3. 253b9ff.). Vielleicht ist es dies, worauf Heraklit in dem Aphorismus anspielt, dass verborgene Harmonie besser sei als offensichtliche – wobei die Harmonie den zugrunde liegenden Rhythmus des sich in ständigem Fluss befindlichen Universums darstellt (KRS 207). Was immer Heraklit mit diesem Ausspruch gemeint haben mag, er sollte in der späteren griechischen Philosophie noch eine lange Geschichte haben.
Ein heftig brennendes Feuer ist – mehr noch als ein fließender Strom – ein Musterbeispiel ständiger Veränderung, da es ständig Dinge verzehrt und weiteres Brennmaterial erhält. Heraklit sagte einmal, die Welt sei ein ewig lebendiges Feuer: Das Meer und die Erde seien die Asche dieses ewigen Feuers. Feuer ist wie Gold: Gold kann gegen alle möglichen Güter eingetauscht werden, und Feuer kann sich in jedes andere Element verwandeln (KRS 217ff.). Diese feurige Welt ist die einzige Welt, die es gibt, weder von Göttern noch Menschen geschaffen jedoch durchgehend vom Logos regiert. Heraklit meinte, es sei absurd, wenn man annähme, dieser majestätische Kosmos sei nichts anderes als ein aufgetürmter Haufen Abfall (DK 22. B 124). Logos ist in der griechischen Umgangssprache ein geschriebenes oder gesprochenes Wort, doch seit Aristoteles gibt ihm fast jeder griechische Philosoph eine oder mehrere grandiosere Bedeutungen. Häufig wird es von Übersetzern mit Vernunft wiedergegeben – sei es die geistige Kraft einzelner Menschen oder ein höheres kosmisches Prinzip der Ordnung und Schönheit. Der Ausdruck fand Eingang in die christliche Theologie, als der Autor des vierten Evangeliums verkündete: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.“ (Johannes 1:1)
Der universale Logos ist nach Heraklit nur schwer zu erfassen und den meisten Menschen gelingt dies nie. Im Vergleich zu jemandem, der zum Logos erwacht ist, sind sie wie Schläfer, die in ihre eigene Traumwelt abgetaucht sind, statt die einzige universelle Wahrheit zu erkennen (S.E., M. 7. 132). Die Menschen lassen sich in drei Klassen einteilen, die von dem vernünftigen Feuer, das das Universum lenkt, unterschiedlich weit entfernt sind. Ein Philosoph wie Heraklit steht dem feurigen Logos am nächsten und wird von ihm erwärmt. Als nächstes empfangen normale Menschen von ihm Licht, wenn sie erwacht sind, indem sie von ihrer eigenen Vernunft Gebrauch machen. Die Schlafenden haben die Fenster ihrer Seelen verschlossen und sind mit der Natur nur durch die Atmung verbunden (S.E., M. 7.129f.). Kann der Logos mit Gott gleichgesetzt werden? Heraklit gibt eine typisch ausweichende Antwort: „Das einzige, was wirklich weise ist, ist sowohl unwillig als auch willig mit dem Namen Zeus benannt zu werden.“ Vermutlich nahm er an, der Logos sei göttlich, aber mit keinem der olympischen Götter identisch.
Die menschliche Seele ist selbst Feuer: Heraklit listet manchmal Seele, zusammen mit Erde und Wasser, als drei Elemente auf. Da Wasser das Feuer löscht, ist die beste Seele eine trockene Seele, und sie muss vor Feuchtigkeit geschützt werden. Es ist nur schwer zu sagen, was in diesem Kontext mit Feuchtigkeit gemeint ist, doch Alkohol gehört sicherlich dazu: Ein Betrunkener, sagt Heraklit, sei ein erwachsener Mann, dem von einem unmündigen Knaben der Weg gewiesen werde (KRS 229–231). Doch Heraklits Verwendung des Wortes „nass“9 scheint auch die Bedeutung zu haben, die es in der modernen Umgangssprache hat: Mutige und harte Männer, die in der Schlacht fallen, haben beispielsweise trockene Seelen, die den Tod durch Wasser nicht erleiden, sondern mit dem kosmischen Feuer vereinigt werden (KRS 237).
Am meisten bewunderte Hegel an Heraklit, dass er auf der Einheit der Gegensätze bestand, wie zum Beispiel darauf, dass das Universum sowohl getrennt als auch ungetrennt sei, geworden und ungeworden, sterblich und unsterblich. Manchmal sind diese Gleichsetzungen von Gegensätzen klare Aussagen über die Relativität bestimmter Prädikate. Die berühmteste von ihnen: „Der Weg hinauf und hinab ist ein und derselbe“, klingt sehr tiefgründig. Er könnte jedoch nicht mehr bedeuten als dies: Wenn ich einen Berg hinunter schlendere, treffe ich dich, der du ihn mühsam hinaufsteigst. Wir befinden uns beide auf demselben Weg. Verschiedene Dinge sind zu verschiedenen Seiten attraktiv: Nahrungsmittel, wenn wir hungrig, das Bett, wenn wir müde sind (KRS 201). Unterschiedliche Dinge ziehen verschiedene Lebewesen an: Meerwasser ist für Fische heilsam, doch für Menschen verderblich; Esel ziehen wertlose Dinge Gold vor (KRS 199).
Nicht alle aufeinandertreffenden Gegensatzpaare lassen sich durch Relativierung leicht auflösen, und selbst die am harmlosesten aussehenden haben möglicherweise eine tiefere Bedeutung. So sagt uns beispielsweise Diogenes Laertius, dass die Reihenfolge Feuer – Luft – Wasser – Erde dem Weg nach unten, während die Sequenz Erde – Wasser – Luft – Feuer dem Weg nach oben entspricht (D.L. 9. 9–11). Diese beiden Wege können nur dann als identisch betrachtet werden, wenn man sie als zwei Stadien eines kontinuierlichen, ewigen kosmischen Prozesses ansieht. Tatsächlich nahm Heraklit an, das kosmischen Feuer durchlaufe Stadien des Aufloderns und Verlöschens (KRS 217). Vermutlich sollten wir die Aussage, das Universum sei sowohl geworden als auch ungeworden, sterblich und unsterblich in diesem Sinne verstehen (DK 22 B50). Der zugrunde liegende Prozess hat keinen Anfang und kein Ende, wohl aber jeder Kreislauf des Auflodern und Verlöschens in einer individuellen Welt, die entsteht und wieder vergeht.
Obwohl von mehreren Vorsokratikern berichtet wird, sie seien politisch aktiv gewesen, kann Heraklit aufgrund der von ihm erhaltenen Fragmente als derjenige gelten, der als erster eine politische Philosophie entwickelt hat. An praktischer Politik war er nicht interessiert: Auf seinen Anspruch, als Aristokrat zu den Herrschenden zu gehören, verzichtete er und übertrug seinen Reichtum seinem Bruder. Er soll gesagt haben, er würde lieber mit Kindern spielen als mit Politikern verhandeln. Doch er war vielleicht der erste Philosoph, der von einem göttlichen Gesetz gesprochen hat: nicht von einem Naturgesetz, sondern von einem normativen Gesetz, das einen höheren Anspruch als alle menschlichen Gesetze hatte.
Es gibt eine berühmte Passage in Robert Bolts Stück über Thomas Morus, A Man for all Seasons. Thomas Morus wird von seinem Schwiegersohn Roper dazu gedrängt, unter Missachtung des Gesetzes einen Spion festzunehmen. Thomas Morus weigert sich, dies zu tun: „Ich weiß, was gesetzlich ist, nicht was richtig ist. Und ich halte mich an das Gesetz.“ In seiner Antwort an Roper bestreitet Thomas Morus, dass er das Gesetz der Menschen über Gottes Gebote stellt. „Ich bin nicht Gott“, sagt er, „doch im Dickicht der Gesetze bin ich ein Förster“. Darauf sagt Roper, er würde jedes Gesetz in England umstoßen, um des Teufels habhaft zu werden. Morus antwortete hierauf: „Und wenn das letzte Gesetz umgestoßen ist, und der Teufel sich gegen dich wendet – wo würdest Du dich verstecken, Roper, nun, da das Gesetz am Boden liegt?“10
Es ist schwer, in Thomas Morus’ eigenen Schriften oder aufgezeichneten Aussprüchen Nachweise für dieses Gespräch zu finden. Doch zwei Fragmente des Heraklit bringen die Ansichten der Gesprächsteilnehmer zum Ausdruck. „Das Volk muss für das Gesetz kämpfen wie es zur Verteidigung der Stadtmauer kämpfen würde“ (KRS 249). Doch obwohl eine Stadt sich auf ihr Gesetz stützen muss, muss sie ein noch größeres Gewicht auf das universale Gesetz legen, das für alle gilt. „Alle Gesetze der Menschen werden durch ein einziges Gesetz genährt, das göttliche Gesetz“ (KRS 250).
Die erhalten gebliebenen Fragmente des Heraklit umfassen nicht mehr als 15.000 Wörter. Es ist erstaunlich, wie stark sein Einfluss auf die Philosophen der Antike und der neueren Zeit gewesen ist. Seine Position in Raffaels Fresko in der Vatikanischen Stanze, Die Schule von Athen, hat etwas Treffendes. In diesem monumentalen Szenario, das imaginäre Porträts vieler griechischer Philosophen zeigt, nehmen Platon und Aristoteles, wie es richtig und gerechtfertigt ist, die Mitte ein. Doch die Person, von der das Auge des Betrachters beim Betreten des Raumes sofort angezogen wird, ist eine spätere Hinzufügung: die gestiefelte, grüblerische Figur des Heraklit, der in tiefe Gedanken versunken auf der untersten Stufe sitzt.11