Читать книгу Heile, Heile München - Arik Steen - Страница 19
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ОглавлениеDie Zelle von Maja war sauber, keine Frage. Es hätte durchaus auch ein Krankenzimmer in einem Hospital sein können. Eigentlich stellte sie sich bei einer Entführung das Gefängnis als schäbiges Zimmer vor. Eines, indem Ratten ihr nachts über die Beine huschten. Oder Spinnen sich von der Decke abseilten. Das war nicht der Fall. Und diese Gedanken waren auch reichlich dämlich, wie sie sich selbst eingestand. Sie schob Paranoia, hatte die verrücktesten Fantasien.
Warum war sie mitgegangen? Diese Frage stellte sie sich immer und immer wieder. Es war der Moment gewesen. Der Anruf ihrer Mutter war ein Grund. Aber nicht nur. Auch so wäre sie niemals mit diesem Mann mitgegangen. Nicht wenn diese Tamara nicht dabei gewesen wäre. Das war überhaupt das Verrückte an der Sache. Sie hatte ihr vertraut, weil sie eine Frau war. Und das war idiotisch. In Majas Welt waren die Bösen eigentlich immer Männer gewesen. Natürlich nicht alle. Aber wenn einer Böse war, dann doch eher ein Mann. Zumindest war das ihr Weltbild.
Die Ungewissheit war grausam. «Er nennt es spielen», hatte diese Tamara gesagt. Maja war sich nicht so sicher, was das bedeutete. Oder doch? Entweder leugnete sie die Wahrheit oder aber sie konnte es sich einfach nicht vorstellen.
Maja legte sich auf das Bett und schloss die Augen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Tina. Die sie ermahnt hatte. Und sie hatte Recht gehabt. Aber das änderte nichts an ihrer jetzigen Situation. Nur an der Tatsache, dass Maja sich dafür umso mehr selbst kritisierte.
Sie überlegte, was für ein Tag war. Es war Freitagabend gewesen, als sie entführt worden war. Wahrscheinlich war gut ein Tag vergangen. Ihr kam es wie eine Ewigkeit vor, aber Sonntag war sicherlich noch nicht. Also Samstag. Aber wie viel Uhr? Würde man sie vermissen? Natürlich. Ihre Mutter hatte am Freitagabend mit ihr gerechnet und würde sich Sorgen machen. Und am heutigen Samstag war ihr Martial Arts Training. Auch da würde es auffallen, wenn sie nicht kam. Sie hatte Einzelstunden. Bei einem richtig guten Trainer. Und die Stunden waren teuer. Rund 90 Euro zahlte sie für eine Trainingseinheit. Das waren 360 Euro im Monat. Ohne Ausrüstung.
Kampftraining. Eigentlich war es lächerlich, dass war ihr klar. Sie war eine so verdammt gute Kämpferin, das sagte jeder. Vor allem ihr Trainer. Er war mehrfacher deutscher Meister. Und der erkannte Potential. Aber hier hatte sie nicht einmal annähernd die Möglichkeit irgendetwas anzuwenden. Das Ganze war eine Farce. Selbstverteidigung? Nicht einmal ansatzweise hatte sie dafür die Gelegenheit bekommen.
«Was bin ich doch für ein kleines Mädchen», dachte sie sich. Bald wurde sie volljährig. Im letzten halben Jahr hatte sie sich reichlich erwachsen gefühlt. Jetzt hatte sie das Gefühl, als wäre sie wieder das schutzlose Mädchen von einst. Das sich nach ihrer Mutter sehnte. Nach Geborgenheit und Liebe.
Sie fing wieder an zu weinen. Alleine der Gedanke an ihre Mutter trieb ihr die Tränen in die Augen. Verzweiflung, Angst und Scham waren im Moment die größten ihrer Gefühle.
Sie dachte auch an Christoph. Ihren Stiefvater. Auch er würde sich Sorgen machen, zweifelsohne. Er war nicht ihr richtiger Vater, aber er war im Endeffekt schon immer dagewesen. Angeblich hatte er ihre Mutter bereits vor ihrer Geburt kennengelernt. Und er hatte sich immer wie ein Vater um sie gekümmert. Eine Woche vor ihrer Geburt hatten sie geheiratet. Ihre Mutter hatte den Namen Sauter angenommen und Maja damit ebenfalls. Neun oder zehn Jahre war sie gewesen, als ihre Mutter und ihr Stiefvater ihr erzählten, dass sie eigentlich einen anderen leiblichen Vater hatte. Ihr hatte das nichts ausgemacht. Sie hatte Christoph damals umarmt und damit war die Sache erst einmal erledigt gewesen. Nicht ganz. Als pubertierende 13jährige hatte sie ihn mal angeschrien. Dass er nicht ihr Vater sei und deshalb ihr nichts zu sagen habe. Er war damals so geschockt gewesen, dass es lange gebraucht hatte, bis wieder alles gut war. Und ihr hatte es leidgetan. Eigentlich schon gleich danach. Aber sie war zu stolz gewesen es zuzugeben.
Nein, Maja wusste nicht, dass Christoph tot war. Sie wusste, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Dass es mit ihrem Stiefvater zu tun hatte, das wusste sie nicht. Daran dachte sie nicht einmal annähernd.
Sie schnellte hoch, als der Schüssel im Schloss der Türe gedreht wurde. Blitzschnell setzte sie sich aufrecht hin.
Dann ging die Türe auf. Die blonde Tamara erschien. In der Hand ein Tablett. «Du hast sicherlich Hunger, oder?»
Maja nickte. «Wie spät ist es?»
«Ist das wichtig?», erwiderte Tamara und stellte das Tablett auf den Tisch. «Iss. Das ist wichtig.»
«Ja», meinte Maja.
«Kleines, ich war auch mal in deiner Lage. Ich kann dir wirklich nur raten dein Schicksal anzunehmen. Dann ist er weniger aggressiv. Und das ist wichtig. Wenn er wütend ist, dann ist er wie eine wildgewordene Bestie. Selbst seine Männer erzittern dann vor ihm.»
«Du bist nicht freiwillig hier?», fragte Maja verwundert. Sie wusste nicht so richtig, wie sie Tamara einschätzen sollte.
«Freiwillig? Ach Kleines. Natürlich bin ich freiwillig hier. Das war nicht immer so. Aber ich genieße sein Vertrauen. Das hat einige Jahre gedauert, aber nun kann ich hin, wo ich möchte.»
«Aber ... warum? Warum bist du hier? Warum tust du das?»
«Was soll ich sonst tun? Da draußen in der normalen Welt gibt es nicht mehr viel für mich. Nein, hier habe ich alles. Essen, Kleider, einen Schlafplatz und ein bisschen Taschengeld. Ich habe mich damit abgefunden.»
Maja wollte fragen, wie sie das mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte. Weil sie es nicht verstand. Aber sie fragte nicht.
«Diene ihm», sagte Tamara. «Es ist besser für dich. Und der Schmerz wird weniger. Er bleibt immer in deinem Herzen und vergehen wird er nie. Aber er wird, sagen wir mal, ertragbarer. Und jetzt iss. Ich habe nicht viel Zeit ...»