Читать книгу Heile, Heile München - Arik Steen - Страница 6

02

Оглавление

Unter anderen Umständen wäre es ein romantischer Anblick gewesen. Es war Abend und die untergehende Sonne brachte im Hintergrund des alten Gebäudes ein erstaunliches Farbenspiel zustande. Der Himmel war nicht wolkenfrei. Graue Schatten zeichneten sich am rötlich schimmernden Firmament ab. Einer davon sah aus, als wäre er ein Engel, der mit weit ausgestreckten Flügeln im Westen von München wachte. Oder das Münchner Kindl, dachte sich Philipp. Doch Zeit diesen Anblick zu genießen hatte der Kriminalhauptkommissar nicht. Vor allem hatte er nicht die Nerven zu. Und die Kulisse unterhalb des Himmels war eindeutig nicht dafür geeignet romantische Gefühle zu entwickeln. Zumindest nicht in ihm. Weil er dem Fußball so gut wie nichts abgewinnen konnte. Sein Blick ging deshalb schon fast verächtlich Richtung Westen, wo zahlreiche Fußballfans in der sogenannten Westkurve feierten. Was auch immer bei ihnen Freude auslöste, denn das Spiel hatte noch nicht begonnen. Sie feierten sich selbst. Oder den Abstieg. Oder ihr proletarisches Leben, das sie hier im Grünwalder Stadion so perfekt zelebrieren konnten.

«Entschuldigung, Sie können da nicht durch», meinte einer der Securities. Philipp schaute ihn irritiert an. Er hatte den falschen Eingang genommen, das war ihm klar. Er stand in der Ostkurve und musste hinüber in die sogenannte Stehhalle im Norden des Stadions.

«Was?», fragte Philipp zurück.

«Sie können den Block nicht wechseln, tut mir leid. Es sei denn, Sie haben einen Berechtigungsausweis.»

Philipp zog aus seinem Hemd seinen Dienstausweis heraus. «Kripo München. Ist das Berechtigung genug?»

«Oh ...», meinte der Sicherheitsmann. Ein Angestellter, der sich hier vermutlich für den Mindestlohn die Beine in den Bauch stand und das Tor bewachte. Er öffnete das Tor einen Spalt. Genau so viel, dass Philipp durchhuschen konnte.

Die Stehhalle. Warum sie so genannt wurde, erschloss sich Philipp nicht, weil es durchaus Sitzplätze gab. Und die waren bereits gut gefüllt. Hunderte, nein vermutlich Tausende von primitiven Fans, die ihrem tief abgestürzten Verein zujubelten. So zumindest sah Philipp das. Und sie freuten sich wie ein Schnitzel, als plötzlich die Mannschaft auf das Spielfeld lief. Die sogenannten «Blauen», wie man sie nannte. Oder «Sechzger» oder offiziell einfach nur der TSV München von 1860. Nein, mit Fußball konnte Philipp nun wahrlich nicht viel anfangen.

Seit gut zehn Jahren war er nun bei der Kripo. In der Mordkommission. Philipp Walter, Kripo München. Eigentlich war er stolz darauf. Aber der Job war Segen und Fluch gleichermaßen.

Er schaute auf sein Handy. Er hatte eine klare Anweisung, wohin er gehen sollte. Aber das war gar nicht so einfach. Wo war dieser verdammte Block N? Er ging vorbei an den Rollstuhlfahrern, die sich an den Zaun quetschten und auf das Spielfeld starrten. Hatte man schon begonnen zu spielen? Vermutlich nicht. Von Westen marschierten Fahnenträger aufs Spielfeld. Warum auch immer. Philipp hatte für Fahnen ebenso wenig übrig wie für Fußball.

«Block N in der Mitte der Stehhalle. Reihe 12. Sitzplatz 14», lautete die Nachricht auf dem Display. Und Philipp folgte den Informationen.

Philipp suchte den Platz. Er setzte sich unter den kritischen Blicken einiger Fans um ihn herum hin. Jeder sah, dass er hier nicht reinpasste. Mit seinem Anzug und seinen sauber geputzten Schuhen. Einen Schal hatte er auch nicht. Das schien hier wohl irgendwie Pflicht zu sein. Obwohl die Temperaturen in diesem Herbst freilich kaum einen Schal rechtfertigten. Aber ganz so blöd war Philipp natürlich nicht. Er wusste durchaus, dass es ein Symbol der Zugehörigkeit war. Zu einem Verein, der nun in einer «Grasnarbenliga» angekommen war. Zumindest hatte er das in der Zeitung gelesen. In der Abendzeitung oder der Süddeutschen. Was halt bei der Kripo zu rumlag.

Er hasste Fußball. Die grölende Masse von Fans war gar nicht so sein Ding. Und so saß er auf seinem Platz und starrte missmutig auf das Spielfeld.

«Was willst du?», fragte eine Stimme plötzlich neben ihm. Für einen Moment war Philipp abgelenkt gewesen und hatte nicht gemerkt, dass sich jemand neben ihn gesetzt hatte.

«Daniel», meinte Philipp und reichte seinem Sitznachbarn die Hand. Der jedoch nahm diese nicht.

«Ich wiederhole meine Frage: was willst du?»

«Mit dir reden!»

«Ach ja? Ich wüsste nicht, was wir miteinander zu bereden hätten», erwiderte der Mann neben Philipp, den dieser mit «Daniel» angesprochen hatte. Er trug eine Jeans, eine schwarze Jacke und hatte wie die meisten anderen Fans einen Schal um den Hals. Locker umgelegt.

«Du bist mir was schuldig, Kamerad. Ich brauche deine Hilfe», meinte Philipp und zog seine Hand zurück, nachdem der Handschlag verweigert worden war.

«Ich bin niemandem etwas schuldig! Und das weißt du», sagte Daniel. Sein Haar war kurz geschnitten und sah militärisch korrekt aus.

«Ich benötige bei einem Fall deine Hilfe», Kommissar Philipp Walter lehnte sich nach vorne und begann fast schon zu flüstern. «Was soll das? Warum treffen wir uns hier?»

Eine Antwort bekam er nicht. Stattdessen meinte Daniel: «Du weißt, dass ich kein Interesse habe auch nur annähernd irgendjemand zu helfen. Geschweige denn dir. Einem von der Mordkommission.»

«Wir sind ... wir waren Freunde», meinte Philipp und korrigierte sich im letzten Augenblick. Nein, eine Freundschaft konnte man ihre Beziehung nicht mehr nennen. Obwohl sie sich seit dem Kindergarten kannten. Aber trotz allem, er vertraute ihm.

«Du weiß, dass ich auf Freundschaften wenig Wert lege.»

«Ja, ist mir klar“, seufzte Philipp. «Sonst hättest du nicht meine Frau gefickt!»

«Ich habe sie nicht gefickt», kam als Antwort, «Sie hat mir einen geblasen!»

Ein etwa 12jähriger Junge in der Reihe vor ihnen drehte sich überrascht um. Daniel warf ihm einen strengen Blick zu.

«Oh, verdammt. Glaubst du, das macht es besser?», Philipp sprach leiser um nicht für noch mehr Aufmerksamkeit zu sorgen.

«Sie war nicht mal gut dabei!»

«Du bist ein Arschloch.»

«Weißt du das seit heute?», Daniel seufzte und starrte aufs Spielfeld. Das Spiel lief. Der TSV 1860 München trat gegen den 1. FC Schweinfurt an.

«Nein, das wusste ich schon immer!», meinte Philipp und fügte dann flüsternd hinzu: «Und du warst es schon, bevor du tot warst.»

«Wie geht es deiner Frau?»

«Gut! Wobei ich nicht glaube, dass es dich wirklich interessiert.»

«Sie ist jetzt wie alt?», Daniel sprach beiläufig. Sein Interesse schien vor allem dem Spiel zu gelten.

«Vierzig», meinte Philipp.

Daniel seufzte. «Gottverdammt. Scheiße. Frauen ab 40 sind wie das Grünwalder Stadion.»

Der Kommissar schaute ihn irritiert an und erwiderte spöttisch mit einem raschen Blick durchs Stadion. «Also ganz nach deinem Geschmack?»

«Ab diesem Alter werden sie sanierungsbedürftig. Und es gehen nicht mehr so viele rein, wenn du verstehst, was ich meine!»

«Arschloch!», rutschte es dem Kommissar über die Lippen.

«Ich geh trotzdem rein», grinste Daniel und schaute nun zu seinem Gesprächspartner. «Frag sie doch, ob sie Lust hat ...»

«Wenn ich nicht wüsste, dass du schon vor deinen Einsätzen ein Arschloch warst ...»

«Dann was? Würdest du mir das posttraumatische Belastungssyndrom diagnostizieren? Dass jeder scheiß Bulle immer auch ein Hobby-Arzt ist, geht mir gehörig auf die Eier.»

«Wir haben eine Leiche», meinte Philipp.

Daniel nickte. «Sicher. Das hat die Mordkommission so an sich, dass sie sich mit Leichen beschäftigt.» Sein Blick folgte dem Ball auf dem Spielfeld.

«Ich hätte gerne deine Hilfe!»

«Wieso?», Daniel wollte die Arme hochreißen, weil die Sechzger dem Tor ziemlich nahekamen und es aussah, als würde es gleich einen Treffer geben. Ein Raunen ging durch die Menge, als der Ball am Pfosten vorbeischlitterte.

«Wir haben es mit jemandem vom Militär zu tun», sagte Philipp. «Deshalb!»

«Mord ist Mord. Es spielt keine Rolle, ob Mörder oder Opfer beim Militär waren oder sind. Es ist deine Aufgabe ihn zu fassen. Ich habe damit nichts zu tun.»

Philipp griff in seine Tasche. Er nahm etwas heraus und gab es dann Daniel. «Sagt dir das was?»

Daniel starrte das kleine Tütchen an. Darin war ein Barettabzeichen. Ein Olivenkranz mit einem stürzenden Adler. «Woher hast du das?»

«Wir haben es bei dem Opfer gefunden. Es hielt es in der Hand.»

«Wirklich?», fragte Daniel.

Philipp seufzte. «Glaubst du, ich scherze?»

«Herrje, was weiß ich.»

«Hilfst du mir?»

«Du weißt, dass ich tot bin», murmelte Daniel und starrte noch immer auf das Abzeichen. Es hatte einen Durchschuss. Jemand hatte darauf geschossen. Direkt dort, wo der Adler war.

Philipp nickte. «Ich weiß.»

Daniel schaute für einen Moment stumm auf das Spielfeld. Die Sechzger bereiteten einen Angriff vor. Er wartete den Schuss ab, der weit über das Tor ging. Dann meinte er: «Das ist eine Botschaft.»

«Ach, ehrlich?», spottete Philipp. «Ich dachte, du könnest mir mehr sagen. Aber vielleicht erlaubt sich da jemand auch einen Scherz.»

«Nein», meinte Daniel und strich über das Abzeichen.

«Ich verstehe!» der Kommissar seufzte. «Du solltest dir wenigstens die Leiche anschauen ...»

«Ich denke nicht, dass ich das tun sollte, gottverdammt!»

«Ich wahre dein Geheimnis seit nun sieben Jahren“, meinte Philipp. «Du bist mir was schuldig»

«Willst du mir drohen?»

Der Kripobeamte seufzte. «Wenn es sein muss ...»

«Du bist ein Narr. Du weißt, dass du das nicht überleben würdest.»

Daniels Handy vibrierte. Überrascht zog er es aus seiner Tasche und hielt es sich ans Ohr. «Hallo?»

Heile, Heile München

Подняться наверх