Читать книгу Heile, Heile München - Arik Steen - Страница 24
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ОглавлениеDer Tod ist so etwas Endgültiges. Elisabeth wusste, dass sie sterben würde. Daniel würde kommen und die Tür öffnen. Dann war sie tot. Der Gewehrlauf zeigte direkt auf sie. Und ihre Kinder mussten dabei zuschauen. Ihre Kinder, die sie so sehr liebte und nie wiedersehen würde. Die ihre Mutter sterben sehen würden. Nein, das war nicht wirklich schön. Für einen Moment hasste sie ihren Mann dafür. Sie liebte ihn. Sehr sogar. Aber in solchen Augenblicken wo die eigenen Kinder, das eigene Fleisch und Blut in Gefahr war, da konnte man durchaus Hass für jemanden empfinden, den man eigentlich vergötterte und diese Kinder gemeinsam teilte.
Nein, der Tod war nicht erstrebenswert. Vor allem dann nicht, wenn man der Meinung war, man müsse nicht sterben. Elisabeth war nicht alt. Und auch nicht krank. Hier zu sterben, im oberen Saal ihres großen Hauses, das war völlig unnötig und sinnbefreit.
Elisabeth wollte mit ihren Kindern kommunizieren. Mit ihrer Tochter, die ihr so ähnlich war. Die sie so sehr an sich selbst erinnerte. Als sie eine junge Lady war. Stefanie war nun 12 Jahre alt. Sie hatte sich in einen Jungen aus dem Sport verknallt. Ihrer Mutter hatte sie das nie erzählt. Aber ihrer Freundin. Und Elisabeth hatte es zufällig belauscht, als sie die Wäsche hatte hineinbringen wollen. Und sie war unglaublich glücklich über diese heimliche Liebe gewesen. War sie im Grunde immer noch. Nein, dieser Junge würde wahrscheinlich nicht der erste Freund ihrer Tochter werden. Aber das gehörte in der Findungsphase dazu. Heimlich verknallt zu sein. Sie selbst erinnerte sich an so einige Jungs in dem Alter, die sie interessant fand. Meist Ältere. So ein oder zwei Jahre älter. Als sie 13 gewesen war, da war es dieser Florian gewesen. Im Pausenhof hatte sie ihn beobachtet. Da war er mit seiner Gang rauchend in der Ecke gestanden. Ein fünfzehnjähriger Draufgänger, der ein Moped besaß und sie nicht einmal beachtet hatte. Aber das war nicht weiter schlimm gewesen.
Und mit ihrem Sohn. Auch mit ihm wollte sie sprechen. Der nun gefesselt auf einem Stuhl saß. Gerade er, der nie ruhig sitzen bleiben konnte. Wie oft hatte sie ihm die Geschichte vom «Zappel-Philipp» vorgelesen. Die Geschichte geschrieben von dem Psychiater Heinrich Hoffmann im Jahr 1844. Wo ein Junge ständig ... sie überlegte. Vielleicht war das die Chance. Vielleicht konnte sie sich selbst zum Stürzen bringen. Ihren Stuhl kippen.
Heiß brannte ihr Gesicht bei dem Gedanken und schließlich fing sie an. Sie bewegte sich vor und zurück. Immer und immer wieder. Ihre Kinder wurden unruhig neben ihr und schauten sie fragend an, das bemerkte sie. Aber sie machte weiter. Alle Kraft setzte sie ein. Ihr Oberkörper schnellte nach vorne und dann zurück. Und schließlich fiel sie. Direkt nach hinten. In dem Augenblick fiel der Schuss ...
Daniel stürmte mit gezückter Waffe in den Raum. Blitzschnell analysierte er die Situation. Er starrte auf die Waffe, die er ausgelöst hatte. Das war ihm sofort klar. Sein Blick fiel auf die Frau seines Arbeitgebers. Er sah das Blut. Sie war getroffen.
Sein Herz pochte wie wild. Er hatte sie indirekt erschossen. Wie konnte er nur so dumm sein? Scheiße. Er war doch genau in die Falle getappt. Er musste ruhig bleiben. Sofort ging er zu ihr. Die beiden Kinder beachtete er gar nicht. Jetzt ging es erst einmal um sie. Er beugte sich über sie. Und mit Verwunderung stellte er fest, dass sie noch lebte. Schnell entfernte er das Klebeband, damit sie Luft bekam.
«Oh Gott!», stöhnte sie. «Ich dachte, ich bin tot!»
«Nein, sind Sie nicht!», meinte er und zog ein Messer aus der Tasche. Rasch schnitt er die Fesseln durch.
«Meine Kinder, was ist mit ...»
«Psst!», machte er und riss ihren Ärmel auf. Sie war an der Schulter getroffen worden. Ein glatter Durchschuss. Für einen Moment drückte er auf die Wunde, dann entschied er sich um. Er nahm das Messer und öffnete die Fesseln der Tochter. Schließlich presste er seine Hand wieder auf die Schusswunde.
Die Tochter riss sich panisch das Klebeband vom Mund und fing an zu schreien.
«Steffi!», brüllte Daniel laut: «Hör auf! Beruhige dich! Und hilf mir!»
«Okay ... okay ...!», sagte die Zwölfjährige rasch. Ihr Gesicht war voller Tränen.
«Befreie deinen Bruder. Schnell!»
Sie gehorchte.
Der Zehnjährige blieb erstaunlich ruhig. Der Schock saß tief.
«Timo! Du holst mir Handtücher!», befahl Daniel: «Und Steffi, du rufst einen Krankenwagen.»
«Wird sie ... sterben?», jammerte sie.
«Nein wird sie nicht. Und jetzt tu, was ich sage!»
«Okay ... okay!», meinte sie und rannte zum Telefon: «Was muss ich wählen?» Gefühlte tausend Mal hatte sie den Notruf schon gesagt bekommen. Aber in dieser Situation dachte sie nicht daran.
«112!», rief Daniel hastig.
Timo kam mit den Handtüchern.
Schnell bastelte Daniel einen provisorischen Verband. Für ihn kein Problem, wenn auch nicht Routine. Aber im Einsatz hatte er schon schwere Verletzungen versorgt. Und lange keine Hilfe bekommen. Er erinnerte sich noch genau an den Funkspruch „MedEvac, MedEvac, bitte kommen ...» Und niemand hatte geantwortet. Hier würde der Notarzt innerhalb von zehn Minuten da sein, da war er sich sicher. Und er musste weg sein. Weil man Fragen stellen würde.
Daniel verließ den Raum. Er schnappte sich noch den Schlüssel des Range Rovers und ging dann hinunter in die Tiefgarage. Er selbst hatte kein Auto. Und das gestohlene Auto ließ er besser stehen, wo es war. Den Range Rover hatte er schon öfters benutzt und Saibling hatte auch nichts dagegen. Allerdings war Daniel das im Moment ohnehin egal.