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Chicago: The Great Client Award
ОглавлениеDer Flug von Stuttgart nach Frankfurt ging erst um 10 Uhr 50, so hatte Beyer genügend Zeit für ein ausgiebiges Frühstück. Er schlug die Zeitung auf und sah die Überschrift: ‚Ansturm auf Botschaft. In Budapest stürmen ‘DDR‘-Bürger die Deutsche Botschaft‘. Darunter ein Bild von Familien, die über einen Zaun kletterten und Polizisten, die versuchten sie daran zu hindern.
„Wenn das man gut geht“, sagte Beyer zu seiner Frau, die gerade eine Tasse Kaffee trank. Es scheint sich wirklich etwas zu bewegen. Der Druck im Wasserkessel wird zu groß. Der Honecker kann das Volk nicht mehr auf Dauer im eigenen Land einsperren. Die wollen raus in die Freiheit.“
„Ich habe gestern Abend einen Bericht im Fernsehen darüber gesehen“, berichtete Elinor. „Es waren ergreifende Bilder: Hunderte Menschen, Familien mit Kindern, kletterten über den Zaun, um in dem völlig überfüllten Botschaftsgelände einen Hoffnungsschimmer auf Freiheit zu erlangen.“ Nach einer Weile des Nachdenkens fügte sie hinzu: „Was wir für ein Glück, dass meine Eltern im April 1945 mit uns Kindern Berlin verlassen haben.
„Bei uns war es ähnlich, meinte Arnim kopfnickend.“ Nur unsere Familie lebte seit 1943 getrennt: Vater in Bremen, um die Firma so gut es ging am Leben zu halten. Mutter und wir drei Söhne in Thüringen bei den Großeltern. Mutter ist im Sommer 1945 mit meinen älteren Brüdern über die Grenze im Harz geflohen, ich kam dann später mit meiner Großmutter in einem Flüchtlingstreck nach. Ich bin nie wieder drüben gewesen. Eigentlich möchte ich einmal wieder hin. Ob das irgendwann möglich sein wird?“
Arnim verabschiedete sich von Elinor mit einem flüchtigen Kuss. Ein Taxi brachte ihn zum Flugplatz. Der Flug erster Klasse nach Chicago verlief ruhig und problemlos.
Beyer las in der ‘Frankfurter Allgemeinen‘ und in der ‘Welt‘ die Berichte und Kommentare zur aktuellen Lage in den Botschaften und in der ‘DDR‘. Es sah wirklich so aus, als ob sich da etwas zusammenbraute, wobei kaum abzusehen war, wie es enden würde. Entweder würde es zu noch stärkerer Repression führen oder Honecker müsste die Grenze öffnen, wenigstens vorübergehend, um den Überdruck im Kessel entweichen zu lassen. Beides war möglich, aber wenn die Grenze auch nur einen Spalt breit geöffnet würde, dann wäre sie wohl nur mit Gewalt wieder zu schließen. Der Drang zur Freiheit und der Sog der D-Mark waren zu stark.
Beyer hatte große Sorge vor der unübersichtlichen Situation. Er lehnte sich in dem breiten Sessel zurück und schloss die Augen, und schließlich gelang es ihm, Schlaf zu finden, bis er kurz vor der Landung geweckt wurde.
Der Wagen, der Beyer am Flughafen abgeholt hatte, hielt vor dem Eingang des alten Gebäudes an der Ecke Harrison Street/Michigan Avenue. Er schätzte die gediegene Atmosphäre des alten Clubs und er zog sie der sterilen Einheitlichkeit der modernen Hotels vor, in denen man nie weiß, in welcher Stadt man sich gerade befindet. Hier war es anders. Die hohe Lesehalle mit der Holztäfelung und der Kassettendecke atmete die behagliche Wohlhabenheit der Kaufleute und Industriellen vor etwas mehr als hundert Jahren. Die Bilder an den Wänden in der Vorhalle zeigten Portraits von allen Präsidenten seit der Gründung des Clubs. Edle Möbel standen an den Wänden, alte Perserteppiche bedeckten die gepflegten Parkettböden.
Beyer wurde wie ein alter Bekannter begrüßt und auf sein Zimmer begleitet. Die Gästezimmer waren klein und hielten den Vergleich mit modernen Hotels keineswegs stand. Aber von den wenigen größeren Appartements hatte man einen schönen Blick auf den Michigan See. Einer dieser aufwendigen Räume war für ihn reserviert worden. Man konnte nur als Gast eines Club Mitglieds dort übernachten. Jack und einige andere Partner waren dort für einen horrenden Jahresbeitrag Mitglied. Damen war der Zutritt nur bei offiziellen Anlässen gestattet. Auch sonst wurden die Traditionen des Hauses sorgfältig gepflegt. Eine dieser Traditionen, die Beyer besonders schätzte, war der große Korb mit frischem Obst sowie die freundliche Einladung zu einem Drink an der Bar. Er bestellte sich einen erfrischenden Saft aus exotischen Früchten und atmete die herbstliche Luft am offenen Fenster, die vom Michigan See herüberzog.
Jack kam zur verabredeten Zeit. Die beiden begrüßten sich wie alte Freunde. Sie kannten sich aus der Düsseldorfer Zeit, als Jack noch das Deutsche Büro leitete. Er hatte sich in der Zwischenzeit kaum verändert, es sah immer noch wie ‘a big boy in a men’s shoe‘ aus, hatte aber eine steile Karriere gemacht, weil er niemanden auf den Fuß getreten hatte. Er zeichnete sich nicht durch außergewöhnliche Intelligenz aus, aber er konnte Menschen führen, und das war in seiner Position wichtig.
Er hatte Beyer vor mehr als 17 Jahren als Finanz- und DV-Experten eingestellt. Er sprach seit seiner Düsseldorfer Zeit perfekt Deutsch. Sie fuhren in ein kleines Restaurant an der Randolph Street, von wo man einen schönen Blick auf den Michigan See hatte. Die untergehende Sonne spiegelte sich auf der Wasseroberfläche und ihre die Strahlen brachen sich in vielfältigen Mustern, die über die Vorhänge in immer neuen Varianten huschten. Motoryachten rauschten mit schäumender Bugwelle vorbei, und von dem am Seeufer gelegenen kleinen Flugplatz starteten Privatjets und Propellermaschinen. „Schöner Blick von hier oben, es war eine gute Idee von dir, hierher zu kommen, Arnims Augen leuchteten. Ich war lange nicht mehr in diesem Lokal. Man isst hier vorzüglich, gepflegte französische Küche, sehr europäisch.“
„Ja, ich dachte mir, dass du als alter Segler und Flieger gerne wieder hierherkommen würdest, erinnerst du dich noch an das erste Mal, als wir hier waren?“ fragte Jack.
„Sicher, wir hatten damals die Eröffnung des Büros in Stuttgart besprochen. Jetzt seid ihr ganz groß herausgekommen, gratuliere zu dem ‘Great Client Award‘, den du dir redlich verdient hast.“
„Danke, ich habe mich sehr darüber gefreut, aber vor allem natürlich die Jungs in unserem Büro. War der Wettbewerb groß?“
„Ja sehr, viele unserer Partnerkollegen wollten den Preis gerne in den Staaten behalten, aber letztlich haben wir uns doch für euch entschieden. Euer Team hat wirklich gute Arbeit geleistet.“
„Wer waren die anderen Anwärter auf den Preis?“ erkundigte sich Arnim.
„Viele, insbesondere das General Motors Team unter der Leitung von Don. Die hatten ein viel größeres Budget als ihr. Dein spezieller Freund Don hat sich bei der Bewerbung kräftig ins Zeug gelegt.“
„Dann befürchte ich, dass Don versuchen wird, sich für die Niederlage irgendwie zu rächen.“
„Das glaube ich nicht, mach dir keine Sorgen“, beruhigte ihn Jack.
„Diese Auszeichnung war nicht der einzige Anlass für meine plötzliche Reise hierher? Ich bin neugierig, was du wegen der IT-Studie vorschlägst.“
„Das erzähle ich dir später, jetzt sollten wir das Essen bestellen.“
Während sie aßen informierten sie sich gegenseitig über aktuelle Vorgänge aus dem Geschäft des jeweiligen Landes. Jack besaß ein phänomenales Gedächtnis, er verfügte über ein erstaunliches Detailwissen, er vergaß fast nichts, hatte immer die Namen von allen wichtigen Personen parat. Beyer bewunderte ihn dafür, wo er sich selbst doch gerade mit Namen so schwertat. Jack hatte außerdem einen sicheren Instinkt für Trends, die für die künftige Geschäftsentwicklung von Bedeutung sein konnten. Vorsichtig lenkte er das Gespräch auf den Anlass für die Reise nach Chicago.
„Wie ich dir am Telefon schon sagte, du hast kürzlich mit großer positiver Wirkung in der Öffentlichkeit die empirische Studie über die Bedeutung der Informations- und Kommunikationstechnologien gemacht. Wir wollen die Untersuchung auf Südostasien ausweiten und wir möchten gerne, dass du für ein paar Wochen nach Japan gehst, damit du mit unseren Leuten dort etwas Ähnliches durchführst. Wir könnten dann einen internationalen Vergleich machen und dabei auf nationale Eigenheiten und IT-Trends aufmerksam machen. Wärest du damit einverstanden? Jack blickte sein Gegenüber erwartungsvoll an.
„Im Prinzip ja, was mache ich aber in der Zwischenzeit mit meinen deutschen Klienten?“
„Die musst du ein paar Wochen vertrösten oder auf deine Kollegen übertragen, es ist nur für zwei oder drei Wochen, danach kannst du die Untersuchung von Deutschland aus dirigieren. Vielleicht musst du später zur Datenauswertung noch einmal hinfahren, aber das sehen wir später.“
Beyer hatte schon seit vielen Jahren nach Japan reisen wollen. Das Land übte eine besondere Faszination auf ihn aus. Die Japaner hatten in wichtigen Schlüsselindustrien, insbesondere in der Elektronik- und in der Fahrzeugindustrie eine beherrschende Stellung am Weltmarkt eingenommen. Er fragte sich, wie das möglich gewesen war. Hatte man in Europa die wichtigen Trends verschlafen, waren die Japaner intelligenter als der Rest der Welt, war es nur die größere Motivation, lag es etwa an der längeren Arbeitszeit, an dem geringeren Urlaubsanspruch, lag es an der Lenkung durch das zentrale Planungsministerium ‘MITI‘, war es alles zugleich oder gab es noch andere Gründe?
Kurze Zeit hing jeder seinen Gedanken nach. Nachdem der Kellner abgeräumt hatte, fragte Armin:
„Was tut sich denn sonst Neues in unserer Firma“, fragte Arnim, nachdem der Kellner abgeräumt hatte.
„Wir wachsen stetig stärker als unser Wettbewerb, das soll auch so bleiben. Unsere Geschäftsaussichten sind weltweit günstig. Die zunehmende Internationalisierung und der technologische Wandel lassen die Nachfrage nach fundierter Strategieberatung überdurchschnittlich steigen. Unser Wachstum wird nur begrenzt durch die Verfügbarkeit an qualifizierten Beratern. Wir haben deshalb unser Rekrutierungsprogramm an den Top-Universitäten und Business-Schools wesentlich verstärkt. Gefragt sind engagierte, mehrsprachige Absolventen, die hervorragende Examensnoten vorweisen können. Doch solche Leute sind knapp. Die Business Schools produzieren nicht mehr genug.“
„Das gleiche Problem haben wir auch bei uns in Deutschland. Wir könnten wesentlich mehr Geschäft generieren, wenn wir mehr hoch qualifizierte junge Leute für unseren Beruf begeistern könnten.“
„Aber er hat auch viele Nachteile“, fuhr Arnim nach kurzer Pause fort. „Vor allem das viele Reisen und die Unsicherheit über die beruflichen Perspektiven. Die meisten jungen Leute wollen bei der Einstellung schon die Pensionierung regeln und sind nicht mehr dazu bereit, mindestens vier oft auch fünf Tage in der Woche von zu Hause weg zu sein.“
„Das ist in der Tat ein Problem“, bestätigte Jack.
„Weißt du noch, damals als ich anfing, sind wir schon Sonntagabend zum Ort unserer weit entfernten Klienten angereist. Die Philosophie war, wir sind in Büro des Klienten, wenn er morgens anfängt. Das hat sich dann aber schnell geändert, es war nicht lange durchzuhalten. Ich erinnere mich noch, als wir damals in Österreich, in der Steiermark waren, dann kamen wir Freitag spät am Abend nach Hause und fuhren Sonntagmittag wieder ab. Das hat damals bei unseren Familien viel Ärger gemacht.“
Arnim dachte daran, dass selbst die sonst so verständnisvolle Elinor damals verlangt hatte, dass er sich mehr Zeit für sie und die Kinder nehmen solle.
„Ja, das waren noch Zeiten, da waren wir weltweit gerade mal hundert Mitarbeiter, jetzt sind wir über Tausend“, verkündete Jack nicht ohne Stolz.
„Ein anderer Haftpflichtfall ist erst vor wenigen Wochen entschieden worden. In unserem Büro in Washington gab es eine sehr attraktive junge Puerto-Ricanerin, sie war Sekretärin von einem unserer Partner-Kollegen, den du sicher kennst, den ich aber nicht nennen will. Wenn die Dame durch das Büro ging, sahen alle männlichen Kollegen ihr nach. Da sie immer sehr auffallend gekleidet war, enge Pullover oder durchsichtige Blusen trug, dazu mal kurze Röcke oder hautenge Hosen, war es ziemlich eindeutig, dass sie damit die Männer bewusst provozierte. Es kam wie es kommen musste, eines Tages begann sie ein Verhältnis mit unserem Kollegen. Sie waren abends oft länger im Büro geblieben und dabei kam es dann zu engeren Berührungen zwischen den beiden. Das ging eine Weile gut, bis seine Frau zufällig davon Wind bekam. Sie verlangte, dass die Beziehung sofort aufhören müsse, sonst werde sie sich scheiden lassen. Außerdem müsse der Sekretärin sofort gekündigt werden.“
„Ein ähnlicher Fall hat sich vor einigen Jahren auch bei uns ereignet“, bemerkte Arnim beiläufig, aber Jack ging nicht darauf ein. Sie schwiegen und blickten jeder in eine andere Richtung.
Schließlich erkundigte sich Jack noch nach Einzelheiten aus dem Stuttgarter Büro und erfuhr dabei von dem Problem mit dem Klienten Stein.
„Das ist auch eine Form der ‘kreativen Zerstörung‘“, meinte Jack, sicher aber in anderer Weise, als es seinerzeit vom Wirtschaftstheoretiker ‘Schumpeter‘ gemeint war. Wir könnten deinem Bekannten auch in dieser Situation helfen. Wir sollten ihm vorschlagen, sein Geschäft zu verkaufen, wenn er das will. Wir haben hier gerade eine internationale Akquisitionsstudie von einem der größten Nahrungsmittelkonzerne der Welt, der Firma NEWE in Luzern. Wenn wir die Firmen zusammenbringen, dann wäre wahrscheinlich beiden geholfen. Immer vorausgesetzt, dass Stein dazu bereit ist.“
„Vor wenigen Tagen hätte ich das rundweg verneint, aber unter den gegebenen Umständen ist er wahrscheinlich froh, wenn er seine Firma mit Gewinn verkaufen kann. Danke für den Tipp, ich werde mich gleich nach meiner Rückkehr darum kümmern.“
Jack lachte: „Du kennst meine ‘Billing-Rate‘, schreibe vorsichtshalber mal einen Tag auf dein Stein Projekt.“
Tatsächlich fand Beyer eine Woche später einen Arbeitstag von Jack auf seiner internen Projektabrechnung: 8.500 Mark zuzüglich den Kosten für das Abendessen und reichlich bemessenem Trinkgeld. Jack brauchte eben auch seine ‘Auslastung‘, auch er musste sein Geld ‘am Markt‘ verdienen.
Am nächsten Tag ging Beyer zu Fuß ins Büro in der North Wacker Drive. Es war ein schöner Herbsttag, noch etwas kühl und windig, aber er genoss es, das geschäftige Treiben auf den Straßen zu beobachten. Chicago war in den letzten Jahren sehr viel schöner geworden, eine Reihe attraktive Hochhäuser war entstanden, die Straßen waren wesentlich sauberer geworden.
Das Kanders Büro lag in den Stockwerken 11 und 12 des großen Bürogebäudes. Im hinteren Teil der riesigen, mit Marmor getäfelten Eingangshalle befanden sich acht Fahrstühle, je vier auf einer Seite. Der Empfang befand sich in der 11 Etage. Der Empfangsbereich war mit edlen Hölzern gestaltet.
Mary begrüßte Beyer mit ihrem charmanten Lächeln. „Hallo Armin, „nice to see you again. Jack is waiting for you in the meeting room.“
Die Bürotüren aller Partner und Prinzipale standen generell offen, jeder konnte sehen und hören, was der andere tat und sprach, man hatte ungehinderten Zutritt. Zwischen den Führungsebenen gab es kaum sichtbare Schranken, die Kommunikation war offen und ungezwungen, dennoch hütete sich jeder, ohne dringende Notwendigkeit, das Büro eines Vorgesetzten zu betreten und ihn anzusprechen. Das informelle ‘Du‘ in Verbindung mit dem Vornamen in der Anrede konnte nicht über die tatsächlich vorhandenen Schranken in der Hierarchie hinwegtäuschen. Dies galt insbesondere im Verhältnis zwischen den Beratern und dem ‘Staff‘, den Damen und Herren im Schreibbüro und im Ressource-Center. Hier wurden Statistiken gesammelt, erstellt und ausgewertet. Kein Berater kam ohne die Hilfsfunktionen aus, insbesondere dann nicht, wenn es um die Erstellung von Proposal oder Abschlussberichten ging. Dann waren sie die wichtigsten Mitarbeiter, sonst aber waren diejenigen, die das Geld mit der Klienten-Arbeit vor Ort verdienten, eindeutig die angeseheneren, hatte aber auch ein viel größeres berufliches Risiko. Wenn mit dem Auftrag etwas schieflief, dann wurden die jungen Berater sehr schnell gefeuert. Das war der Preis für das höhere Einkommen. Sicherheit gab es nicht.
Jack Stones machte Arnim mit dem jungen Japaner, Mr. Morito Haziki, bekannt. Der freundliche, jungenhaft wirkende Mann Ende zwanzig, hatte an der Universität von Tokio studiert und anschließend in Princeton seinen ‚Master of Business Administration‘ gemacht. Er hatte ein offenes Wesen, Beyer fasste spontan Zutrauen zu ihm, man würde sicher gut zusammenarbeiten.
Beyer stellte mit ein paar Fragen schnell fest, dass Morito die Studie nicht nur gelesen, sondern die Problematik auch verstanden hatte. Eine der Schwachstellen der Studie war, dass die Fragebogen an das Top Management geschickt worden waren, die Antworten aber häufig von dem EDV-Leiter gegeben worden waren.
Morito fragte deshalb vorsichtig: „Hat man nicht versucht, die Unterschiede in der Beurteilung der einzelnen Führungsebenen der Funktionsbereiche zu ergründen? Es könnte doch immerhin sein, dass ein Abteilungsleiter der dritten Ebene die Sache ganz anders beurteilt als ein Top Manager. Auch wäre es möglich, dass beispielsweise die IT-Bedeutung im Finanzwesen ganz anders beurteilt wird als in der Entwicklung.“
Beyer nickte zustimmend. „Man sollte in dieser Richtung noch weitere Verfeinerungen der Analyse anstreben. Ich denke, dass wir dies bei der geplanten Studie in Japan wenigstens Ansatzweise versuchen sollten.“
Die folgenden beiden Tage arbeitete Arnim mit Morito intensiv zusammen und ging mit einem fertigen Projektplan zu Stones. Jack bat noch zwei andere Partner dazu und sie diskutierten die geplante Vorgehensweise im Detail. Es wurde eine Anzahl von Änderungen vorgeschlagen und in den revidierten Projektplan eingearbeitet. Der Plan wurde vom Board mit dem notwendigen Budgetrahmen genehmigt. Das Board bestand aus fünf Senior Partnern, die im Zwei-Jahresrhythmus von den Partnern in diese Position gewählt wurden. Die Board-Meetings fanden regelmäßig jedes Vierteljahr in Chicago statt. Außerhalb der regulären Meetings wurden wichtige Entscheidungen telefonisch abgestimmt, so auch diese. Da Arnim zwischenzeitlich mit seiner Frau telefoniert hatte und Elinor ihr Einverständnis zu der Reise nach Japan gegeben hatte, konnte der Projektbeginn schon für Anfang November des Jahres festgesetzt werden. Jack telefonierte mit Fukuzawa, dem Leiter des Tokioter Büros, um das Projekt mit ihm abzustimmen. Er veranlasste, dass die notwendigen Vorbereitungen für die Projektarbeiten getroffen wurden.
Beyer flog zum Wochenende nach Stuttgart zurück. Er versuchte im Flugzeug zu schlafen, was ihm aber lange Zeit nicht gelang, denn er war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt. Vor allem bewegte ihn die Frage, welchen Eindruck dies für ihn so geheimnisvolle Land, über das er so viel gelesen und gehört hatte, auf ihn machen würde. Kurz vor der Landung war er doch noch eingeschlafen. Er hatte einen Angsttraum: Er befand sich in einem großen Raum, fast wie ein Theater und sollte vom Podium aus vor einem großen Publikum eine Rede halten. Aber man hatte ihm nicht gesagt, über welches Thema. Er versuchte, von den Menschen hinter der Bühne das Thema zu erfahren, aber man sagte es ihm nicht. Er war überzeugt, dass er eine gute Rede halten könnte, aber es gelang ihm nicht, das Thema zu erfahren. Dann begann er über die Bemühungen von General Motors zu sprechen, ihren Konzern zu modernisieren. Da stand ein ihm unbekannter Zuhörer auf, ein großer, kräftiger Mann mit dunklen nach hinten gekämmten Haaren und rief: Er hat mich verraten! Und viele andere riefen: Er hat ihn verraten! Der Mann zog eine Pistole, zielte auf ihn und schoss. Es gab einen Knall, der ganze Raum erbebte.
Das Flugzeug setzte mit hartem Ruck auf der Landebahn auf und Arnim erwachte mit starkem Herzklopfen und schweißgebadet aus seinem Angsttraum.
Elinor holte ihn am Flughafen ab. Sie beschlossen, in den Schwarzwald zu fahren und eine Wanderung zu machen. Auf diese Weise konnte Arnim den Zeitunterschied von sieben Stunden am besten verarbeiten. Der Flug nach Westen war das geringere Problem, man ging einfach sehr spät ins Bett, aber nach Osten war es weit schwieriger, denn dann fehlte die Nacht. An der frischen Luft überwand er die Müdigkeit am besten und konnte sich dann abends zur gewohnten Zeit schlafen legen.
Arnim berichtete während des Spaziergangs von den Ereignissen in Chicago und der geplanten Studie und seine Frau hörte geduldig zu. Nicht, dass es sie nicht interessiert hätte, aber alle Details waren wohl auch nicht immer so wichtig. Jedenfalls sprachen sie ausführlich von der bevorstehenden Reise nach Japan, und Elinor streute gelegentlich eigene Erfahrungen aus ihrer Japanreise ein, die sie vor Jahren mit ihren Eltern auf einer Geschäftsreise gemacht hatte. Sie erzählte von ausgiebigen Abendessen mit viel rohem Fisch, Geisha-Bedienung und mühsamer Kommunikation. Sie waren immer froh gewesen, wenn sie endlich wieder allein im Hotel waren uns sehnten sich nach Schwarzbrot mit Leberwurst.
Arnim sprach von den zu erwartenden neuen Eindrücken und Erfahrungen und den wirtschaftlichen Erfolgen dieses bemerkenswerten Volkes, welches sich jahrhundertelang von westlichen Einflüssen abgeschottet hatte.
„Ich bin mal gespannt, wie Japan auf mich wirken wird.“
„Nun, du gehst ja mit einer ziemlich positiven Einstellung dorthin. Dann wird das Land auch positiv auf dich zukommen. Aber pass auf“, meinte Elinor, „es ist vielleicht nicht immer alles so wie du es dir vorstellst, oder wie du es gerne sehen möchtest.“
„Mag sein, du bist den Japanern viel kritischer eingestellt als ich“, gab ihr Arnim recht.
„Möglich, ich kann es nicht ausschließen, aber ich denke, du siehst Japan zu einseitig. Dich blenden die wirtschaftlichen Erfolge, aber du siehst nicht die Probleme, die dieses Land hat und die auf dies Land noch zukommen werden“, gab seine Frau zu bedenken.
„Ich will es mir unvoreingenommen ansehen, Jack hat vorgeschlagen, dass ich dort ein paar Tage Urlaub dranhänge. Willst du nicht mit?“
„Fahr du mal alleine hin, du sollst dir deine eigenen Eindrücke verschaffen.“