Читать книгу Doppel-Infarkt - Arnulf Meyer-Piening - Страница 8
Pauli GmbH
Оглавление„Gut, dass Sie kommen, Herr Dr. Pauli! Der Wirtschaftsprüfer Dr. Schubert, die Herren Dr. Kramer, Dr. Oderbruch, Winter, Ihr Bruder und Herr Ceponek warten im Besprechungszimmer auf Sie. Wir haben uns schon Sorgen gemacht.“ Frau Feiner, die Sekretärin der Geschäftsführung, begrüßte ihren Chef. Sie war eine attraktive Frau, Anfang 40, trug das kurze dunkle Haar sorgfältig nach hinten frisiert, und verriet in ihrem gutsitzenden Kostüm eine tadellose Figur.
„Haben Sie den Herren schon einen Kaffee gemacht?“
„Selbstverständlich“, antwortete Frau Feiner entrüstet. „Sie sollten mich eigentlich kennen.“
„Geben Sie mir auch eine Tasse. Es war etwas spät gestern Abend.“
Pauli eilte in den Sitzungsraum.
„Guten Morgen, Herr Schubert, grüß Gott meine Herren, entschuldigen Sie die Verspätung, ich komme direkt aus Südfrankreich. Wir konnten gestern wegen ungünstigem Wetter nicht starten und sind erst vor einer Stunde in Karlsruhe gelandet.“
„Kein Problem“, meinte Schubert, „wir waren gut betreut.“
„Ich habe zufällig einen Berater kennengelernt, ein interessanter Mann, versteht eine ganze Menge von Strategie und Finanzen. Vielleicht kennt jemand von Ihnen den Mann, Dr. Beyer, ein Partner von Kanders Management Consultants.“
„Der Name ist mir geläufig“, meldete sich Schubert zu Wort. Die Firma hat kürzlich für einen unserer Kunden gearbeitet, das hat, soweit man hört, erhebliche Kostensenkungen gebracht und wäre auch mal was für Sie. Ich glaube, Sie könnten einen guten Rat gebrauchen.“
„Wieso, ist die Bilanz ist gut?“ fragte Pauli erstaunt.
„Nein, die Bilanz ist gut, aber wir hatte neulich mal über den von Ihnen geplanten Börsengang des Unternehmens gesprochen, und da wäre ein neutrales Gutachten sicher hilfreich. Die Überprüfung der Börsenreife sowie die Planung des Emissionskonzepts ist ein zeitaufwendiges Vorhaben, das erhebliche Ressourcen in Ihrem Unternehmen bindet. Außerdem könnten die auch das Projektmanagement machen. Dazu haben Sie wohl kaum genügend Personalkapazität.“
„Was meinen Sie, Herr Kramer, brauchen wir einen Berater für den geplanten Börsengang?“
Dr. Kramer blätterte in seinen Akten, als suche er die Antwort auf die an ihn gerichtete Frage. Es war ihm sichtlich unangenehm, dass er so direkt angesprochen wurde. Am liebsten blieb er im Hintergrund, von wo aus er seine Fäden spinnen konnte. Er antwortete ausweichend: „Wir sollten uns von Herrn Schubert erst einmal die Aufgaben im Einzelnen erläutern lassen und sollten dann eine Entscheidung fällen.“
Pauli hatte seinen Kollegen vor vielen Jahren auf einem Symposium in St. Gallen kennengelernt. Man hatte sich zufällig getroffen und spontane Sympathie entdeckt, als der eine den anderen versehentlich angestoßen hatte, und die Salatsauce über den Abendanzug lief. Man entschuldigte sich, lachte und die Peinlichkeit war erledigt. Sie waren beim Abendessen miteinander ins Gespräch gekommen und tauschten ihre Visitenkarten aus. Kramer war damals Leiter der Produktentwicklung in einem schwäbischen Maschinenbau-Unternehmen.
Kurze Zeit später erhielt er ein Angebot von Dr. Pauli als Leiter der Entwicklung in dessen kleiner Elektronik Firma, das er annahm. Er war ein ziemlich durchschnittlicher Mann, allerdings mit der Fähigkeit, zur rechten Zeit die rechten Worte zu finden. Er wusste immer gerade so viel von allem, dass er zutreffende Bemerkungen machen konnte, ohne allerdings in die Materie tiefer einzudringen. Auch hatte er ein gutes Gedächtnis für wichtige Geschäftsvorfälle, die er mit korrektem Zeitpunkt und Inhalt immer gegenwärtig hatte. Im Laufe der Jahre gewöhnte sich Pauli an seine ständige Anwesenheit als Aktenträger, so dass er ohne ihn fast nicht mehr auskommen konnten. Zudem widersprach er nie und begnügte sich mit seiner Rolle als rechte Hand des Chefs.
Als die Firma wuchs, und Dr. Pauli mit operativen Aufgaben ständig überlastet war, wurde Kramer von ihm zum zweiten Geschäftsführer ernannt. Tatsächlich waren es aber die Banken, und in deren Folge der Beirat, die einen zweiten Mann in der Verantwortung haben wollten, den Pauli regierte allzu selbstherrlich und ohne interne Kontrolle. Pauli hatte Kramer damals selbst vorgeschlagen, weil er wusste, dass er ihm nie widersprechen würde. Und außerdem hatte er von all den möglichen Kandidaten aus dem eigenen Haus am meisten Zeit.
Später wurde die Holding zur Koordination der wachsenden Zahl von Gesellschaften gegründet. Kramer wurde neben Dr. Pauli zweiter Geschäftsführer in der Holding. Es genoss nie wirkliches Ansehen seitens der nachgeordneten Geschäftsführer in den Tochtergesellschaften, weder von Oderbruch, Leiter der Verkehrstechnik GmbH, noch von Fritz Pauli, Leiter der Steuerungstechnik GmbH, schon gar nicht von dem Finanz- und Personalchef Ceponek. Von keinem wurde er als ebenbürtig angesehen. Sie waren der Meinung, dass sie selbst in diese Position hätten berufen werden müssen, aber sie wagten kein offenes Veto. Untereinander im privaten Gespräch wurde die Ablehnung offen ausgesprochen, aber nie in seiner Gegenwart. Kramer wusste von dieser Ablehnung, aber es kümmerte ihn nicht. Solange Dr. Pauli ihn stützte, konnte ihm nichts geschehen. Er musste nur dafür sorgen, dass keiner der anderen zu mächtig wurde. Immer wenn sich einer der nachgeordneten Führungskräfte zu stark profilierte, dann wusste er kurze Zeit später negative Dinge über den Betreffenden zu berichten, so dass dieser wieder in die Reihe der gleichgeschalteten Untertanen trat.
Kramer war ein vollkommen anderer Typ als Pauli, ein ungleiches Paar, aber in wichtigen Angelegenheiten der Firma unzertrennlich: Er war mittelgroß und schlank, dunkelhaarig, trug eine randlose Brille, er hatte etwas Mürrisches und Verschlagenes in seinen Augen, selten blicke er seinen Gesprächspartner direkt an, meistens suchte er irgendetwas im Raum oder auf dem Tisch, wenn er nicht in seinen Akten blätterte. Er wirkte unsicher, wohl deshalb trug er immer einen tadellosen dunkelblauen, nadelgestreiften Anzug, gleichsam als Uniform eines bedeutenden Geschäftsführers.
Kramer räusperte sich bedeutungsvoll. „Ja, man sollte das mit der Beratung wirklich überlegen.“
Dr. Pauli ging auf die Bemerkung nicht weiter ein und eröffnete die vorgesehene Besprechung.
„Meine Herren, wir wollen heute die Möglichkeiten für den Börsengang unseres Unternehmens besprechen. Ich möchte Ihnen noch einmal die Gründe dafür darlegen. Zum einen gehe ich auf die sechzig zu und muss an meine Nachfolge denken. Ich bin nicht sicher, ob meine Söhne das Zeug zum Unternehmer haben, da ist es besser, wenn ich jetzt schon die Weichen stelle, dass das Unternehmen künftig von einem professionellen Management geleitet wird.“
„Sie haben vollkommen recht“, bestätigte Schubert, „die meisten Unternehmer denken erst daran, wenn es zu spät ist.“
Die anderen Herren sagten nichts, sie waren froh zu hören, dass die Söhne ihres Chefs offenbar nicht für die Nachfolge vorgesehen waren und rechneten sich ihre Chancen auf einen möglichen Posten als Vorstand aus.
Dr. Pauli nahm den Gedankengang wieder auf. „Es kommt noch etwas Anderes hinzu Mein langjähriger Geschäftspartner, Herr Erbracht, möchte als stiller Gesellschafter ausscheiden und auch die Württemberger Versicherung denkt mittelfristig ebenfalls an einen Ausstieg. Da wird die Beschaffung von zusätzlichem Eigenkapital schwierig. Wie Sie wissen, war das in der Vergangenheit immer ein gewisser Schwachpunkt bei uns. Jedenfalls kann ich das Kapital nicht allein aufbringen, oder wäre jemand von Ihnen bereit, bei uns mit ein paar Millionen einzusteigen?“
Die Frage war eher theoretisch, den keiner war dazu bereit und in der Lage. Insofern schauten sie alle ausnahmslos auf den Tisch oder in die vor ihnen liegenden Papiere.
Pauli fuhr nach der Kunstpause, die er sichtlich genoss, weil sie die Abhängigkeit seiner Geschäftsführer von ihm deutlich machte, fort: „Wenn wir unsere Firma“ – plötzlich sagte er ‘unsere Firma‘, wo er sie doch ausschließlich als ‘seine Firma‘ betrachtete und auch so behandelte – „in eine AG umwandeln, dann können wir kleinere Anteile über die Börse verkaufen und auch die Geschäftsführer und leitenden Angestellten an der Firma beteiligen, das steigert den Einsatzwillen und die Motivation.“
„Das kommt auf den Emissionskurs an“, meinte Fritz Pauli trocken und Oderbruch meinte: „Man könnte auch Gratisaktien ausgeben.“
Dr. Pauli überhörte die Einwürfe und bat Herrn Schubert, die erforderlichen Schritte zur Börseneinführung zu erläutern.
„Herr Dr. Pauli, ich möchte noch einmal betonen, wie sehr ich diesen Entschluss begrüße. Ich halte auch den Zeitpunkt für geeignet, denn die Börsensituation ist günstig. Zunächst muss ich feststellen, dass Ihr Unternehmen mit Sicherheit die Kriterien für die Börseneinführung erfüllt. Sie haben das Unternehmen mit Mitarbeitern und vor allen den anwesenden Geschäftsführern“, dabei machte er eine Verbeugung zu jedem einzelnen der Herren, „zu der heutigen Größe aufgebaut und werden es erfolgreich weiterführen. Das festzustellen ist mir wichtig, denn die Kontinuität in der Geschäftsführung ist entscheidend. Sie benötigen das Vertrauen Ihrer künftigen Aktionäre und das gelingt am besten, wenn die wissen, dass die Verantwortlichen über viele Jahre ein Unternehmen erfolgreich führen können.“
Man konnte den Herren anmerken, dass die Ausführungen von Herrn Schubert ihnen guttaten, weil sie doch in der Vergangenheit von ihrem Chef allzu oft gescholten worden waren. Jetzt wurde einmal positiv erwähnt, dass sie wesentlichen Anteil an dem Erfolg hatten.
„Es kommt noch etwas Bedeutsames hinzu. Sie haben eine klare Unternehmensstruktur mit eindeutigen Verantwortlichkeiten“, fuhr Herr Schubert fort, „jedes Unternehmen ist in einem eigenständigen Marktsegment tätig. Ihre Produkte sind erfolgreich im Markt etabliert, auch die Märkte sind weltweit vielversprechend. Bei den Maschinensteuerungen sind Sie Marktführer, bei der Verkehrstechnik, haben sie kaum noch Wettbewerber, wenn ich den Vorstand richtig verstanden habe. Und in der Militärtechnik machen Sie Jahr für Jahr gute Umsätze. Die Erträge waren in den vergangenen Jahren eigentlich immer ganz ordentlich, das letzte Jahr war wohl etwas schwächer, aber darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, wir werden sehen, was sich noch machen lässt. Also, ich fasse zusammen: Sie können den Börsengang ruhig wagen. Sie bekommen neues Kapital, das Sie bei Ihrer Bilanzstruktur gut gebrauchen können. Und womit Sie neue Chancen erhalten.“
Dr. Schubert hatte mit Überzeugung gesprochen, er nahm einen Schluck Wasser und sah Dr. Pauli erwartungsvoll an.
„Vielen Dank, Herr Schubert, das hätte ich nicht besser ausdrücken können, es war alles verständlich.“
„Vielleicht sollte ich einen Punkt noch einmal deutlich herausstellen“, ergriff Schubert noch einmal das Wort. „Der Gang an die Börse, ist ein einmaliger Schritt. Er enthält eine gesellschafts- und steuerrechtliche Neuordnung des Unternehmens. Er hat die Publizitätspflicht zur Folge. Sie werden viele Interna preisgeben müssen, die Sie sonst vielleicht nicht preisgeben würden. Sie benötigen ein erfolgsorientiertes Controlling, das die Ertragsperspektiven aufgrund von Marktdaten und Trends überzeugend darlegt.“ Dabei sah er Herrn Ceponek bedeutungsvoll an, der seinerseits auf den Boden sah und nichts erwiderte.
„Meine Herren“, sagte Dr. Pauli bedeutungsvoll, „Sie wissen alle, was jetzt auf uns zukommt, nämlich viel Arbeit. Wir müssen einerseits das Tagesgeschäft führen, die Umsätze steigern, die Kosten senken und gleichzeitig die Umwandlung unserer Firma in eine AG schaffen. Dies wird in erster Linie die Aufgabe von Herrn Kramer und mir sein. Für die Ergebnisse der einzelnen Gesellschaften sind Sie verantwortlich, also strengen Sie sich an, damit wir es schaffen. Es geht um die Zukunft unseres Unternehmens.“
Herr Schubert dankte kurz und verabschiedete sich unter Hinweis auf einen anderen wichtigen Termin, der leider nicht zu verschieben gewesen sei.
„Herr Ceponek, würden Sie Herrn Schubert bitte hinausbegleiten, damit er ungehindert durch die Sicherheitskontrollen kommt?“
Ceponek öffnete eilig die Tür für den Gast und verließ mit ihm den Raum, wobei sie sich gemeinsam durch die Tür zwängten. Pauli sah seinem Finanzchef kopfschüttelnd hinterher, die anderen Herren grinsten unverhohlen.
„Darf ich Sie bitten, noch einen Augenblick hierzubleiben? Ich möchte noch einige Punkte mit Ihnen besprechen. Herr Schubert hat soeben auf die Bedeutung des internen Controllings aufmerksam gemacht. Wir haben bei unserem Berichtswesen tatsächlich einen Nachholbedarf.“
„Das stimmt, hier ist wirklich eine Schwachstelle in unserem Unternehmen“, bekräftigte Fritz Pauli und fügte hinzu, „seit Jahren rede ich schon, dass wir eine ordentliche Kostenrechnung benötigen, aber Kollege Ceponek bringt nichts auf die Beine.“
Oderbruch nickte. „Wir können seine miserable Kostenrechnung für unsere öffentlichen Auftraggeber ohnehin nicht gebrauchen. Wir haben für diesen Bereich unser eigenes Rechnungswesen geschaffen. Es ist sehr einfach, aber es schafft die Zahlen, die ich brauche.“
„Wir wissen innerhalb des Jahres überhaupt nicht, wo wir stehen“, bestätigte auch Winter, „wir benötigen dringend für die Funkmesstechnik eine aussagefähige kurzfristige Erfolgsrechnung, die uns die Ergebnisse für die wichtigsten Produktgruppen darstellt.“
Jeder äußerte unverhohlen seine Meinung, denn der Verantwortliche, Ceponek, war nicht anwesend. Dr. Pauli drückte auf einen Knopf auf dem Tisch, worauf Frau Feiner den Raum betrat. „Rufen Sie mir sofort den Ceponek“, sagte Pauli ziemlich schroff.
Kurz darauf betrat Herr Ceponek erneut den Raum. Ceponek war ein kleiner, glatzköpfiger, etwas dicklicher Mann mit auffallender Hornbrille, dunklem Anzug, braunen Schuhen mit hohen Absätzen. Er blieb kerzengerade, mit hoch erhobenen Kopf an der Tür stehen.
„Setzen Sie sich noch einmal kurz dazu“, befahl Pauli.
Ceponek machte eine linkische Verbeugung, und setzte sich artig auf seinen Platz.
„Wie Sie eben gehört haben, hat uns Herr Schubert gerade über die Voraussetzungen zur Börseneinführung berichtet. Er hat ganz klar herausgestellt, dass wir ein modernes Rechnungswesen brauchen. Alle Herren in diesem Raum haben eben die schlechte Berichterstattung beklagt. Ich will mir nicht von Ihnen den Börsengang vermasseln lassen. Sie sind für das Berichtswesen verantwortlich. Seit Jahren reden wir darüber, dass wir ein aussagekräftiges Berichtswesen brauchen. Immer wieder sagen Sie, dass es nun besser wird, aber es kommt nichts dabei heraus. Sie sind offensichtlich überfordert. Sie sind ein Buchhalter, von modernem Controlling haben Sie keine Ahnung!“
Ceponek sank in sich zusammen und wusste nicht, wohin er schauen sollte. So sah er auf den Tisch, wo die leeren Gläser standen, sagte aber kein Wort.
Pauli steigerte sich zu einem unangemessenen Zorn. „Sie haben noch immer kein funktionierendes Controlling aufgebaut. Die monatlichen Ergebnisberichte kann kein Mensch lesen und verstehen. Wichtiges vermischt sich mit Unwichtigem, es gibt keine klare Gliederung, die Berichte kommen viel zu spät und sind als Führungsinstrument völlig unbrauchbar.“ Paulis Gesicht färbte sich rot. „Auch die Kostenrechnung ist auf dem Stand von vor zehn Jahren, von einer Deckungsbeitragsrechnung haben Sie offenbar noch nichts gehört. Wann werden Sie endlich die notwendigen Maßnahmen einleiten? Sie sind als Controller völlig unfähig. Ich werde mich nach einem neuen Controller umsehen müssen!“
Ceponek betrachtete aufmerksam die Fliege in seinem Glas vor sich und schaute seinem Chef nicht in die Augen, so wie er in ähnlichen Situationen immer den direkten Blickkontakt vermied. Eigentlich hätte er antworten sollen, dass Dr. Pauli nie die notwendigen Mittel für entsprechende Controlling-Systeme bereitgestellt hatte. Ceponek hatte den Einsatz der SAP-Software vorgeschlagen und erst vor wenigen Monaten einen neuen Mitarbeiter für die Betriebsabrechnung angefordert, was aber aus Kostengründen abgelehnt worden war. Aber er kannte seinen Chef, eine derartige Antwort hätte die Lage schnell hochexplosiv werden lassen, so begnügte er sich mit einer Geste der Unterwürfigkeit. „Ich wollte Sie nicht mit Details belästigen. Wir sind gerade dabei, unsere Software durch ein besseres Kostenrechnungssystem zu ergänzen. Das erfordert viel Zeit, die Firma ‘Prosoft‘ berät uns, wie Sie sich erinnern werden, aber die haben nicht die richtigen Fachleute.“
„Dann schmeißen Sie sie raus und sorgen Sie dafür, dass wir sofort bessere Leute bekommen, oder soll ich mich etwa um alles selber kümmern?“ brüllte Pauli.
„Nein, das ist nicht nötig“, antwortete Ceponek ruhig.
„Dann tun Sie es gleich.“
Ceponek verließ unverzüglich den Raum.
Dr. Pauli mochte seinen Finanzchef nicht und nutzte jede Gelegenheit, ihn vor anderen zu brüskieren, aber das machte er auch mit anderen Führungskräften seines Hauses. Es spielte für ihn dabei keine Rolle, ob nachgeordnete Abteilungsleiter oder einfache Sachbearbeiter anwesend waren, es war ihm gleichgültig, ob seine Führungskräfte ihr Gesicht verloren, diese hatten sich aber an die Eigenarten ihres Chefs über die vielen Jahre gewöhnt. Da die verbalen Ausfälle niemals negative Konsequenzen hatten, etwa dergestalt, dass jemand entlassen worden wäre, ging man anschließend zur Tagesordnung über. Wenn man Glück hatte, traf es das nächste Mal einen anderen, und die Welt befand sich wieder im Gleichgewicht. Nicht, dass es ihnen gleichgültig war, einige litten sogar darunter, aber sie betrachteten es als ‘normales Führungsverhalten‘ und verhielten sich gegenüber ihren Abteilungsleitern genauso. Die gesamte Organisation verhielt sich so, von oben nach unten setzte sich die gleiche Einstellung durch: Ich stehe oben, ihr steht unten, ich ordne an, ihr führt aus, ich dulde keinen Widerspruch!
Bei dem Angriff auf Ceponek hatte sich Kramer wie üblich im Hintergrund gehalten, um nicht ebenfalls in die Schusslinie seines Kollegen zu geraten. Da das Grundkapital zu maßgeblichen Teilen in der Hand von Dr. Pauli und seiner Frau lag – außer Dr. Schubert kannte niemand die genauen Zahlen -, war Pauli unbestritten die Nummer eins in der Firma. Kramer hätte auch nie gewagt, als erster in einer Besprechung das Wort zu ergreifen.
Außerhalb der Firma, im halb privaten Gespräch jedoch, äußerte Kramer, wie fast alle Führungskräfte, seinen Vorbehalt gegenüber den patriarchalischen Führungseigenschaften seines obersten Dienstherrn. Aber offiziell tat das niemand. Man schwieg und hatte seine Ruhe, aber dadurch wurde die Unternehmensentwicklung behindert und die finanzielle Situation verschlechterte sich, weil das persönliche Engagement der Mitarbeiter erlahmte und die Führungskräfte überlastet waren, denn sie mussten sich um jedes Detail selbst kümmern.
Von Controlling verstand Pauli nicht viel und er interessierte sich auch nicht besonders für das bilanzielle Zahlenwerk, jedenfalls so lange die Ergebnisse gut waren, und das waren sie in den meisten der zurückliegenden Jahre gewesen. Aber seit einiger Zeit liefen die Geschäfte nicht mehr so reibungslos wie früher. Eine Anzahl von kleinen, regionalen Wettbewerbern hatte zunächst unbemerkt, dann aber immer stärker, mit innovativen Produkten auf den Markt gedrängt. Sie boten kundenspezifische Problemlösungen mit kurzen Lieferzeiten. Der größte Konkurrent, die Firma Kranz Systemtechnik mit Sitz in Essen, machte laufend neue Preiszugeständnisse an die wichtigsten Großabnehmer. Pauli versuchte mit allen Mitteln Marktanteile zu halten beziehungsweise verlorene zurückzugewinnen, aber das Geschäft war schwierig geworden. Der Pauli Systemtechnik fehlte es an technologischen Innovationen und neuen, ertragsstarken Produkten und an Investitionen in moderne Fertigungstechniken. Das war auch der Grund, warum Pauli jetzt an die Börse drängte, denn er ahnte die Schwächen seiner Firma, und er kannte die seiner Mitarbeiter.
Nun hatte er seinen Standpunkt klargemacht und ging davon aus, dass Ceponek alles tun würde, um das Rechnungswesen auf den neuesten Stand zu bringen. Was aber nicht geschah und auch nicht geschehen konnte, denn dazu wären viele Punkte zu klären gewesen, nämlich: Welche Informationen werden von wem benötigt? Wie sollen die Daten aufbereitet werden? Mit welchen Systemen soll gearbeitet werden und wann sollen die Daten zur Verfügung stehen? Aber dazu war jetzt weder die Zeit noch die Gelegenheit. Ganz abgesehen davon, wäre Dr. Pauli auch nie bereit gewesen, sich mit den notwendigen Details vertraut zu machen.
Dr. Pauli ließ das Thema einstweilen auf sich beruhen und fragte nach der Meinung zu dem geplanten Börsengang. Eine allgemeine Stille entstand, denn jeder wartete auf die Meinungsäußerung der anderen.
Schließlich ergriff Oderbruch zögernd das Wort. „Da müsste ich erst einmal Einzelheiten erfahren, aber es hört sich insgesamt ganz vernünftig an.“ Oderbruch sprach in einer etwas trockenen und umständlichen Art, wobei er oft Gesprächspausen einlegte, in denen niemand wusste, ob er noch bei der Sache war, ob er überlegte oder ob es sich um Kunstpausen handelte, um die Wirkung seiner Worte zu prüfen. Jedenfalls blickte er versonnen in die Ferne, das heißt, nur ein Auge war in die Ferne gerichtet, das andere starrte auf den ihm gegenübersitzenden Fritz Pauli, als ob er fragen wollte, was dieser denn davon halte. Da er aber wusste, dass alles längst entschieden war, wollte er weder ja noch nein sagen. Er kannte die Konsequenzen für sich persönlich nicht, und nur darauf kam es ihm an. Im Übrigen sollte doch der Pauli-Clan machen, was er wollte.
Fritz Pauli war das ganze Gegenteil von Oderbruch. Er sprach hastig und mit aggressiven Unterton. In Gegenwart von Oderbruch konnte er sogar ironisch und verletzend werden, wobei er die direkte Anrede mied. Jedenfalls gab es eine ausgeprägte Rivalität zwischen den beiden.
Oderbruch wurde von Dr. Pauli oft vorgezogen und nur selten offen und vor allem nicht in Gegenwart anderer Geschäftsführer kritisiert. Fritz empfand dies als persönliche Herabsetzung durch seinen Bruder. Er hätte sich dagegen gewehrt, wenn er eine andere berufliche Perspektive gehabt hätte. Auch er war nur durch seinen Bruder in diese Führungsposition gelangt. Man erzählte sich sogar, hinter vorgehaltener Hand, dass er als Marketingleiter eines größeren Unternehmens früher einmal Schiffbruch erlitten habe. Andererseits hatte er vor Jahren durch seinen tatkräftigen Einsatz die Firma vor einer Schieflage bewahrt. So hatte sich eine gegenseitige Abhängigkeit ergeben. Der große Bruder befahl und der kleine Bruder folgte, wenn auch zunehmend verdrossen.
Oderbruch war fast von Anfang an mit dabei gewesen und hatte die kleine Firma mit aufgebaut. Er war damals Doktorand, als Pauli Assistent am Institut für Schwingungstechnik bei Professor Karlstadt an der TH Karlsruhe war. Oderbruch leitete seit vielen Jahren die Gesellschaft für Micro-Technik, eine 100%ige Tochtergesellschaft der Pauli Holding. Er war seit dieser Zeit mit Pauli befreundet, deshalb duzten sie sich.
Es gab übrigens auch eine Begebenheit, die mindestens 25 Jahre zurücklag, und das etwas delikate Verhältnis zwischen den beiden begründete, aber nie zur Sprache gekommen war: Die damalige Freundin von Oderbruch wandte sich Dr. Pauli zu, der sie kurze Zeit darauf heiratete.
Oderbruch war nie drüber hinweggekommen. Er heiratete wenig später seine Fran Hanna, eine engagierte Frauenrechtlerin, die versuchte in einer linken Partei Karriere zu machen. Diese Ehe wurde oft durch unterschiedliche politische Ansichten belastet, so dass der Dialog auf das Notwendigste beschränkt wurde. Man sprach schon offen von Trennung oder sogar von Scheidung. Beide hatten jeweils wechselnde Beziehungen zu anderen, was immer häufiger zu gegenseitigen Vorwürfen führte. Oderbruch machte dafür insgeheim seinen `Freund` Pauli verantwortlich, sprach dies aber niemals offen aus.
„Also“, setzte Oderbruch die begonnene Antwort fort, „in der Tat könnten wir mehr Geld für dringend erforderliche Investitionen gebrauchen. Unsere Bearbeitungszentren sind nun zehn Jahre alt und bringen nicht mehr die geforderte Qualität. Wir können die von unseren Auftraggebern geforderten engen Toleranzen nicht mehr einhalten, und der Ausschuss steigt. Das kostet uns viel Geld ruiniert unsere Reputation.
Auch Winter war ähnlicher Meinung: „Wir haben in den letzten Jahren kaum noch Ersatzinvestitionen getätigt, von Neuanschaffungen hochwertiger Maschinen ganz zu schweigen. Irgendwann brauchen wir neue Messmaschinen, auch brauchen wir dringend Geld für Neuentwicklungen. Mit der vorhandenen Produktlinie können wir nicht mehr lange existieren und unsere Expansionspläne erfüllen.“
Schließlich ergriff auch Fritz Pauli das Wort: „Wenn du mit deiner Firma wirklich an die Börse gehen willst, dann müsste eine Neuverteilung der Verantwortlichkeiten stattfinden. Die operativen Gesellschaften müssten selbständig werden und ergebnisorientiert handeln können. Und der Vorstand der AG müsste sich auf die Koordination der Firmen und die Vertretung nach außen beschränken.“
Fritz Pauli hatte damit einen wichtigen Punkt angesprochen, der immer wieder zu Missstimmung zwischen den Brüdern führte, nämlich der direkte Eingriff von Dr. Pauli und seinem Kollegen in das Tagesgeschäft. Dr. Pauli reagierte nicht auf diese Bemerkung, die ja für ihn nicht neu war, und murmelte nur beiläufig: „Natürlich wird eine neue Aufgabenverteilung zwischen dem Vorstand und den Gesellschaften stattfinden. Aber ich wollte jetzt nur Ihre grundsätzliche Meinung zum Börsengang hören. Ich kann also davon ausgehen, dass Sie alle das Vorhaben mit ganzer Kraft unterstützen werden.“
Dass er Ceponek gar nicht zu dem Thema gehört hatte, verwunderte niemanden, obwohl es gerade das Finanz- und Rechnungswesen in besonderem Ausmaß berührte.