Читать книгу Doppel-Infarkt - Arnulf Meyer-Piening - Страница 6
Begegnung mit dem Patriarchen
ОглавлениеDer für die Privatfliegerei reservierte Teil des Flugplatzes Fréjus-St. Raphael bestand aus einem kleinen Barackenbau, der eher an eine einfache Bau-Bude als an eine Empfangshalle für VIP erinnerte ohne Restaurant und Lounge. Statt dem ersehnten Cognac mussten sich Arnim und Elinor mit Kaffee aus einem Pappbecher des Automaten begnügen.
„Das ist gerade noch mal gut gegangen. Es hätte auch schiefgehen können“, sagte Elinor zum wiederholten Mal.
„Ich hätte in Nizza landen sollen, ich hätte es nicht riskieren sollen, in Fréjus zu landen, es war ein großer Fehler, ich habe unnötig das Schicksal herausgefordert. Gut, dass das Fahrwerk gehalten hat, das war während der Landung meine größte Sorge, Armin nahm einen Schluck Kaffee.
„Bei diesem Sturm hättest du überhaupt nicht landen sollen, wenigstens nicht bei dem Seitenwind. Wir hätten doch nach Nizza zurückfliegen sollen.“
„Wir hatten nur noch für 20 Minuten Treibstoff in den Haupttanks. Auf die Hilfstanks wollte ich bei den Turbulenzen nicht umschalten. Nun, Gott sei Dank es ist alles vorbei. Wie kommen wir aber jetzt nach Port Grimaud?“
Ehe die vorhandenen Möglichkeiten ausdiskutiert werden konnten, mischte sich ein gut aussehender Herr mittleren Alters in das Gespräch. Er hatte mit vier weiteren Herren am Nebentisch gesessen, offenbar Passagiere, die auf den Abflug ihrer Maschine warteten.
„Guten Tag, verzeihen Sie, dass ich mich in ihr Gespräch einmische, wir haben ihre Landung verfolgt. War wohl nicht so einfach?“
„Nein, muss ich nicht noch einmal haben. Das reicht für den Rest meiner Fliegerei.“
„Fliegen Sie schon lange?“
„Seit fast fünfundzwanzig Jahren.“
„Na, dann haben Sie ja genug Erfahrung, um so etwas riskieren zu können.“
„Sicher nicht freiwillig.“
„Wir haben da neben Ihrer Maschine unsere Cessna 410 stehen und können uns nicht zum Start entschließen. Unser Startzeitpunkt im Flugplan ist schon überschritten. Auf den Mistral ist kein Verlass: Entweder bläst er drei, fünf oder sieben Tage. Drei Tage sind es nun schon, wir hofften auf ein Ende heute gegen Abend. Wir müssen morgen wieder im Büro sein. Übrigens, mein Name ist Pauli, Professor Bertram kennen Sie wahrscheinlich, der ehemalige Justizminister und das ist mein Rechtsanwalt Dr. Johannes und meine beiden Söhne Andreas und Michael, die haben uns hierher geflogen.“
„Guten Tag, Beyer mein Name, meine Frau“, dabei machte er eine leichte Verbeugung und deutete auf seine Frau an seiner Seite.
„Angenehm.“
Beyer wandte sich zu den beiden Piloten mit den blauen Flieger-Jacketts: „Respekt! Sie sehen noch ziemlich jung aus und sind schon ausgewachsene Piloten?“
„Ja, wir haben beide mit 18 unsere IFR-Lizenz erworben. Vater gab uns oft seine Maschine mit seinem Piloten zum Üben. Er hat uns oft fliegen lassen, so konnten wir früh Flugerfahrungen sammeln.“
„Man muss sich eben den richtigen Vater aussuchen! Trotzdem eine große Leistung, denn das Examen will auch erst einmal geschafft werden. Meine Hochachtung.“
Die beiden jungen Männer machten einen patenten Eindruck, sportlich mit zurückhaltender Bescheidenheit.
„Von Ihnen könnten wir bestimmt noch viel lernen“, sagte Andreas voller Bewunderung.
„Ihre Landung hat auch mir sehr imponiert, das hätte ich mir nicht zugetraut“, ergänzte Michael.
„Ich auch nicht“, lachte Beyer, „ich will es auch nicht noch einmal probieren. Was hat Sie denn hierher nach Fréjus geführt?“ wandte sich Beyer an Pauli Senior.
„Wir haben gestern meine neue Segelyacht in Empfang genommen“, erwiderte Pauli.
„Gratuliere, was ist es für ein Typ?“
„Eine Bénéteau 50“.
„Ein schönes Schiff, Entwurf von Bruce Farr. Bin ich auch schon gesegelt, hat hervorragende Segeleigenschaften.“
„Sie scheinen sich gut auszukennen, wollen Sie die Yacht mal sehen? Es wird heute sowieso nichts mehr mit dem Rückflug.“
„Gerne, aber wir müssen noch nach Port Grimaud.“
„Bertram hat seit vielen Jahren eine Wohnung dort und hat uns heute aus Anlass unserer Schiffstaufe besucht. Er ist mit seinem Wagen hier und kann Sie sicherlich nachher mitnehmen.“
Bertram nickte.
„Wo genau haben Sie Ihre Wohnung, Herr Professor?“
„In Port Grimaud Sud.“
„Welch ein Zufall, da befindet sich auch unser Haus, schräg gegenüber vom Place du Sud.“
„Das ist ganz in meiner Nähe.“
„Dann schlage ich vor, wir fahren jetzt zum Hafen und Professor Bertram nimmt Sie anschließend mit nach Port Grimaud.“
Dr. Pauli blickte fragend in die Runde.
„Machen Sie keine Umstände!“
„Ich bitte Sie!“
Beyers nahmen ihr Reisegepäck aus dem Flugzeug.
„Sympathischer Mensch, so ein väterlicher, freundlicher Typ, was der wohl beruflich macht?“ meinte Arnim. „Vorstand einer großen Aktiengesellschaft oder Inhaber eines mittelständischen Unternehmens? Wenn er mit seinem Rechtsanwalt hier ist, haben sie wohl eine geschäftliche Besprechung gehabt. Und Professor Bertram ist auch dabei. Es muss eine bedeutende Firma sein.“
„Aber der Rechtsanwalt passt nicht so richtig zu den beiden anderen“, sagte Elinor, „ich habe selten so viele Schuppen auf dem Kragen gesehen, richtig ekelig. Und dann ein Nadelstreifen-Anzug, aber braune Schuhe mit weißen Socken! Und die Weste bis unten zugeknöpft, offener Kragen, Krawatte und Einstecktuch aus gleichem Material, die Hose zerknittert.“
„Man soll die Menschen nie nur nach ihrem Äußeren beurteilen“, meinte ihr Mann beschwichtigend, „aber du hast schon Recht, an dem Mann stört mich auch etwas, nicht nur der Anzug. Er blickt so merkwürdig drein, irgendwie verschlagen, jedenfalls nicht seriös.“
Sie trafen die Herren an Bertrams Wagen und fuhren wie vereinbart zum Hafen.
„Dort am zweiten Kai liegt meine Yacht“, Pauli deutete mit der Hand seitlich aus dem Fenster.
„Sieht ohne Segel noch nagelneu aus“, meinte Beyer.
„Ist sie auch! Wir wollen erst in zwei Wochen zur Jungfernfahrt auslaufen. Meine Frau wird auch dabei sein.“
„Wo soll es denn hingehen?“
„Erst wollen wir uns hier in der Gegend umsehen, wir haben alle noch keine Segelerfahrung, aber Professor Bertram und Dr. Johannes, sind erfahrene Segler. Meine Söhne haben ihren Segelschein erst in diesem Jahr gemacht.“
„Und Sie, haben Sie keinen? fragte Beyer?
„Dazu habe ich noch keine Zeit gehabt, ich werde ihn aber unbedingt noch machen.“
„Man fragt in Frankreich nicht nach Lizenzen. Man darf nur keinen Unfall verursachen, denn dann hat man keinen Versicherungsschutz.“
„Sie haben sicher einen Segelschein?
„Ich habe sie alle, einschließlich dem Hochseeschifferpatent“, sagte Beyer nicht ohne Stolz. „Aber ich habe den Schein hier noch nie gebraucht. Das Segeln lernt man ohnehin nicht auf der Schule“, ergänzte Beyer.
Pauli sprang trotz seines stattlichen Gewichts ziemlich elastisch von der Hafenmauer auf den Spoiler seiner Yacht und die anderen folgten ihm. Die meisten Boote lagen mit dem Heck zur Kaimauer, römisch-katholisch, wie man hier sagte.
„Willkommen an Bord, was trinken Sie?“
„Was Sie haben.“
„Ein Glas Champagner wäre sicher dem Augenblick angemessen.“
„Wir sind dabei.“
Der Champagner war zwar nicht eiskalt, aber in der Bilge herrschte die kühle Wassertemperatur des herbstlichen Mittelmeeres.
„Mast und Schotbruch und allezeit eine Handbreit Wasser unter dem Kiel!“
Beyer nahm die Yacht in Augenschein und gab bewundernde Kommentare. „Da fehlt es an nichts: Instrumente wie im Flugzeug: Echo Lot, elektronisches Log, Radar, GPS mit Kartenplotter, Autopilot, Funkgerät, was will man noch mehr!“
„Ich habe eine Elektronik-Firma, Elektronik ist mein Beruf und mein Hobby“, erklärte Pauli.
„Na dann ist alles klar. Sie müssen nur immer für genügend Strom an Bord sorgen.“
„Ja, wir haben vier Akkus mit jeweils 105 Ampere.“
„Sollte wohl genügen, trotzdem, der Strom ist immer die Schwachstelle an Bord.“
„Sie kennen sich offenbar aus?“
„Ja, wir haben seit ein paar Jahren unsere Yacht in Port Grimaud liegen.“
„Was für eine?“
„Eine Comet 13, eine italienische Yacht aus Forli bei Bologna.“
„Sieh da. Wir waren letztes Jahr zu einer Werftbesichtigung dort, haben uns aber doch eine französische Yacht ausgesucht, wegen der besseren Ersatzteilversorgung in Frankreich.“
„Da haben Sie recht, das ist tatsächlich ein großes Problem.“ Frau Beyer warf einen vielsagenden Blick von der Seite auf ihren Mann, als wolle sie sagen: „Das hättest Du damals auch bedenken sollen.“
Die Gespräche kreisten um das Fliegen, das Segeln, das Mittelmeer und die besten Speiselokale. Inzwischen waren auch Andreas und Michael angekommen, man saß im Cockpit und genoss den prickelnden Champagner. Zwischendurch lockerte Dr. Johannes die Runde mit Witzen auf, die er meisterhaft vortrug: „Kommt Kohl in den Himmel und trifft dort den Papst …“ Ein Witz reihte sich an den anderen, die Stimmung wurde zunehmend fröhlich und ausgelassen. Die Anspannung des vergangenen Fluges war verschwunden und auch Elinors Gesicht hatte wieder Farbe bekommen. Schließlich schlug Beyer vor: „Wir fahren jetzt nach Port Grimaud in unser Haus und feiern dort weiter.“
„Sie sind sicher von dem Flug erschöpft und wollen lieber Ihre Ruhe“, gab Pauli zu bedenken.
„Im Gegenteil! Das Leben hat uns wieder, wir müssen das feiern.“
„Wir wollen Ihnen keine Umstände bereiten, außerdem müssen wir heute Abend wieder hierher zurück, denn morgen früh müssen wir nach Hause fliegen.“
„Sie machen keine Umstände und wir würden uns freuen, Sie als unsere Gäste bei uns zu haben.“
Das Für und Wider wurde noch eine Weile diskutiert, doch der Mistral blies mit unverminderter Heftigkeit und der Champagner tat seine befreiende Wirkung. Professor Bertram, der sich beim Champagner zurückgehalten hatte, schlug vor, mit Frau Beyer und Dr. Johannes in seinem Wagen zu fahren, während Beyer mit Pauli und dessen Söhnen eine Taxe nehmen sollte.
Sie fuhren die Küstenstraße entlang. Es war schon fast dunkel geworden. Kurz vor St. Maxime sah man das hell erleuchtete St. Tropez auf der anderen Seite vom Golf liegen. Ein paar Motorboote zogen ihre Furchen durch das aufgewühlte Wasser.
„Ein schönes Fleckchen Erde haben Sie sich hier ausgesucht.“ Dr. Pauli sah gedankenversunken durch das Fenster: „Hier würde es mir auch gefallen.“
„Warum kaufen Sie sich hier nicht auch ein Haus? Man findet immer etwas.“
„Ich habe eine Wohnung in Florida und eine auf Sylt und ich finde kaum Zeit, dorthin zu fahren und dann noch ein weiteres Domizil?“
„Sie haben Recht, man kann sich nicht zerteilen. Aber irgendwann werden auch Sie mal aufhören zu arbeiten.“
„Irgendwann, aber jetzt muss ich erst meine Firma weiter vorantreiben. Wenn ich es nicht tue, dann macht es keiner. Das ist eben das Schicksal eines Unternehmers!“
„Schweres Schicksal“, meinte Beyer ironisch und fuhr ernsthaft fort, „Ich wollte immer eine eigene Firma haben, dazu ist es aber irgendwie nie gekommen.“
„Was machen Sie beruflich?“
„Ich bin Partner einer internationalen Beratungsgesellschaft.“
„Seien Sie froh, dass Sie kein eigenes Unternehmen haben, es macht doch viel Arbeit und Sorgen.“ Pauli seufzte.
Die beiden Wagen bogen rechts von der Straße ab und fuhren über die Brücke, am Rondell wieder rechts entlang der Häuserreihe und hielten vor der Schranke. Beyer zeigte seinen Passierausweis und die Schranke wurde geöffnet. „Der Wagen hinter uns gehört auch zu uns!“ Der Sicherheitsbeamte nickte freundlich.
„Hinter der Brücke links, dann sind wir gleich da“, dirigierte Beyer den Taxifahrer.
Das Reihenhaus war in einem warmen provenzalischen rostroten Ton gestrichen. Die Innenaufteilung der Häuser in Port Grimaud war bei allen weitgehend identisch, aber durch die unterschiedliche Farbgebung und Detailänderungen an den Fassaden wurde der Eindruck von Vielfalt und Individualität geweckt. Die Fensterläden ihres Hauses waren geöffnet.
„Lassen Sie immer alles offen auch wenn Sie nicht da sind?“
„Nein, der Gardien macht das für uns. Wir rufen ihn von Zuhause an und er stellt die Heizung an, seine Frau macht sauber und wäscht die Wäsche, das ist sehr praktisch“, sagte Frau Beyer, „wir brauchen uns um nichts zu kümmern.“
„Wenn Sie mich entschuldigen wollen“, meinte Bertram, „ich gehe die paar Schritte nach Hause, meine Frau wartet auf mich. Vielleicht ein anderes Mal.“
Man verabschiedete sich und versprach, sich bei Gelegenheit zu besuchen.
„Treten Sie ein, meine Herren“, sagte Beyer und breitete seine Arme zu einer einladenden Geste aus.
Das Wohnzimmer war gediegen mit provenzalischen Antiquitäten eingerichtet, eine Burgunderuhr, eine geschnitzte Truhe, ein ovaler Esstisch mit Renaissance Stühlen und eine gemütliche Sitzgruppe, Bilder von alten Seglern zierten die Wände. Ein Kamin war zur Feuerung vorbereitet. Eine behagliche Atmosphäre zum Ausspannen und sich Wohlfühlen.
„Meine Herren, wie wäre es mit einem leichten Weißwein? Wir haben hier einen ausgezeichneten Winzer in der Nähe, die ‘Domaine de la Giscle‘, bei Grimaud, dort kaufen wir immer den Vin Blanc und den Rosé Wein.“
Man entschied sich sowohl für den Weißen als auch für den Rosé Wein, um beide zu probieren.
Beyer öffnete die große Glastür zur Kanalseite, und sie traten auf die Terrasse. Es war eine sternenklare Nacht aber kalt, denn der Nordwind heulte und pfiff durch die Takelagen der Yachten, die fest vertäut – mit dem Heck zum Kai – vor den Häusern im Kanal lagen.
„Es ist wirklich schön hier. Schade, dass es so stürmt. Das stelle ich mir sonst sehr friedlich vor.“ Die vielen Yachten hinter dem Haus im Wasser rissen und zerrten an den Festmacherleinen.
„Das ist unsere Yacht, hier direkt vor dem Haus“, sagte Beyer mit leichtem Stolz.
Johannes zeigte sich beeindruckt: „Eine elegante Yacht, man erkennt das italienische Styling.“
„Sie sind das erste Mal in Port Grimaud?“
„Ja, ich hatte noch nie die Gelegenheit, hierher zu kommen, habe aber schon viel davon gehört. Professor Bertram hat oft davon erzählt. Er ist immer ganz begeistert von diesem Ort. Wir sind schon oft miteinander gesegelt, aber nie von hier aus.“
„Es ist wirklich schön hier. Im Winter ist man fast ganz allein, erst zu Ostern erwacht das Städtchen zum Leben, schläft aber anschließend wieder ein. Im Sommer, im Juli und August kann man es vergessen, dann ist es hektisch und laut, dann sind alle Häuser bewohnt, viele werden vermietet, dann verlassen wir fluchtartig den Ort. Aber im Herbst wird es wieder richtig schön. Dann ist es noch warm, aber friedlich, das ist für uns hier die schönste Jahreszeit.“
„Würde mir auch gut gefallen, aber meine bevorzugte Jahreszeit ist der Sommer, wenn es warm ist.“
Beyer musterte Johannes etwas genauer: Etwa Mitte 50, wohl im gleichen Alter wie Pauli. Die asketischen Züge verrieten großen Ehrgeiz und Zielstrebigkeit. Seine Augen wanderten unablässig hin und her, als suche er etwas, jedenfalls sollte ihm nichts entgehen. Hinter der jovialen Fassade versteckte sich eine unharmonische Persönlichkeit. ‚Man müsste vorsichtig sein‘, dachte er, ‚man wird ihm nicht in jedem Fall und unbedingt trauen können.‘
Der Hausherr tischte den Wein in schlanken Karaffen auf. Sie probierten den Weißen und den Rosé und jeder entschied sich dann individuell entweder für den einen oder für den anderen. Nach ein paar Gläsern war der Abend von fröhlicher Heiterkeit geprägt.
„Sollten wir nicht lieber etwas Essen gehen?“ meinte Frau Beyer, „ich merke den Wein schon jetzt.“
„Ich glaube, wenn wir so weiter trinken, ist auch morgen nicht an einen Rückflug zu denken, sagte Pauli, ihr Jungen, ihr bleibt aber bei Wasser, verstanden? ihr müsst uns morgen heil nach Stuttgart fliegen!
„Versteht sich von selbst“, sagte Andreas etwas vorwurfsvoll. Dabei blickte er gleichgültig aus dem Fenster.
„Darf ich mal mit meiner Frau telefonieren? erkundigte sich Pauli.
„Ja, sicher, bedienen Sie sich“, sagte Beyer und wies mit der Hand zur Anrichte.
„Hier auch Pauli“, hörte man ihn sagen, „wir kommen heute nicht zurück, die Maschine steht noch in Fréjus. Wir sind jetzt in Port Grimaud bei einer Familie Beyer, die wir auf dem Flugplatz kennengelernt haben. Stammt aus Stuttgart … Wir konnten nicht starten wegen des starken Mistrals … Ja, mit der Maschine ist alles ok, sie ist fest am Boden verankert … Nein, es kann nichts passieren … Wir bleiben über Nacht … Sehen uns morgen, sage bitte morgen Frau Feiner in der Firma Bescheid. Nein, sie ist jetzt nicht mehr dort. Wer hat angerufen? … Oderbruch? … Sage ihm, wir fliegen morgen früh los und werden gegen 10 Uhr in der Firma sein … Schönen Abend noch … Adele, gute Nacht.“
Die sechs gingen in das nahe gelegene Restaurant ‘Oasis‘. Die Inhaberin, Madame Berliet, begrüßte die Gäste.
Man wählte den Tisch am Fenster mit Blick auf die Marina gleich neben der Bootswerft. Es lagen noch viele Boote aufgebockt auf Land. Zu dieser frühen Jahreszeit wurden die Yachten in der Werft überholt und auf die Segelsaison vorbereitet.
„Was für eine Verschwendung, jeder will seine eigene Yacht und nutzt sie dann durchschnittlich nur fünfzehn Tage im Jahr“, bemerkte Beyer etwas wehmütig.
„Nutzen Sie ihre Yacht häufiger als das?“
„Ich fürchte nein, aber ich will auch nicht auf meine eigene Yacht verzichten, es ist doch etwas anderes als eine Charter-Yacht.“
„Da haben Sie recht, auch ich schlafe nicht gern in fremden Betten.“
„Man kann es nicht immer vermeiden, wenn man so viel auf Reisen ist wie ich, aber hier in Frankreich sind wir zu Hause, an Land und auf dem Schiff! „
Die Chefin des Hauses war eine typische Südfranzösin, untersetzt, etwas korpulent, nicht gerade schön, aber doch irgendwie attraktiv und von gewinnender Freundlichkeit. Man fühlte sich in ihrem Lokal immer gut aufgehoben. Der Reihe nach wurde bestellt, Pauli wählte Gigot, Johannes Dorade, Herr und Frau Beyer Loup de Mèr, Michael und Andreas wählten ‘Steak au poivre‘.
„Dazu unser Rosé de la Maison?“, erkundigte sich die Wirtin.
„Der ist hier gut trinkbar“, sagte Beyer.
„Ja, und dazu eine Flasche Wasser“, entschied Pauli.
Das Essen war ausgezeichnet, und die sechs, so flüchtig sie sich auch kannten, verstanden sich ausgezeichnet. Man scherzte wie unter alten Freunden. Sogar Pläne für den kommenden Sommer erwogen und eine gemeinsame Segeltour nach Sardinien mit Zwischenstation in Korsika wurden geschmiedet.
„Wir müssen mal sehen, wie wir mit der neuen Yacht zurechtkommen, da kann ein erfahrener Skipper sehr hilfreich sein.“
Pauli war voll überschäumender Begeisterung.
„Wie der wohl als Vorgesetzter ist? ging es Beyer durch den Kopf. Er fand Pauli sympathisch, offen, aber in einigen Punkten merkwürdig unbesonnen und naiv. Während der kurzen Gesprächsphasen, die sich auf die aktuelle politische Lage bezogen, war eine extreme konservative Grundeinstellung zu erkennen. Besondere Kritik konzentrierte er auf den Arbeitsminister und insbesondere auf die Gewerkschaften, die seiner Meinung nach für die kritische Arbeitslage in Deutschland allein und ausschließlich die Verantwortung trügen. Die gelegentlichen Einwände seiner Söhne wurden mit unerwarteter Schroffheit zurückgewiesen, so dass sich diese im weiteren Gesprächsverlauf kaum noch zu einer eigenständigen Meinungsäußerung bewegen ließen. Allenfalls zustimmendes Nicken oder leichtes Neigen des Kopfes signalisierten ihre aufmerksame Gesprächsteilnahme. Besonders polemische und radikale Äußerungen ihres Vaters wurden wortlos mit einem kaum merklichen Blickwechsel zwischen den beiden begleitet.
Frau Beyer hatte die beiden jungen Männer seit längerer Zeit aufmerksam gemustert. Der ältere mochte so um die zweiundzwanzig Jahre alt sein, der jüngere wohl um die zwei Jahre weniger. Beide sahen gut aus, sportlich und liebenswürdig. Der ältere könnte was für unsere Tochter Sara sein, dachte sie insgeheim. Merkwürdig allerdings die Unsicherheit, wahrscheinlich aber nur in Gegenwart des Vaters.
„Und was machen Sie, meine Herren?“ fragte Frau Beyer in einer Gesprächspause.
„Wir studieren in Karlsruhe auf der Technischen Hochschule.“
„Beide die gleiche Studienrichtung?“
„Nein, ich studiere Maschinenbau und Michael studiert Elektrotechnik“
„Dann werden Sie bestimmt eines Tages die Firma Ihres Vaters übernehmen.“
„Ja, vielleicht, wenn wir gut sind. Jedenfalls möchte es Vater gerne.“
„Und Sie?“
„Ich wohl auch, aber ich hätte mir auch ein Medizinstudium vorstellen können“, meinte Andreas. „Mein Bruder Michael wollte eigentlich Soziologie studieren, aber Vater hielt das für brotlose Kunst.“
„Ja, ja, die Väter, die haben immer ihre eigenen Pläne mit ihren Söhnen, nicht wahr mein Schatz?“ Frau Beyer warf einen vielsagenden Blick auf ihren Mann.
„Man muss sie leiten und beraten, sie wissen oft noch gar nicht was sie wollen.“
„Ich bin ganz Iihrer Meinung, Herr Beyer“, und Pauli nickte dabei zustimmend.
„Man muss sie leiten. Nach dem Examen sollen sie in einer meiner Tochtergesellschaften, vielleicht in den USA oder England ihre ersten beruflichen Erfahrungen sammeln, anschließend kommen sie zu mir in die Zentrale, damit sie lernen, wie man ein Unternehmen erfolgreich führt“, sagte er in bestimmten Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Bei diesen letzten Worten war eine gespannte Atmosphäre eingetreten. Die Söhne erwiderten nichts und die anderen hielten sich aus Höflichkeit mit ihrer Meinung zurück.
Dr. Johannes überbrückte die Stille und erzählte eine weitere Serie von Witzen, wobei die Christuswitze auf ein geteiltes Echo stießen. Etwas unvermittelt wandte er sich an Beyer.
„Wie ich höre sind Sie Unternehmensberater, bei welcher Firma, wenn ich fragen darf“, fragte er mit leicht ironischem Unterton.
„Ich bin Partner bei Kanders Management Consultants mit Sitz in Chicago.“
„Das sind die Herren, die einen Haufen Geld verdienen indem sie ihren Klienten nach seiner Uhr fragen und ihm anschließend sagen, wie spät es ist.“
Die Bemerkung war offensichtlich als Provokation gemeint, Beyer ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen.
„Ja, Sie haben recht, es gibt tatsächlich Führungskräfte, selbst im Vorstand großer Aktiengesellschaften, die nicht wissen, was die Uhr geschlagen hat. Denen muss man dann helfen, die kritischen Zeiten zu erkennen.“
„Wissen Sie denn immer wie spät es ist? Dann sind Sie sicher einer von diesen Super-Gurus?“
„Nein, aber manchmal sehen Externe einige Dinge klarer, weil sie mehr Distanz haben und nicht durch die lange Zeit im Unternehmen betriebsblind geworden sind.“
„Ich kann das mit der Betriebsblindheit nicht mehr hören, jeder Berater erzählt mir dasselbe.“
„Wenn ich es richtig verstanden habe, dann sind Sie Rechtsanwalt?“
„Ja, seit fast 40 Jahren!“
„Aber dann sind Sie doch auch eine Art Berater?“
„Das kann man nicht vergleichen, wir verhelfen unseren Mandanten zu ihrem Recht.“
„Und wir Berater zu ihrem beruflichen Erfolg, das ist der Unterschied“, sagte Beyer mit gezügelter Aggressivität. Aber er versuchte sie zu unterdrücken, schließlich wollte er den bisher so harmonisch verlaufenden Abend nicht gefährden.
Pauli vermittelte zwischen den beiden, um eine weitere Eskalation zu vermeiden. Er kannte seinen Anwalt nur zu gut und wusste, wie zynisch er werden konnte, wenn er sich bedrängt fühlte.
„Es ist wirklich schlimm, wie schlecht manche Konzerne geführt werden. Denken Sie beispielsweise an unser hoch gepriesenes Vorzeigeunternehmen im Ländle, unser Muster-Autobauer. Der jetzige Vorstandsvorsitzende ist ein Unglück für das Unternehmen. Auf unserer letzten Beiratssitzung berichtete Professor Bertram über eine Aufsichtsratssitzung bei Daimler, in dem der Vorsitzende in aller Offenheit wegen seiner Firmen- und Modellpolitik kritisiert worden war. Aber dieser Mann ist gegenüber anderen Meinungen völlig unzugänglich, hält sich für Deutschlands Vordenker Nummer eins und wirtschaftet den Konzern an den Rand des Abgrunds. Haben Sie mal für Mercedes gearbeitet?“
„Ja, wir haben eine Logistik-Studie im Fahrzeug-Bereich gemacht. Es ging dabei um die Verbesserung des Lieferservice insbesondere im Ersatzteilwesen.“
„Interessant, wir könnten sicher auch so eine Studie gebrauchen, ich höre von unseren Kunden immer wieder Klagen über fehlerhafte und unvollständige Lieferungen“, sagte Pauli.
„Wenn wir Ihnen helfen können, freuen wir uns.“
„Sie können mir ja mal Ihre Unterlagen schicken, am besten direkt an mich persönlich und vertraulich. Hier ist meine Geschäftskarte mit meiner Privatanschrift in Pforzheim. Ich will keine Unruhe im Unternehmen. Sie wissen ja, ein Berater bringt immer Besorgnis bei den Mitarbeitern mit sich. Wenn mein Bruder Fritz hört, dass ich einen Berater ins Haus hole, sieht der gleich rot.“
„Ihr Bruder ist auch in Ihrem Unternehmen beschäftigt?“
„Ja, beschäftigt ist der richtige Ausdruck, die Frage ist nur, was dabei herauskommt! Er leitet unsere größte Tochtergesellschaft.“
Bayer las die Karte aufmerksam. Dr. Leopold Pauli war geschäftsführender Gesellschafter der Pauli GmbH & Co, KG mit Sitz in Pforzheim, sein Bruder Fritz war offenbar von ihm abhängig, möglicherweise aber auch umgekehrt. Beyer würde sich später Notizen über das Gespräch machen, wie er es bei ähnlichen Gelegenheiten immer tat. Man konnte nie wissen, wozu man die Information brauchen konnte. Der erste Kontakt war hergestellt, das weitere musste man abwarten. Er war sich sicher, dass früher oder später eine berufliche Verbindung hergestellt werden würde. Aber beunruhigend war dieser Rechtsanwalt Johannes. Er wollte offensichtlich den Berater aus einer engeren geschäftlichen Beziehung mit Pauli heraushalten. Aber warum? In welcher Beziehung standen die beiden miteinander? Es gab sicher eine Form der gegenseitigen Abhängigkeit.
Madame Berliet unterbrach das Gespräch und erkundigte sich nach den Dessertwünschen: „Vous désierez un dessert? Nous avons ce soir un Mousse au Chocolat ou un Crème Caramel, excellants les deux. “ Die Entscheidung fiel schnell. Niemand konnte bei Mousse au Chocolat widerstehen. „Es ist sicher nicht vernünftig, aber wer kann schon immer vernünftig sein“, meinte Beyer. „Nun, Sie haben doch keine Gewichtsprobleme, was soll ich da sagen?“, seufzte Pauli.
„Es sind nicht der Fette allein, es sind die Cholesterine, die verursachen die Probleme“, mischte sich Johannes ein.
„Sie können ja morgen am Strand Joggen, dann ist wieder alles in Ordnung.“
„Hoffentlich.“
Der Abend wurde mit einem Kaffee und einem Cognac beschlossen. Dr. Pauli ließ sich die Bezahlung der Rechnung nicht nehmen. „Mit Dank für den schönen Abend und ihre Einladung in Ihrem Hause“ sagte er.“
„Der Dank ist auf unserer Seite“, sagte Beyer.
Man verabschiedete sich aufs Herzlichste.
„Vergessen Sie nicht, Ihre Unterlagen zu schicken“, sagte Pauli. „Mache ich auf jeden Fall. Auf Wiedersehen und guten Flug.“
Ein Taxi war gerufen worden und fuhr die Herren nach Fréjus zurück.
Arnim und Elinor verbrachten noch ein paar traumhafte Tage an der Côte mit Schwimmen und Spaziergängen im Park von St. Tropez. Sie folgten immer wieder gern dem felsigen Küstenweg, auf dem man bis nach Marseille gehen konnte. Aber sie verweilten am Grab des Dichters Olivier: ‘Et respice finem‘, war auf dem Stein gemeißelt.
„Sehr sinnreich“, sagte Arnim.
„Was heißt das?“, ich war nie besonders gut in Latein.
„Es ist der Schluss eines Zitats, welches aus der mittelalterlichen Sammlung Gesta Romanum stammt. Insgesamt heißt es ins Deutsche übertragen: Was auch immer du tust, tue es klug und bedenke das Ende.“
„Das sollten wir immer tun, jetzt zum Beispiel, indem wir zurückkehren.“
Es war warm und sonnig, das Meer tiefblau, der Eukalyptus duftete und sie entspannten sich prächtig. An nächsten Tag fuhren sie zur Chartreuse de la Verne, einem alten Kloster oben im Maure Gebirge, um von dort Richtung La Mole zu wandern. Sie genossen von dort oben einen unvergleichlichen Blick auf die Bucht von St. Tropez und bis hinüber zu den Hyères Inseln. Viel zu schnell gingen die unbeschwerten Tage vorüber und sie mussten wieder zurück nach Hause fliegen. Diesmal verlief der Flug angenehm und problemlos.
„Ich bin mal gespannt, ob wir den Pauli wieder treffen werden.“
Beyer dachte nach: „Eine gemeinsame Segeltour wäre sicher interessant. Vielleicht ergibt sich später mal ein Beratungsauftrag, man kann nie wissen.“
„Dann wirst du aber vorsichtig sein müssen, der Pauli scheint mir eine zwiespältige Persönlichkeit zu sein,“ gab Elinor zu bedenken, „freundlich jovial auf der einen Seite und radikal autoritär auf der anderen. So wie er mit seinen Söhnen sprach. Auf jeden Fall ist er schwer zu durchschauen, mit dem würde ich keine Segeltour machen wollen.“
„Traust du ihm nicht?“
„Doch, eigentlich schon. Ich finde ihn sympathisch, aber ich fühle mich in seiner Gegenwart – wie soll ich es ausdrücken – etwas unbehaglich. Er hat keine Segelerfahrung, aber er ist sehr beherrschend, das wird auch auf See nicht anders sein, das kann nicht gut gehen. Ich glaube nicht, dass er sich in ein Team einfügt und unterordnen kann, was aber an Bord eine Grundvoraussetzung ist.“
Arnim stimmte seiner Frau zu, auch er konnte Pauli nicht richtig einschätzen: „Nun ja, es ist ja noch nichts entschieden. War auf jeden Fall ein netter Abend mit ihm und seinen Söhnen.“
„Finde ich auch. Nette Kerle die beiden. Was meinst du? Wäre der ältere nicht etwas für unsere Tochter?“
„Weiß nicht. Sarah wird sich ihren Mann lieber selber auswählen wollen.“
„Nun, war ja nur ein kurzer Gedanke. Ist ja auch noch nicht aktuell.“