Читать книгу Doppel-Infarkt - Arnulf Meyer-Piening - Страница 22
Mikiko
ОглавлениеEs gelang Fukuzawa bei seinen Freund Yoshihiro Teramoto, Leiter der Japanisch-Deutschen Gesellschaft, bereits für einen der nächsten Tage einen Vortragstermin für Beyer zu vereinbaren. Er sollte über das Thema ‚Strategien in der Rezession – Maßnahmen zur Reorganisation und Effizienzsteigerung deutscher Unternehmen‘ referieren.
Deshalb war Beyer die nächsten beiden Tage kaum noch ansprechbar, in fieberhafter Eile wurden die wichtigsten Fakten zusammengestellt, das Kanders Ressource-Center stellte Zeitungsberichte über aktuelle Firmennachrichten zusammen, in denen auf Maßnahmen zur Organisation und Effizienzsteigerung Bezug genommen wurde. Einerseits wollte Beyer firmenspezifische Informationen liefern, andererseits durfte er keine vertraulichen Daten aus Beratungsprojekten preisgeben. Daher konnte er nur in Deutschland allgemein zugängliche Informationen verwenden. Es war eine Gradwanderung zwischen zwei Steilhängen. Zum Schluss musste noch alles übersichtlich zusammengestellt werden und in eine Präsentation mit Overhead Folien gebracht werden.
Die Veranstaltung war mit etwa 50 Geschäftsleuten gut besucht. Ein Referent aus Europa oder den USA war immer willkommen und das Thema aktuell. Teramoto hatte alle Vereinsmitglieder persönlich angerufen oder von seiner Sekretärin, Frau Mikiko Tanabe, anrufen lassen, um sie auf die Änderung des Referenten und das neue Thema aufmerksam zu machen. Fukuzawa und Beyer fuhren mit der U-Bahn zur Uchisaiwaicho Station, jedes andere Verkehrsmittel hätte zu dieser Zeit Probleme gehabt. Wie immer bei solchen Anlässen, war die Präsentation verspätet fertig geworden. In all den vielen Jahren als Berater hatte Beyer sich immer wieder vorgenommen, früher mit dem Schreiben aufzuhören, aber jedes Mal wurde dann doch noch bis zuletzt an jedem Wort gefeilt.
Einige Herren trafen etwas früher ein, begrüßten den Referenten mit ausgesuchter Höflichkeit und stellten ein paar Fragen, die deutlich werden ließen, dass das Thema auch für japanische Firmen von erheblicher Bedeutung war, obwohl es fast allen vergleichsweise gut ging. Jedenfalls hatte keine Firma konkrete Pläne zur Personalreduktion, aber man wollte gedanklich vorbereitet sein. Maßgeblich war dabei das erklärte Ziel, allen Mitarbeitern die Sicherheit des Arbeitsplatzes – wenn irgend möglich – auf Lebenszeit zu garantieren. Das altersbedingte Ausscheiden erfolgte dann aber überwiegend schon mit 55 Jahren, was für viele Mitarbeiter ein Problem darstellte. Aktive Menschen fielen in eine tiefe Depression, Familien zerbrachen, die Scheidungsrate stieg beängstigend an. Dazu kamen meist noch finanzielle Sorgen, da die Alterssicherung nicht immer ausreichend war. Viele versuchten, einen neuen Job zu bekommen, auch wenn er schlecht bezahlt war, um nicht untätig in einer engen Wohnung zu bleiben, ohne die gewohnten sozialen Kontakte.
Das gemeinsame Mittagessen war einfach. Rechts neben Beyer hatte man als Übersetzerin seine Sekretärin, Frau Tanabe gesetzt. Sie sprach ausgezeichnetes Deutsch, das sie auf einer Mädchenschule in Tokio gelernt hatte. Anschließend habe sie auf der Universität Deutsch studiert, erklärte sie in wenigen Worten, als Beyer ihre Sprachfähigkeit bewunderte: Sie wollte eigentlich Dolmetscherin werden, was aber durch ihre frühe Heirat und die Sorge für ihre beiden Kinder nicht möglich gewesen war. Nun waren die Kinder schon relativ groß und konnten der Schwiegermutter zur Betreuung anvertraut werden.
Er beobachtete sie insgeheim. Sie war für eine Japanerin ungewöhnlich groß und attraktiv, wenn auch für europäische Anschauung nicht gerade schön zu nennen, aber sie hatte eine ganz besondere Ausstrahlung: weiblich, charmant, selbstsicher und doch mit angemessener Zurückhaltung. Beyer war zunächst zu sehr mit der Beantwortung von Fragen beschäftigt, als dass er sich ihr hätte zuwenden können. Aber er spürte, dass sie ihn intensiv von der Seite musterte. Es beunruhigte ihn.
Nach dem Essen erhob sich Teramoto und begrüßte die Teilnehmer und den Referenten auf Deutsch und Japanisch. Er schlug vor, den Vortrag und die Diskussion auf Englisch zu führen, da nicht alle Teilnehmer der deutschen Sprache mächtig seien und der Referent kein japanisch spreche. So könne man sich die Übersetzung sparen. Beyer begann zunächst nervös, wurde dann aber immer sicherer, als er die aufmerksamen Gesichter der Zuhörer bemerkte. Er kam ohne Umschweife zum Thema, indem er beispielhaft auf international bekannte Firmen in Deutschland Bezug nahm, die eine strategische Reorganisationen ihrer Konzernstruktur durchführten oder die Fertigung ins Ausland verlagerten oder die Gemeinkosten durch strukturierte Methoden wie Zero Base Planning oder Gemeinkostenwertanalyse senkten. Er erwähnte in diesem Zusammenhang unter anderen die Firmen Siemens, Bosch, Bayer, Mercedes Benz und Opel als deutsche Tochter von General Motors. Er zitierte Beispiele, die in der Fachpresse zum Teil ausführlich dargestellt worden waren. Etwas konkreter war er bei einer der wichtigsten Tochtergesellschaften von General Motors geworden. Der Grund lag darin, dass sie gerade einen größeren Auftrag von Opel erfolgreich durchgeführt hatten. Er deutete kurz an, dass Opel besonders unter der restriktiven Markbegrenzung der Muttergesellschaft litte. So sei ihnen der internationale Markzugang verwehrt. Sie seien also im Wesentlichen auf den deutschen Markt beschränkt, was zu relativ geringen Absatzmengen führe. Dennoch müssten sie die Rentabilitätsvorgaben der Konzernmutter erfüllen, was zu erheblichen Anstrengungen im Bereich der Gemeinkostensenkung führe. Sie hätten demnach ein radikales Kostensenkungsprogramm nach der Methode des Zero Base Budgeting durchgeführt und seinen nun im Verwaltungsbereich schlank und zugleich effizient aufgestellt. Beyer war vorsichtig und hatte nichts Anderes berichtet, als das, was in der internationalen Presse nachzulesen war. Auf Fragen nach den konkreten Einsparungen wich er unter Hinweis auf die Vertraulichkeit der Daten aus.
Zu seiner Erleichterung wechselten die Fragen ziemlich unvermittelt auf die politische Situation in der ‘DDR‘. Man hatte von dem Flüchtlingsstrom in die Botschaften in Prag und Budapest gehört und gelesen und wollten Einzelheiten erfahren.
„Was glauben Sie, wie lange wird die Staatsführung der ‘DDR‘ die Abwanderung ihrer Menschen dulden?“
„Wird die ‘DDR‘ ihre Grenzen mit Ungarn und der Tschechoslowakei schließen?“
„Welche Reaktion wird die Regierung Westdeutschlands zeigen?“
„Steht eine neue Krise mit der Sowjetunion zu befürchten?“
Beyer sammelte die Fragen, um sie der Reihe nach zu beantworten. Natürlich wusste auf die gezielten Fragen auch keine verbindlichen Antworten zu geben, aber er sprach die Hoffnung aus, dass die Grenze zwischen der ‘DDR‘ und Westdeutschland in Kürze aufgehoben würde. Trotz der Hoffnung auf eine Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten verbarg er seine Sorge nicht, dass insbesondere die jungen, aktiven Menschen in den Westen gehen würden, sofern Reisefreiheit gegeben wäre. Die ‘DDR‘ würde innerlich ausbluten, wenn nicht grundlegende Reformen durchgeführt würden. Er gab aber auch offen zu, dass er diese grundlegenden Veränderungen bei dem derzeit herrschenden Regime für unwahrscheinlich hielte und dass nur eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten zur Lösung des Problems führen würden. Man müsse dann aber mit einer ganz außergewöhnlich großen Belastung der westdeutschen Wirtschaft rechnen, welche die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands erheblich beeinträchtigen würde. Später, als die Herren in kleinerem Kreis zusammenstanden, tauschten sie Geschäftskarten aus und versprachen, in Kontakt zu bleiben.
Als die letzten Mitglieder den Raum verlassen hatten, meinte Teramoto, dass der Vortrag gut angekommen sei, er sei gebeten worden, den Dank vieler Teilnehmer zu überbringen. Offenbar war die auf gänzlich andere Gebiete ausgeuferte Diskussion besonders wichtig gewesen.
Als man sich zum Gehen anschickte, wandte sich Beyer an seine charmante Tischnachbarin und entschuldigte sich, dass er sie so sträflich vernachlässigt hatte. Eine leichte Röte zeigte sich auf ihrem anmutigen Gesicht und sie antwortete mit verlegenem Lächeln: „Es war für mich kein Problem, ich habe genau zugehört, was Sie gesagt haben und es war sehr interessant für mich.“
„Was hat Sie denn besonders interessiert?“ erkundigte er sich, um das Gespräch fortzusetzen.
„Für mich war besonders wichtig, was Sie über die politische Situation in Ostdeutschland gesagt haben. Ich bedaure die Menschen, die nicht frei seien können und die nicht ins Ausland reisen dürfen. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass ich mal die Freiheit zum ungehinderten Reisen verlieren könnte.“
„Sind sie schon oft verreist?“
„Ja, oft, vor allem in die USA, nach Südkorea, Thailand und China, aber ich würde gerne mal Europa und vor allem Deutschland besuchen.“
„Das sollten Sie wirklich möglichst bald tun. Es ist ein schönes Land, man müsste nur das Klima ändern“, meinte er mit leichtem Bedauern.
Ein Japaner, offenbar ein Manager einer internationalen Firma unterbrach das Gespräch und wandte sich an Beyer in fließendem Deutsch: „Es war wirklich sehr interessant für mich, was Sie heute über die einzelnen Firmen gesagt haben, besonders über General Motors, da wird wohl alles auf den Kopf gestellt?“
„Nun, man bemüht sich, den Anschluss an die Konkurrenz nicht zu verlieren, ein ehrgeiziges Kostensenkungsprogramm wird konsequent durchgeführt. Es war auch dringend nötig.“
„Warum meinen Sie das?“
„Die deutsche Tochter Opel drohte in die Verlustzone zu geraten, da musste etwas geschehen, sonst wäre die Produktion in andere Länder verlagert worden.“
Der Japaner verneigte sich höflich und entfernte sich mit nochmaligem Dank.
„Wissen Sie, wer das war?“ erkundigte sich Frau Tanabe.
„Nein, keine Ahnung!“
„Das war der Leiter der Niederlassung von ‘General Motors‘ in Japan, ein einflussreicher Mann.“
„Hoffentlich hat er mir meine Bemerkung nicht übelgenommen.“
„Nein, das glaube ich nicht, Sie haben ja nur berichtet, was sie in Deutschland tun.“ Dann lenkte sie das Gespräch wieder auf ein neutrales Gebiet: „Sind Sie das erste Mal in Japan?“
„Ja, es ist das erste Mal.“
„Und was für einen Eindruck haben Sie gewonnen?“ wollte sie wissen.
Beyer musste zugeben, dass er noch keine Gelegenheit gehabt hatte, irgendetwas anderes als den Flughafen, das Büro und das Hotel zu sehen. Trotzdem wollte er nicht unhöflich erscheinen und wich zu einem Gemeinplatz aus, wie er unter Politikern Gang und Gebe ist.
„Ich finde, dass Japan ein sehr schönes Land ist, und dass die Stadt Tokio viel zu bieten hat, viel Kultur und auch schöne Geschäfte.“
Ganz unvermittelt und direkt fragte sie, ob sie ihm die Stadt zeigen solle, wenn Herr Fukuzawa ihn etwas entbehren könnte. Mit einem leichten fragendem Lächeln sah Beyer seinen Kollegen, der gerade hinzugetreten war, von der Seite an.
Fukuzawa reagierte sofort. „Wir haben eigentlich alles Wichtige besprochen und wir wissen, was zu tun ist. Bei den meisten Interviews kannst du ohnehin nicht viel beitragen, weil die Japaner nicht gerne Englisch sprechen und sich in Gegenwart von Fremden nicht so freimütig äußern wollen. Es ist wichtiger, dass du unser Land kennenlernst, damit du später eine bessere Meinung von uns Japanern hast.“
„Wie ist denn das gemeint“, wollte Beyer wissen, „denn ich habe eine sehr hohe Meinung von euch und eurem Land.“
„Ja, das weiß ich, aber ihr Europäer seht immer nur die eine Seite von uns, ihr seht nur den wirtschaftlichen Erfolg, den Workaholic, aber wir Japaner tun auch noch anderes als nur arbeiten, wir sind ein altes Kulturvolk mit fest gefügten Traditionen, das sich aber jetzt im Umbruch befindet. Das solltest du aber selbst erkunden, und er setzte vielsagend hinzu: Es wäre sicherlich gut, wenn du einen kenntnisreichen Führer oder besser noch eine gute Führerin hättest, da du ohne Kenntnisse der japanischen Sprache ziemlich verloren bist.“
Frau Tanabe wechselte ein paar Worte mit ihrem Chef, deren Inhalt Beyer nicht verstand. Sie sagte dann etwas verlegen: „Wenn Sie mir die Ehre erweisen wollen, mit mir als Fremdenführerin vorlieb zu nehmen, dann möchte ich Ihnen gerne unsere Stadt zeigen. Ich habe neben Deutsch und Englisch auch Kunstgeschichte und Geschichte studiert und wäre glücklich, Ihnen die Sehenswürdigkeiten zu zeigen.“
Beyer war sehr erfreut und man verabredete sich für den folgenden Morgen in der Lobby seines Hotels. Frau Tanabe versprach pünktlich zu sein. Sie verabschiedeten sich mit vielen Höflichkeitsbezeugungen und Herr Teramoto bestand darauf, Beyer in den nächsten Tagen zum Essen einladen zu dürfen. Außerdem überreichte er ihm als Gastgeschenk eine Porzellanfigur, eine vornehme Japanerin in einem Kimono. Beyer war überrascht, hatte er doch kein Geschenk erwartet. Er bedankte sich herzlich und bedauerte, nicht selbst ein Geschenk übergeben zu können.