Читать книгу Doppel-Infarkt - Arnulf Meyer-Piening - Страница 24
Bootsfahrt in Yokohama
ОглавлениеFukuzawa und Beyer verbrachten den Rest des Tages im Kanders Büro. Sie tauschten die Geschäftskarten und Informationen aus, die sie während der Veranstaltung gesammelt hatten. Fukuzawa war mit der Ausbeute an neuen Kontakten sehr zufrieden und meinte, dass Beyer schon jetzt sehr viel für das japanische Büro getan habe und dass er sich ruhig mal ein paar freie Tage gönnen sollte.
„Wieso freie Tage?“ fragte Beyer, „Wir haben doch nur über einen Tag gesprochen?“
„Richtig“, meinte er, aber Frau Tanabe habe vorsorglich für nächste Woche ein paar arbeitsfreie Tage erbeten, die ich ihr gewährt habe.“
„Die Gastfreundschaft von euch Japanern ist wirklich überwältigend, wir in Deutschland sollten uns davon eine Scheibe abschneiden.“
„Ist Frau Tanabe verheiratet?“ fragte Beyer dann nicht ganz ohne Hintergedanken.
„Soweit ich weiß, ist sie es, aber ich kenne sie kaum. Gefällt sie dir?“, war die fast zu erwartende Gegenfrage.
„Ja, ich finde sie außergewöhnlich attraktiv.“
„Ihr Europäer habt einen besonderen Geschmack, was Frauen anbetrifft, aber du hast recht, sie ist wirklich eine gut aussehende Frau, sie ähnelt eher einer Philippinin.“
Frau Tanabe war tatsächlich am nächsten Tag auf die Minute pünktlich. Später gestand sie, dass sie eine halbe Stunde vor dem Park Hotel hin und her gegangen sei, um weder zu früh noch zu spät zu kommen. Sie fragte, was er sehen wolle, er antwortete, dass er sich ihrer Führung anvertrauen wolle, sie solle ihm zeigen, was sie für wichtig halte. Sie schlug vor, mit der U-Bahn zur Ginza zu fahren.
„Ich kenne dort eine Anzahl kleiner Lokale, die ich Ihnen gerne zeigen möchte. Außerdem können Sie dort gut einkaufen, vielleicht wollen Sie Ihrer Frau etwas mitbringen.“
Da war die versteckte Frage, auf die er schon gewartet hatte, er wunderte sich nur, dass sie so schnell kam.
„Mal sehen, wenn ich etwas Passendes finde.“
‚Das war also geklärt‘, dachte er und fügte die Gegenfrage hinzu: „Gehen Sie mit Ihrem Mann dort einkaufen?“
„Eigentlich nie, er hat keine Zeit und auch keine Lust zum Einkaufen“, war die Antwort. Das klang ziemlich distanziert und war auch wohl so gemeint. Schweigend gingen sie den kurzen Weg zur U-Bahn-Station. Automatisch passte er seine Schrittlänge an ihre an, so gingen sie in gleichen Rhythmus.
Sie nahmen die Marunouchi Line und fuhren die acht Stationen zur Ginza, die zentrale Einkaufsstraße Tokios. Sie gingen eine Weile schweigend an den Schaufenstern entlang, aber sie nahmen die Auslagen nicht wahr, denn sie waren innerlich zu sehr miteinander beschäftigt.
„Wollen Sie etwas essen oder etwas einkaufen?“ fragte Frau Tanabe unvermittelt.
„Eigentlich nicht. Ich glaube, ich kann alles auch zu Hause kaufen, was hier angeboten wird.“
„Aber nicht die Mode, so gute Qualität bekommen Sie nirgends auf der Welt und vor allem nicht zu diesen Preisen“, erwiderte sie.
„Trotzdem möchte ich jetzt nichts einkaufen.“
„Haben Sie Kinder?“
„Ja, drei. Sie sind schon groß: 21, 20 und 17 Jahre.
„Jungen oder Mädchen?“
„Zwei Jungen und ein Mädchen.“
„Sie sind sicher sehr stolz, besonders auf ihre zwei Söhne?“
„Ja, ich freue mich darüber. Und Sie, haben Sie auch Kinder?
„Ich habe zwei Kinder, einen Jungen von 8 Jahren und ein Mädchen von 12 Jahren.
„Merkwürdig, diese Reihenfolge der Aufzählung. Sie ziehen Ihren Jungen vor?“
„Ja, den liebe ich ganz besonders. Meine Tochter ist mehr wie mein Mann.“
„Und das heißt?“
„Sie ist sehr egoistisch.“
‚Was sie damit wohl meint‘, dachte Beyer, ‚warum bezeichnet sie ihrem Mann als egoistisch und auch ihre Tochter gleichermaßen?‘ Er hätte sie gerne gefragt, aber er traute sich nicht. Vielleicht würde sich später einmal die Gelegenheit dazu ergeben.
„Wollen wir nach Yokohama fahren“, lenkte sie schnell ab. „Wir könnten dort eine Fahrt mit einem Schiff machen, da sind nicht so viele Menschen.“
„Eine ausgezeichnete Idee, ich bin auf oder am Wasser immer glücklich.“
Sie nahmen die J.R., die Japan Railway Line nach Yokohama. Dort schlenderten sie die Hafenanlagen entlang, bestiegen ein Ausflugsboot und fuhren zur Bay Bridge und auf die Reede, wo hunderte von Schiffen auf das Löschen ihrer Ladung warteten. Sie lehnten an der Reling und sahen auf die Schiffe und den Hafen in der Ferne. Beyers Gedanken schweiften zu seiner Kindheit zurück.
„Bei uns in Deutschland gibt es heute diesen herrlichen Anblick nicht mehr. Als ich noch ein kleiner Junge war, nahm mich mein Vater oft mit in den Hafen von Bremen. Mir schien dort immer alles sehr groß, es gab so viele Schiffe dort, sie lagen dicht gedrängt an den Kaimauern, alle Krane waren in Bewegung und entluden oder beluden die Frachter, die unsere Stadt mit aller Welt verbanden. Aber heute ist das alles vorbei, es legt dort kein Frachter mehr an, nur noch ein paar Spezialschiffe langweilen sich. Nicht, dass es jemals auch nur im Entferntesten so belebt war wie hier, aber der Ort weckt ein Stück Kindheitserinnerung in mir.“
„Ich verstehe, was Sie sagen wollen, manchmal steigt eine Erinnerung in einem auf und man fühlt sich in glückliche Kindheitstage versetzt. Das geht mir auch so.“
„Jetzt zum Beispiel?“
Sie antwortete nicht, als ob sie die Frage nicht gehört oder verstanden hätte. Als sie wieder am Ponton angelegt hatten, bummelten sie zu dem Restaurantschiff „Rikawa Maru“ – Heimathafen Yokohama.
„Das Schiff fuhr früher auf der Island-Route, jetzt liegt es auf dem Strand und hatte eine neue Bestimmung erhalten“, erklärte sie.
‚Vielleicht finde ich auch eines Tages meine Bestimmung‘, dachte Beyer, aber er wollte seine Gefühle nicht äußern.
„Wollen wir etwas essen?“ fragte sie nach einer längeren Pause. Sie bestiegen das Schiff und kauften sich ein paar Kleinigkeiten, die ihnen in einer Pappschachtel ausgehändigt wurden. Sie standen an Deck und blickten träumend in die sonnendurchtränkte See.
„Woran denken Sie?“ unterbrach sie das Schweigen.
„Ich dachte gerade über mein bisheriges Leben nach, und dass ich es in der Zukunft etwas anders gestalten möchte. Aber ich weiß noch nicht wie.“
Es entstand eine lange Pause, keiner wusste, was er sagen sollte. Sie fasste vorsichtig seine Hand und nun standen sie Hand in Hand an der Reling uns schauten auf das Wasser und die vorüberfliegenden Möwen.
„Ich würde gerne einmal um die Welt segeln“, sagte er unvermittelt, „dann könnte ich einen Abstecher nach Japan machen.“
„Eine gute Idee, dann komme ich Sie auf Ihrem Schiff besuchen.
„Vielleicht fahren wir dann gemeinsam weiter.“
„Ich denke, wir sollten so langsam wieder nach Hause fahren“, lenkte sie ab, „ich muss zu meiner Familie zurück.
In Kanders Büro traf Beyer am nächsten Morgen seinen Kollegen Fukuzawa und Herrn Haziki. Jeder hatte seine Interviews gehabt, und sie waren zufrieden. Es war noch zu früh, ein erstes Fazit zu ziehen, aber der Gesprächsverlauf war positiv gewesen. Die Fragen über die strategische Bedeutung der Informationstechnologien stießen auf großes Interesse. Einige Gesprächspartner der zweiten und dritten Führungsebene wollten sich vor einer endgültigen Antwort noch mit ihren Vorgesetzten abstimmen, andere waren zu einer spontanen Antwort bereit. Zwischenzeitlich war auch die Mailing-Aktion angelaufen. Der Fragebogen war mit dem Computer erstellt und an die ausgewählten Firmen versendet worden. Man hoffte, in etwa einer Woche die ersten Antworten zu erhalten. Auch das DV-Auswerteprogramm war auf die für Japan veränderten Fragebogen angepasst worden.
„Wie war Ihr erster freier Tag in Tokio?“ fragte Fukuzawa.
„Danke, es war sehr schön, wir waren erst auf der Ginza, dann sind wir nach Yokohama gefahren und haben etwas Seeluft geschnuppert.“
„Oh, das ist ungewöhnlich“, war seine spontane Reaktion, „ich dachte, Sie würden vor allem die Tempel besichtigen. Sie sollten aber insbesondere Nikko nicht versäumen, da müssen Sie unbedingt hinfahren.“
„Die Tempelanlagen möchte ich wirklich gerne sehen, ich habe so viel darüber gelesen.“
„Wenn Sie außerdem die Natur genießen wollen, dann empfehle ich ihnen Hakone, den Ashinoko See oder den Kamakura-Tempelbezirk. Werden Sie Frau Tanabe wiedersehen?“ fragte er unvermittelt.
„Ja, heute Nachmittag.“
„Es freut mich, dass sie Ihnen unsere Stadt zeigt, sie hat große Kenntnisse, weil sie Kunstgeschichte studiert hat.“
„Ich unterhalte mich gerne mit ihr, sie ist eine interessante Frau, im Übrigen anders, als ich mir japanische Frauen vorgestellt habe, sie äußert ganz frei ihre Meinung.“
„Ihr Europäer habt eine falsche Vorstellung von japanischen Frauen, die sind keineswegs die Unterdrückten dieser Nation. Das sieht nur von außen so aus, tatsächlich haben sie bei uns eine ziemlich starke Stellung, jedenfalls in der Familie, aber auch im öffentlichen Leben ändert sich das traditionelle Rollenverständnis zwischen Mann und Frau.“
Am Nachmittag trafen sich Beyer und Frau Tanabe pünktlich vor dem Büro.
„Wohin wollen Sie heute gehen?“ fragte sie ihn mit freundlicher Stimme.
„Wohin wollen Sie mich heute führen?“
„Ich würde Ihnen gerne den Meiji Jingu Shrine im Zentrum von Tokio zeigen.“
„Dann sollten wir dorthin fahren.“
Frau Tanabe war ganz in die Rolle der Fremdenführerin geschlüpft: „Während der Meiji-Periode von 1868 bis 1912 öffnete sich Japan schrittweise fremden Einflüssen, nachdem es sich viele Jahrhunderte lang gegen alles Fremde abgeschlossen hatte. Die Verfassung wurde geändert und die Kultur blühte auf. Es wurde damals die Grundlage für das moderne Japan gelegt. Der Kaiser wurde sowohl von den Japanern als auch von den fremden Mächten als ein großer Herrscher angesehen. Seine Frau, die Kaiserin Shôken, war das Vorbild für die moderne Japanerin, selbstbewusst und attraktiv.“
„So wie Sie?“
„Glauben Sie, dass ich eine moderne Frau bin?“
„Ich glaube schon, Sie wirken so auf mich.“
„Wie wirke ich auf Sie?“
„Ich kann das nicht beschreiben, aber Sie berühren mich auf ganz besondere Weise.“
„Ich berühre Sie doch gar nicht.“
„Ich meine das im übertragenen Sinn, nicht körperlich.“
„Ach so …“
Irgendwie schien sie plötzlich traurig zu sein und wechselte rasch wieder in die unverfängliche Rolle der Fremdenführerin. „Und dieser Tempel wurde nach dem Tod des Kaisers zu seinen Ehren und zur Erinnerung an ihn und die Kaiserin im Jahre 1920 erbaut. Diesen Spruch der Kaiserin sollten Sie gut in Erinnerung behalten: ‚Es ist leicht, Fehler auf allen Gebieten des täglichen Lebens zu machen, sorgen Sie also dafür, dass Sie nie hastig oder nachlässig sind, sondern wägen Sie sorgfältig ihre kleinsten Handlungen und Worte‘“
Beyer fühlte sich betroffen: „War ich nachlässig oder habe ich etwas Falsches gesagt?“
„Nein, das haben Sie nicht, aber Sie sollten es auch nicht tun. – Hier ein anderes Wort: ‚Weiche niemals von dem Weg ab, den dir deine Überzeugung vorgibt, wie groß auch immer die Hindernisse sind, die du überwinden musst: Bleibe dir selbst treu‘.“
„Ich will es versuchen“, sagte er, „aber wie ist es mit Ihnen?“
„Auch ich will es versuchen, das heißt, ich versuche es schon lange, aber es ist nicht immer einfach.“
„Ist es nicht! Manchmal ist es viel einfacher, von dem richtigen Weg abzuweichen, weil ein Hindernis unüberwindlich scheint. Und außerdem, ist man sich auch nicht immer sicher, welches die richtige Straße ist. Es stehen keine Wegweiser an Gabelungen und Kreuzungen.“
„Ja, leider, ich kenne auch nicht immer die richtigen Zeichen. Ich glaube sogar, dass ich in der Vergangenheit den falschen Weg gegangen bin.“
„Wieso?“
„Ich werde es Ihnen vielleicht einmal sagen, vielleicht später.“
Beide waren plötzlich sehr ernst geworden, so als bedrücke sie etwas, was sie nur indirekt andeuten, aber niemals aussprechen wollten. Schweigend und in Gedanken versunken verfolgten sie ihren gemeinsamen Weg.
„Sie als Segler fahren sicher gerne mit dem Schiff“, sagte Frau Tanabe am nächsten Tag unvermittelt. „Ich habe mit meiner Freundin telefoniert. Sie erzählte mir, dass sie und ein paar Freunde heute Abend mit einem kleinen Ausflugsdampfer eine Abendfahrt auf dem Sumida Fluss, mit Tanz, Tombola, kaltem und warmen Buffet, machen. Hätten Sie Interesse mitzufahren?“
Beyer hatte Lust, große Lust sogar. Die Metro brachte sie zum Schiff. Frau Tanabe begrüßte ihre Freundin und stellte ihr Herrn Beyer vor.
An Bord gab es ein Glas Sekt, eine kleine Musikkapelle spielte westliche Melodien: Swing und Blues, man stand in kleinen Gruppen zusammen, etwa 15 junge Damen und vielleicht 10 Herren. Alle sprachen gutes Englisch, so dass Beyer sich problemlos mit ihnen verständigen konnte. Das Buffet in der Mitte des Salons sah vorzüglich aus: Auf runden und ovalen Silberplatten waren kalte Speisen, vornehmlich Fisch und Gemüse, aber auch kleine gebratene Fleischstücke, verteilt. Auf einem zweiten Tisch wurden in beheizten Schalen warme Speisen dargeboten, wieder Fleisch und Fisch, in unterschiedlicher Weise zubereitet. Es war alles köstlich. Man bediente sich selbst, die Atmosphäre war formlos und ungezwungen, es hätte irgendwo auf der Welt sein können, in den USA oder in Europa, irgendwo. Warum also nicht in Tokio? Junge Menschen sind doch überall auf der Welt gleich: Alles lachte und schwatzte durcheinander, man flirtete, bediente sich gegenseitig und balancierte die gefüllten Teller auf den Knien, denn man saß auf Bänken an der Bordwand.
Anschließend wurde getanzt, oder man ging auf das obere Deck, um sich die beleuchtete Stadt und die anderen Schiffe anzusehen. Die Sterne leuchteten, das Leben war leicht und die Probleme weit entfernt. Beyer und Frau Tanabe standen nebeneinander, lehnten an der Reling und sahen schweigend auf das Wasser.
„Was denken Sie?“ fragte sie.
„An nichts Spezielles, nur, dass es so noch recht lange bleiben könnte. Man müsste die Zeit anhalten können.“
„Müssen Sie denn so bald schon wieder fort?“
„In etwa 8 bis 10 Tagen.“
„Oh, dann haben wir ja noch viel Zeit. Wollen wir tanzen?“
Sie tanzte leicht wie eine Feder. Sie lag in seinem Arm, sie bewegten sich gleichmäßig harmonisch im Takt, so als ob sie schon Jahre miteinander getanzt hätten.
Die Musik wurde für ein Gesellschaftsspiel unterbrochen: An jedes Tanzpaar wurden große Spielkarten verteilt, sie wurden zwischen die beiden Tänzer gesteckt, zwischen Knie, Oberschenkel, Hüfte, Bauch, Brust und Kopf. Sieger sollte werden, wer am Ende des Tanzes noch die meisten Karten zwischen sich hatte. Die Musik begann zu spielen und ganz gleich welchen Rhythmus sie spielte, die Karten blieben nur bei Beyer und seiner Partnerin unverrückbar an ihrem Platz. Als der Tanz geendet hatte, standen sie als eindeutige Sieger fest und erhielten den ersten Preis: Eine Reise zu zweit nach Hakone mit Besichtigung der Thermen und einer Rundreise auf dem Ashinoko See! Man verlangte nach einem Kuss und einem Ehrentanz.
„Ich heiße Mikiko“, flüsterte sie.
„Und ich Arnim.“
„Der Diskjockey hat nach deinem Namen gefragt. Du sollst nämlich eine Siegerurkunde bekommen.“
Er gab ihr seine private Visitenkarte, weil er hier nicht als Berater war, sondern als Privatmann. Er wollte beides nicht miteinander vermischen.
Sie sahen sich eine Weile schweigend in die Augen, dann löste sie sich und eilte zu ihrer Freundin und fiel ihr lachend um den Hals. Sie tuschelten längere Zeit miteinander. Arnim fühlte sich unbehaglich, denn einige der jungen Männer sahen ihn vieldeutig an. Die beiden Freundinnen kamen gemeinsam zurück.
„Nun müssen Sie wohl das Wochenende nach Hakone fahren“, meinte die Freundin etwas schelmisch.
Mikiko spürte Arnims Zögern und sah ihn bittend an. „Meine Freundin ist bereit, meine Kinder zu hüten und meinem Mann erzähle ich, dass ich nach Kyoto zu meiner Mutter fahre. Das kommt oft vor, er wird mich nicht zurückhalten.“
„Ja, es wäre schön, wenn wir dorthin gemeinsam fahren könnten. Wir wollen noch einmal darüber schlafen gehen.“
„Wie meinst du das?“ fragte sie etwas irritiert.
Arnim wurde die Doppeldeutigkeit seiner Bemerkung klar und er korrigierte sie. „Das bedeutet bei uns so viel wie: Wir sollten darüber noch einmal nachdenken.“
Sie antwortete nicht, schmiegte sich aber eng an ihn. Er spürte ihre Wärme, löste vorsichtig die Berührung, aber sie trennten sich erst, als das Schiff mit leichtem Ruck am Anleger anlegte. Bevor sie das Schiff verließen, erhielt Beyer noch die versprochene Siegerurkunde mit einem Foto, das während des Tanzes aufgenommen war. Sie sahen glücklich aus.
Fukuzawa empfing Beyer am folgenden Montag in seinem Büro mit der inzwischen üblichen Frage, was er denn gestern erlebt habe. Er berichtete begeistert von dem Meiji Tempel und der Bootsfahrt auf dem Sumida Fluss, ohne in die Details zu gehen. Fukuzawa berichtete von dem Fortgang der Interviews, er war zufrieden. Die Antworten entsprachen in etwa dem, was man auch in Europa festgestellt hatte. Insgesamt räumte man der Informationstechnologie einen hohen strategischen Stellenwert ein, vielleicht noch höher als in Europa, wohl ebenso hoch wie in den USA.
„Im Übrigen, Herr Teramoto hat angerufen, er bittet dich zu einem Gespräch.“
„Der hat wohl Angst um seine Sekretärin?“
„Nein, glaube ich nicht, er will mit dir über Japan sprechen, er möchte, dass du einen möglichst umfassenden Eindruck mit nach Hause nimmst. Er ist ein intimer Kenner des Landes, kennt auch die europäische Mentalität und äußert seine Meinung ganz frei, nimmt auch nicht die üblichen Rücksichten, er ist für dich sicher ein wichtiger Gesprächspartner.“
Mikiko wartete pünktlich vor dem Bürohaus. Sie trug ein vorteilhaftes graues Reisekostüm nach westlicher Mode und hatte eine kleine Reisetasche bei sich.,
„Und heute geht es nach Nikko?“ fragte Arnim und begrüßte sie mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange. „Ich weiß gar nicht, wo das liegt, du musst mir von dem Tempel und seiner Bedeutung erzählen, ich bin sehr gespannt.“
„Wir nehmen die Eisenbahn. Von der Station Ueno Asakusa gibt es eine direkte Verbindung über Imaichi nach Nikko.“
Auf der Fahrt mit der Bahn dorthin erzählte sie ausführlich von Nikko und seiner Geschichte.
Sie zeigte ihm Bilder in einem Kunstführer, er aber sah weniger die Bilder, er sah sie, sah ihre zarten Hände, ihre Arme, ihr Gesicht, ihren Mund, leicht geschwungen und sinnlich. Sie aber fuhr fort, als ob sie es nicht bemerkt hätte.
„Etwas weiter nordwestlich gibt es heiße Quellen mit schönen Thermalbädern, dorthin fahren wir bei deinem nächsten Besuch in Japan“, sagte sie, „da ist es auch sehr schön, mit einem großen See, Wasserfällen und Schiffen, sie wurden extra für dich dorthin gebracht.“
„Das war aber nett von den Leuten.“
„Ja, so sind wir Japaner nun mal.“
Wenn sie ihn so schelmisch aus den Augenwinkeln ansah, dann hätte er sie am liebsten vor allen Menschen umarmt und geküsst, aber das tat man in Japan nicht in der Öffentlichkeit. Ohnedies wurden sie unverhohlen von anderen Passagieren angestarrt.
„Haben die noch nie einen Europäer gesehen oder warum starren sie uns immer so an?“
„Viele wohl nicht, aber du gefällst ihnen, insbesondere den kleinen Mädchen, ich bin schon ganz eifersüchtig. Außerdem tragen Japaner keinen Bart, vor allem keinen blonden.“
Der Zug hielt in dem kleinen Bahnhof, sie bummelten durch die Straßen des Städtchens, folgen dem Strom der Menschen über die rote Brücke und erreichten den heiligen Bezirk. Der Gang durch die Tempelanlagen war wie ein Traum. Die Pracht der Farben war einfach unbeschreiblich. Die niedrigen Gebäude mit den geschwungenen Dächern glänzten weiß, blau und rot mit viel Gold, andere waren überwiegend in schwarz und Gold gehalten, auch grün fehlte nicht. Mauern umgaben den inneren Tempelbezirk, Tore gaben den Durchgang frei oder versperrten ihn. Auch sie waren überreich verziert mit geschnitzten Tieren und Fabelwesen oder kunstvollen Ornamenten. Dazwischen standen Pagoden und Laternen. Im Inneren waren die Tempel mit Gold und farbigen Lacken gestaltet, nirgends haftete der Blick, er glitt nur über die Fülle der Details, die es wert gewesen wären, lange betrachtet zu werden.
„Das ist alles ganz wundervoll“, sagte er staunend. „Es sind so viele neue Eindrücke. Ich wollte, ich könnte alles in meinem Gedächtnis speichern.“
„Ich könnte für Sie Aufnahmen machen, die ich Ihnen später schicke.“
„Darüber würde ich mich sehr freuen.“
Sie holte ihre kleine Canon-Kamera aus ihrer Tasche und begann von ihm Aufnahmen zu machen.
„Es wäre mir recht, wenn Sie sich mehr auf die Kunstwerke fokussieren würden, denn ich kenne mich zur Genüge.“
„Mag sein, aber ich nicht. Ich will ja auch ein Andenken an Sie behalten.“
„Na dann, wenn es denn sein muss.“
Arnim nahm es hin und fühlte sich wie in einer anderen Welt. Unwirkliches verband sich mit der Wirklichkeit zu einem flüchtigen Bild. Träumte er?
Mikiko zündete ein Räucherstäbchen vor einem der Tempel an: „Es wird uns Glück bringen!“ sagte sie etwas verlegen.
„Wir können es gebrauchen. Du hast mir bisher noch nicht erzählt, welcher Religionsgemeinschaft du angehörst.“
„Ich gehöre einer buddhistischen Sekte an, aber ich bete auch in einem Shinto-Schrein. Wir Japaner nehmen das nicht so ernst wie ihr Christen, 95% der Japaner besuchen am Neujahrsabend den nächstgelegenen Shinto-Schrein, um die „Erste Wallfahrt“ mitzumachen, aber gleichzeitig feiern 90% der Japaner das buddhistische ‘Urabon-Fest‘, wenn die Geister der Verstorbenen den Häusern der Lebenden ihren jährlichen Besuch abstatten. Aber so richtig glauben nur wenige Menschen wirklich daran, für die meisten von uns sind die Zeremonien zu bloßen Ritualen verkommen.“
„Ich fürchte, dass ist bei uns ziemlich ähnlich, auch im Christentum sind die großen religiösen Feste zu beziehungslosen gesellschaftlichen Ereignissen geworden, Anlass zum Schenken und Beschenkt werden, von kommerziellen Interessen beherrscht.“
„Auch hier im Lande spielt die finanzielle Seite des religiösen Lebens eine große Rolle: Shinto-Priester weihen in bestimmten Schreinen die neuen Autos für Geld. Bei uns mischen sich oft Naturglaube mit Aberglaube, auch ich kann das nicht so genau unterscheiden, jedenfalls haben für mich symbolische Handlungen eine große Bedeutung: Wenn ich ins Ausland verreise, dann melde ich mich mit einer Schale ‘Opfer-Reis‘ im Shinto-Schrein meiner Heimatstadt ab.“
„Das empfinde ich als eine schöne Geste, aber vor unserer Reise hast du es nicht getan?“
„Nein, aber ich habe einen Stein von einer heiligen Stätte mitgenommen, den ich nach der Reise wieder zurückbringen werde.“
Mikiko zeigte ihm den glatt polierten Stein, den sie in ihrer Handtasche trug. Er sah ihre zarte Hand, in der der dunkle Stein ruhte, nahm sie und schloss ihre Finger um den Stein: „Möge der Stein dir Glück bringen.“
„Danke!“ sagte sie ganz leise und holte tief Luft.
„Du solltest auch so einen Stein mitnehmen, der bringt auch dir Glück.“
Arnim ging hinein, Mikiko folgte ihm.
„Dort in der Ecke sitzt ein Priester, der hat mir mal mein Schicksal vorausgesagt.“
„Und, was hat er gesagt“, wollte Arnim wissen.
„Das darf ich dir nicht sagen, dann geht es nicht in Erfüllung Aber du kannst ihn nach deinem Schicksal fragen.“
Arnim zögerte, weil er Bedenken hatte, und seine Zukunft nicht wirklich wissen wollte. Aber offenbar war es eine gute Weissagung gewesen, und er nahm das Risiko auf sich. Schließlich überwand er seine Scheu und ging zu ihm. Der Priester blickte ihm in die fest in die Augen, bewegte langsam seinen Kopf hin und her. Dann malte er ein paar Zeichen auf einen Papyrus und gab sie ihm. Arnim dankte und ging hinaus.
„Und, was hat er gesagt?“ fragte sie ihn.
„Das darf ich dir nicht sagen, hast du doch zu mir gesagt.“
„Stimmt, aber er hat ja nichts zu dir gesagt, er hat dir einen Zettel gegeben.“
„Ja, aber ich verstehe die Schriftzeichen nicht.“
Verunsichert gab er ihr den Zettel zu lesen, weil er auf ihre Antwort neugierig war. „Und?“ fragte er.
„Die Zeichen sagen: ‚Du gehst einen beschwerlichen Weg‘.“
Zu gerne hätte er gewusst, was damit gemeint war, aber es blieb im Verborgenen.
Sie schritten langsam und mit Andacht durch die weitläufigen Tempelanlagen und konnten sich an den bunten Tempeln nicht satt sehen. Die Farbenpracht war überwältigend, sie verzauberte die beiden und versetzte sie in eine Welt von Träumen und Geschichten.
„Wir müssen zurück, es wird langsam spät und wir dürfen den letzten Zug nicht versäumen“, holte sie ihn in die Realität zurück.
„Ich würde gern mal für eine gewisse Zeit zur Meditation in ein Kloster gehen, um innere Ruhe zu finden und meine eigenen Grenzen auszuloten. Ich glaube auch, dass ich meine Lebensweise ändern sollte, aber ich bin noch nicht so weit“, sagte Arnim nachdenklich. „Es wird wohl eines starken Anstoßes bedürfen.“
Eine hügelige Landschaft mit vielen kleinen Reisfeldern zog an ihnen vorbei, als sie aus dem Fenster des Zuges sahen. Er wollte sie anhalten, aber sie rasten dahin. Viel zu schnell hielt der Zug an, und sie küsste ihn zum Abschied. „Danke“, sagte sie, „pass gut auf dich auf.“
„Ich danke dir, es war ein schöner Tag. Ich werde ihn nicht vergessen.“
„Vergiss vor allen Dingen nicht, dass wir am Samstag verabredet sind. Ich habe eine schöne Reise für uns gebucht.“
„Wohin geht es denn dieses Mal?“
„Lass dich überraschen, es wird dir gut gefallen.“
„Davon bin ich überzeugt, aber vergiss auch du nicht, dass ich wieder nach Hause muss. Meine Familie und meine Firma warten auf mich.“
Plötzlich sah sie ganz traurig aus und wandte sich abrupt ab. Sie wollte nicht, dass Arnim ihre Tränen sah.
Armin ging ihr nach und legte seinen Arm um ihre Schultern: „Glaube mir, ich würde auch gerne noch ein paar Tage bei dir bleiben, aber ich habe einen Anruf von meiner Sekretärin erhalten, wonach ein neuer Klient, den ich kürzlich gesprochen habe, ein Gespräch mit mir führen will. Anscheinend scheint es dringend zu sein.“
„Dass Ihr Männer immer nur an das Geschäft denken müsst.“
„So ist es ja nicht, aber von dem Geschäft lebe ich, und ohne das hätten wir beide uns nie getroffen.“
„Stimmt, aber ich wollte, du würdest bei mir bleiben.“
„Du weißt, dass das nicht geht.“
„Ja, aber ich will es nicht wahrhaben. In jedem Fall sehen wir uns in ein paar Tagen. Ich freue mich sehr darauf.“
Damit wandte sie sich erneut ab und ging mit eiligen Schritten davon. Gedankenverloren blickte er ihr nach, bis sie in der dichten Menschenmenge verschwunden war.