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bb) Kollision gleichwertiger Pflichten

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Dasselbe gilt aber auch dann, wenn er bei einer Kollision[1042] gleichwertiger Pflichten – der Arzt kann von zwei ihm zur Behandlung anvertrauten Patienten nur das Leben des einen retten – wenigstens einer dieser Pflichten nachkommt.[1043] Die Rechtfertigungsmöglichkeit ergibt sich daraus, dass das Recht als Verhaltensordnung mit seinen Geboten nichts Unmögliches verlangen kann („impossibilium nulla obligatio est“). Anderenfalls würde die Rechtsordnung mit ihrer fehlenden Handlungsvorgabe den Handlungspflichtigen belasten und ihn dem Risiko einer Notwehrhandlung aussetzen.[1044] Der Verpflichtete muss deshalb eine Wahlmöglichkeit haben mit der Folge, dass seine Entscheidung, wie immer sie auch ausfällt, vom Recht akzeptiert wird.[1045] Anderenfalls würde jegliche Rettung blockiert sein, da der Erfüllung der einen Pflicht immer zugleich die Anweisung im Wege stünde, auch der anderen nachzukommen und umgekehrt.[1046] Verbrechenssystematisch (nicht allerdings für das Ergebnis) dürfte es allerdings folgerichtiger sein, die Rechtfertigungslösung überhaupt aufzugeben und die Kollision mehrerer Handlungspflichten als ein bereits dem Tatbestand zuzuordnendes Problem der Pflichtbegrenzung anzusehen.[1047]

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Kollidieren Handlungspflichten, die vom betroffenen Rechtsgutsobjekt her als gleichwertig anzusehen sind[1048] (also Garantenpflichten gegenüber mehreren Patienten), so bestimmt sich deren ggf. im Einzelfall dann doch unterschiedliche Wertigkeit nach dem Grad der konkreten Schutzwürdigkeit der Rechtsgüter, auf deren Erhaltung sie sich richten. Hierbei kommt es – wie im Falle des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB)[1049] – nicht allein auf den abstrakten Stellenwert der Rechtsgüter an. Vielmehr können im Einzelfall noch weitere Umstände von Bedeutung sein, wie etwa die unterschiedliche Nähe der drohenden Gefahren (z.B. entfernte Lebensgefahr für einen Patienten, hingegen akute Gefahr eines schweren Gesundheitsschadens für einen anderen, der dann auch von Rechts wegen zuerst zu versorgen ist). Auch das Ausmaß der drohenden Verletzung bei gleichwertigen Rechtsgütern ist relevant mit der Konsequenz, dass die Pflicht, die auf die Beseitigung der größeren Gefahr gerichtet ist, Vorrang beansprucht.[1050] Keine Bedeutung hat dagegen das Verschulden eines der Betroffenen: Die nach den soeben genannten Kriterien legitimierte Behandlung eines von zwei zur Notfallversorgung eingelieferten Unfallbeteiligten ist nicht schon deshalb rechtswidrig, weil der Arzt dem zeitgleich eingelieferten Patienten hilft, der den Unfall verschuldet hat.[1051] Unerheblich[1052] sind auch (utilitaristische) Kriterien wie etwa die größere Erfolgsaussicht einer Maßnahme (sofern nicht wegen Aussichtslosigkeit die Behandlungspflicht ohnehin entfällt[1053]) und – angesichts der Gleichwertigkeit aller Lebenden, aus der ein Eigenschaftsbewertungsverbot resultiert[1054] – die Überlebensdauer, das Alter[1055] oder der soziale Status[1056] des Betroffenen, was auch bei Knappheit medizinischer Ressourcen gelten muss.[1057] Noch weitgehend ungeklärt ist allerdings, ob bei gleich schutzwürdigen Gütern die bereits begonnene Erfüllung der einen Pflicht deren Wert erhöht mit der Folge, dass sie den Vorrang hat. Hier spricht nicht zuletzt die Sicherung des Rechtsfriedens sowie die ohnehin nicht zu eskamotierende Schwierigkeit, den Grad der Schutzwürdigkeit der Rechtsgüter zu bestimmen, dafür, mit Rönnau[1058] darauf abzuheben, dass „wer (die Rettungschance) hat, der hat“: Wenn eine Auswahlentscheidung dringend zu treffen, hierbei aber keine materielle Verteilungsgerechtigkeit erreichbar ist, kommt dem Prioritätsprinzip als Instrument formaler Chancengleichheit zur Verwirklichung unparteiischer Verfahrensgerechtigkeit entscheidende Bedeutung zu.[1059] Somit wäre das – als bloßes Unterlassen der Fortsetzung einer Rettung zu bewertende – Beenden der Behandlung des einen Patienten, um einen zwischenzeitlich ebenfalls zur Versorgung anstehenden anderen Patienten mit höherer Lebensgefährdung zu behandeln, nicht gerechtfertigt,[1060] es sei denn, die Lebenserhaltung wäre bei dem in Behandlung befindlichen Patienten nur noch für einen sehr geringen Zeitraum möglich (sog. quantitative Sinnlosigkeit der Lebenserhaltung[1061]).[1062]

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