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Die Maske

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Nahe dem Monte Alba, am 16. Tag des Hitzemondes, im 458. Jahr der Abwesenheit Gottes

Sie waren die ganze Nacht hindurch geritten. Als Alessandra aus dem Sattel stieg, fühlte sie sich wie geprügelt. Ihre Oberschenkel waren auf den Innenseiten so wund, daß ihr das nässende, geschundene Fleisch am Stoff der engen Hosenbeine klebte.

Schwer stützte sie sich auf den Schaft der Harpune, die sie wie eine Krücke benutzte.

Ein paar Schritt neben dem Weg floß ein schmaler Bach. Die Söldner und einer der Lakaien des collectors waren hinübergegangen, um ihre Wasserflaschen zu füllen.

Der pater jedoch saß immer noch auf seinem prächtigen Hengst. Er hielt den Rücken so gerade, als hätte man ihm einen Besenstiel unter die Soutane geschoben, und blickte zum Himmel hinauf. Der beschwerliche Ritt scheint ihm nicht das mindeste ausgemacht zu haben, dachte Alessandra ärgerlich. Auch wenn der Gedanke kindisch war, wünschte sie insgeheim, daß dieser unnahbare Priester sich genauso wund gescheuert hätte wie sie. Doch selbst wenn es so gewesen wäre, hätte er es sich wahrscheinlich nicht anmerken lassen. Trotzig reckte die Harpunierin das Kinn. Sie war eine Auserwählte des Abwesenden Gottes. Eine Märtyrerin, deren Namen bis ans Ende aller Zeiten nicht erlöschen würde. Sie sollte sich dieser Ehre als würdig erweisen!

Sie biß die Zähne zusammen und ging mit steifen Schritten zum Bach hinunter, um zu trinken. Als sie niederkniete und sich der Stoff der Hose über den Wunden spannte, hatte sie das Gefühl, als risse man ihr mit glühenden Zangen die Haut von den Schenkeln. Tränen schossen ihr in die Augen, doch kein Schmerzenslaut kam ihr über die Lippen. Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie der bärtige Söldner sie beobachtete.

Alessandra tauchte die Hände in das eisige Wasser. Die Kälte vertrieb einen Herzschlag lang ihre Pein.

»Sie wird nicht trinken!«, erklang die durchdringende Stimme des collectors hinter ihr.

Trotzig führte sie die flache Hand an die Lippen, als jemand von hinten ihren Arm packte und schmerzhaft verdrehte.

»Wer bist du, dich über die Gebote pater Franciscos einfach hinwegzusetzen, Fischerin?« Dem bärtigen Söldner brannten Zornesflecken auf den Wangen.

Mit einem Ruck befreite Alessandra ihren Arm. »Und wer bist du, Hand an eine Auserwählte des Abwesenden Gottes zu legen? Möge der Heilige Guelfo dir dein Gemächt auf die Größe einer Rosine schrumpfen lassen, du Lump!«

»Dies ist nicht die Sprache, die sich für eine künftige Märtyrerin geziemt, Fischerin!« Der collector hatte sich aus dem Sattel geschwungen und kam auf sie zu.

»Ich bin eine Harpunierin!« entgegnete Alessandra wütend. Sie spürte eine pelzige Berührung und zuckte zusammen. Tormos Maus war ihr unter dem Kragen hervorgekrochen. »Ich bin eine Auserwählte! Eine Heilige!«

»Du irrst, Kind!« Die Stimme des paters klang jetzt milde. Er hatte sie fast erreicht, doch auch wenn seine Stimme einschmeichelnd klang, war sein Blick wie Eis. »Es mangelt dir an Bußfertigkeit. Nicht Trotz und Stolz sind die Attribute einer Auserwählten zur Endgültigen Askese. Es sind Demut und der Wille zur Selbstverleugnung. Sieh das Zeichen, das uns Aionar, der Abwesende Gott, gesandt hat, du störrisches Kind!«

Er packte sie beim Kinn und riß ihren Kopf hoch, so daß sie den verblassenden Mond sah. Zwei Handbreit daneben stand der neue Stern am Himmel. Er wirkte jetzt im Vergleich fast so groß wie eine Kastanie in der Hand.

»Die Fackel am Himmel mahnt uns, von Hoffart und Völlerei abzulassen. Und sie ist uns nahe ... Näher, als ihr alle glaubt.«

Der Priester stand so dicht vor Alessandra, daß sie seinen säuerlichen Atem roch. »Du wirst schon jetzt mit dem Fasten beginnen. Und da du ein störrisches Kind bist, werde ich dir helfen, diese schwere Bürde zu tragen. Carlos! Bring die Maske und das Werkzeug!«

Einer der Lakaien lief zu den Packtieren hinüber und löste ein großes Bündel vom Sattel.

»Hochwürden, haltet Ihr diese Entscheidung für richtig? Die Hitze ... Sie wird es nicht aushalten«, wandte vorsichtig der bärtige Söldner ein.

Der collector maß Alessandra mit Blicken. »Doch, sie wird es aushalten. Sie ist störrisch und muß Demut und Bescheidenheit lernen, bis wir Monte Flora erreichen. Und sie soll schon jetzt mit dem Fasten beginnen. Unsere Zeit ist kürzer bemessen, als der princeps erwartet hat.«

»Sie darf nicht trinken«, beharrte der Söldner. »Bei allein gebührenden Respekt, Hochwürden, aber das wird sie nicht durchstehen. Nicht wenn sie ...«

»Schweig!« Der collector schnitt dem Söldling mit einer herrischen Geste das Wort ab. »Wer bist du, mich zu lehren, was richtig ist und was falsch?«

Der Lakai war inzwischen mit dem Bündel zu ihnen zurück gekehrt. Als er es aufschnürte, kam eine versilberte Gesichtsmaske zum Vorschein. Die Züge waren glatt, alterslos und von unbestimmtem Geschlecht. Dieses Gesicht war etwas rundlicher als Alessandras Gesicht. Es hatte volle Lippen und eine edel geschwungene Nase, in die sogar Nasenlöcher eingearbeitet waren. Die Lippen hingegen waren geschlossen. Zwei weitere spitzovale Löcher waren für die Augen ausgespart. Die Brauen hatte man aus poliertem Messing auf das Silber aufgearbeitet. Das Gesicht wurde gerahmt von locker fallenden Locken, die ein geduldiger Schmied Strähne für Strähne aus Messing getrieben hatte. Die Maske mußte ein Vermögen wert sein!

Es gab noch eine zweite Hälfte, die einen goldbehaarten Hinterkopf zeigte. Am Halsstück und zwischen den goldenen Locken gab es je zwei Ösen, durch die offensichtlich metallene Stifte geführt werden konnten.

»Diese Maske wird dir helfen, dem Gebot des Fastens zu folgen, Mädchen.« Die Stimme des collectors klang auf einmal fast freundschaftlich. »Und sie läßt dich engelsgleich erscheinen, so wie es sich für eine Auserwählte zur Endgültigen Askese geziemt. Du mußt dir also keine Sorgen mehr machen, daß jemand über dein grobes Fischerinnengesicht lacht, wenn wir in Monte Flora einreiten.«

Vorsichtig tastete Alessandra über das kühle Metall der Maske. »Was muß ich tun, um die Endgültige Askese zu erlangen? Ich weiß, ich werde mein Leben hingeben ... Aber auf welche Weise? Pater Tomaso hat nie darüber gesprochen, wie die Märtyrer sterben.«

Francisco schnaubte abfällig. »Dorfpriester! Knie nieder, Mädchen, und laß dich von Carlos darauf vorbereiten, die Maske anzulegen. Derweil werde ich dir erzählen, wie du zur Endgültigen Askese gelangst. Doch unterbrich mich nicht mit Fragen. Unsere Zeit ist knapp bemessen.«

Eingeschüchtert und auch ein wenig widerwillig fügte sich Alessandra in die Worte des collectors. Carlos stutzte ihr zunächst die Haare, damit die beiden Hälften des Maskenhelms besser um ihren Kopf paßten.

Währenddessen erzählte der Priester ihr ohne beschönigende Worte, daß sie der Tod durch Verdursten erwartete. Das freiwillige Selbstopfer sei die größte Tat, die ein Mensch vollbringen könne. Eine Tat, die selbst in den unendlichen Fernen des Himmels die Aufmerksamkeit Aionars erwecken werde. Alle drei Auserwählten sollten auf den Sternenhof im Palast des princeps von Monte Flora gebracht werden, wo sie, umgeben von Wasserspielen, ihr tödliches Fasten vollenden sollten. Sie würden niederknien und, den Maskenhelm zum Himmel gerichtet, immer wieder eine einzige Bitte wiederholen: »Herr erbarme dich und lösche den Makel vom Himmel, auf daß wir lesen können dein Mirakel der Sterne.«

Carlos trug Alessandra eine fettige Paste auf Hals und Gesicht auf und murmelte leise, das müsse geschehen, damit der Maskenhelm sie nicht wundscheuere. Dann preßte er ihr die Maske auf das Gesicht. Im ersten Augenblick fühlte sie sich angenehm kühl an. Sie schien wie für sie gemacht.

»Halt sie eng an dein Gesicht gedrückt, damit ich die andere Hälfte ansetzen kann.« Carlos’ Stimme klang sanft.

Alessandra tat wie ihr geheißen. Ihre Wimpern wurden gegen die Augenlider gedrückt. Blinzelnd versuchte sie durch die Sehschlitze der Maske zu blicken. Ihr Gesichtsfeld war deutlich kleiner geworden.

Mit einem metallischen Knirschen schoben sich die Hälften des Helms aneinander. Jetzt spürte Alessandra die beklemmende Enge der Maske. Jemand griff nach ihrem Kopf und drückte beide Hälften des Helms gegeneinander. Etwas wurde gesprochen. Sie konnte es nicht richtig verstehen. Das Metall über den Ohren dämpfte alle Geräusche. Auch das leise Plätschern des Gebirgsbachs, neben dem sie kniete, war plötzlich verstummt. Dann kam der Schlag. Etwas traf seitlich den Helm. Ein metallisches Kreischen stach ihr wie ein Dolch in die Ohren. Sie bäumte sich auf und wurde sogleich mit Gewalt wieder in die kniende Haltung zurückgedrückt. Noch jemand griff nach ihrem Kopf. Ein zweiter Schlag traf den Helm!

Alessandra wurde übel. Die Maske drückte jetzt auf ihre Lippen. Sie versuchte den Mund aufzureißen, um zu atmen, doch dadurch sog sich das Metall nur noch fester an ihr Gesicht. Ihre Hände tasteten nach dem Ansatz des Maskenhelms am Hals. Sie versuchte ihn vom Kopf zu reißen, bevor sie erstickte. Doch ihre Finger fanden keinen Halt. Zu eng lag das Metall um den Hals.

»Du mußt durch die Nase atmen, Mädchen!« schrie Carlos. Alessandra konnte sehen, wie der Lakai wild gestikulierend auf sie einredete, doch seine Worte drangen nur gedämpft durch das dichte Metall.

Ihre Lungen stachen, als hätten sich dort Seeigel eingenistet. Sie spürte, wie ihr Herz schlug, als wolle es jeden Augenblick zerspringen.

»Atme durch die Nase!« drang es wieder gedämpft durch den Helm. Noch immer dröhnten Alessandras Ohren von den Schlägen, die den Helm getroffen hatten. Stoßartig sog sie die Luft durch die Nase. Grelle Lichtpunkte tanzten ihr vor den Augen. Ihr war schwindlig. Die drei Söldner, die sie niedergehalten hatten, traten zurück. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Jemand redete auf sie ein, leise und beruhigend. Sie konnte die Worte nicht verstehen, nur den Tonfall.

Ihr Atem beruhigte sich. »Hörst du mich?« Der Mann hinter ihr hatte die Stimme erhoben. Es mußte der collector sein.

»Jo!« Der Helm verzerrte ihre Stimme.

»Du mußt ganz ruhig atmen«, erklärte die Stimme des Priesters. »Und immer durch die Nase, hörst du?«

Sie nickte.

»Wir werden dich jetzt in einen weißen Talar kleiden. Du sollst prächtig aussehen, wenn man dich in den Bergdörfern sieht. Erinnere dich, Alessandra Paresi, du bist etwas ganz Besonderes. Du bist eine Auserwählte!«

Aus den Augenwinkeln nahm Alessandra eine Bewegung wahr. Jemand langte schon nach der Wallanze, die neben ihr am Boden lag.

»Nä!« hallte ihre verzerrte Stimme im Innern des Maskenhelms. Hastig griff sie nach dem Schaft der Harpune und war mit einem Satz auf den Beinen.

»Du brauchst jetzt keinen Fischspeer mehr, Mädchen«, redete der collector auf sie ein. »Leg ihn nieder.«

Fischspeer! Woher kam dieser Priester eigentlich? Jedes Kind kannte den Unterschied zwischen einer Harpune und einem dreigezackten Fischspeer. Allen Heiligen, die sie von den Beinbildchen aus dem Gemeindesaal kannte, waren besondere Gegenstände zugeordnet, damit man sie besser erkennen konnte. So hielt Myriander der Seefahrer eine schlanke Galeere in Händen, Malachias ein Schwert und einen langhaarigen abgetrennten Heidenkopf und die heilige Sarmantha, die erste Vertreterin Aionars auf Erden, zwei Locken Gottes. Sie, Alessandra Paresi, würde man später an der Harpune erkennen können!

»If wehrde maine Harpune behelten!« protestierte sie laut. Doch der bärtige Krieger ließ sich von ihrem Widerspruch nicht beeindrucken. Als er nach ihr greifen wollte, sprang sie behende zur Seite und versetzte ihm einen Stoß mit dem stumpfen Ende der Wallanze, der ihn aus dem Gleichgewicht brachte.

»Genug, dummes Kind!« dröhnte die Stimme des collectors. »Leg den Speer fort und füg dich!«

Alessandra wich noch weiter zurück. Sie stand jetzt in dem schnellfließenden Gebirgsbach. »If wehrde thun, ws immer Ihr befehlt, awer last mier die Lanze.«

Pater Francisco winkte den Waffenknechten. »Bringt das störrische Geschöpf zu seinem Pferd und nehmt ihm dieses lächerliche Spielzeug ab. Versetzt ihr eine ordentliche Tracht Prügel, damit sie begreift, daß man mir nicht widerspricht. Aber achtet darauf, daß sie keine sichtbaren Verletzungen davonträgt.«

Die drei Söldner tauschten Blicke. Dann zogen sie ihre Kurzschwerter.

Alessandra versuchte sie so gut wie möglich durch die Sehschlitze im Helm im Blick zu behalten. Sie fürchtete sich nicht. Wer ganz allein mitten in einer Seeelefantenherde den Leitbullen harpuniert hatte, der lief nicht gleich davon, wenn drei ungewaschene Halsabschneider ihre Klingen zogen. Solange sie im Bach bliebe, wäre sie ihnen gegenüber sogar im Vorteil, denn sie war ein ganzes Leben lang daran gewöhnt, auf schlüpfrigem Grund sicheren Halt zu finden.

»Wirf deinen Speer weg, und alles wird gut!« rief ihr der Bärtige beruhigend zu.

»Nä!« Sechs Jahre lang hatte sie mit dieser Waffe ihren Lebensunterhalt verdient und sich nur selten mehr als einen Handgriff weit davon entfernt. Das Schicksal hatte sie binnen drei Tagen zu einer reichen Frau gemacht und ihr dann alles wieder genommen. Ihr Leben war verwirkt; in nicht einmal einer Woche wäre sie schon tot. Die Wallanze würde es dann noch immer geben. Mochten die Priester auch ihren Namen in irgendwelche Bücher schreiben – für alle, die sie einmal gesehen hatten, wäre diese Lanze eine viel greifbarere Erinnerung. Man sollte sie zurück ins Dorf schicken, wenn sie tot war. Vielleicht konnte man sich ja darauf einigen. Alessandra sah im Geist schon vor sich, wie die Lanze einen Ehrenplatz über dem Podest erhielt, von dem aus Bruder Tomaso zu predigen pflegte.

In diesem Augenblick sprang einer der drei Söldner vor, um ihr mit einem wuchtigen Hieb nach dem stählernen Blatt der Harpune die Waffe aus der Hand zu prellen. Mit einer leichten Drehung der Wallanze wich sie dem Angriff aus, ließ den Schaft um die rechte Hand wirbeln und versetzte dem Söldner einen wuchtigen Schlag auf den Arm. Sie wollte keinen der Männer ernsthaft verletzen, war aber wild entschlossen, sie sich vom Leib zu halten.

Fluchend versuchten die beiden, auf den glatten Steinen des Bachs einen festen Stand zu finden, während der dritte benommen auf die Beine kam.

Mit einem tief gezielten Schlag riß sie den ersten Angreifer von den Beinen und tauchte unter einem Hieb des Bärtigen hinweg. Doch der fing den fehlgegangen Angriff ab und traf sie mit der Breitseite seines Katzbalgers am Oberarm. Sie taumelte und wäre fast von dem dritten Krieger übermannt worden, hätte sie ihn nicht im letzten Augenblick mit einem Stich zurückgetrieben, der ihm das weite Wams zerriß.

Dieser verfluchte Maskenhelm! Alessandra drehte wie ein aufgeregter Vogel den Kopf hin und her und versuchte vergeblich, alle drei Söldner zugleich im Blick zu behalten. Diese hatten jetzt einen Halbkreis gebildet und wollten sie offensichtlich zum Ufer zurücktreiben.

Alessandra hielt das stumpfe Ende der Harpune auf die Söldner gerichtet und hoffte immer noch, sie würden von sich aus den Kampf aufgeben. Statt dessen hob der Bärtige einen schweren Stein aus dem Wasser. Seine beiden Kameraden folgten auf der Stelle dem Beispiel.

Unsicher wich Alessandra zurück. Schon flog ihr der erste Stein entgegen. Sie duckte sich und wich noch weiter zurück. Ein zweiter Stein traf sie an der Schulter. Etwas griff von hinten nach ihrer Harpune. Sie geriet aus dem Gleichgewicht, stürzte, und die Waffe wurde ihr mit einem Ruck aus den Händen gerissen. Wasser drang durch die Augen und Nasenlöcher in den Helm.

Wild mit den Armen um sich schlagend, kam sie wieder auf die Füße. Die drei Söldner hatten sich nicht von der Stelle gerührt. Wie gebannt starrten sie an ihr vorbei. Etwas schien hinter ihr ... Oder war es nur eine Finte? Alessandra tastete nach der Wallanze, die hinter ihr liegen mußte. Dabei ließ sie die Söldner nicht aus den Augen.

Wasser war ihr in die Ohren gedrungen. Außer dem eigenen keuchenden Atem hörte sie nichts mehr. Sie sah, wie die Lippen des Bärtigen sich bewegten. Sie mußte ihre Harpune finden. Hastig blickte sie über die Schulter zurück. Hinter ihr lag der collector am Ufer. Ein immer größer werdender Blutfleck breitete sich auf seiner schneeweißen Soutane aus. Er hatte nach ihrer Lanze gegriffen, und als sie überraschend losgelassen hatte, hatte er sich die Spitze der Waffe in den Leib gerammt.

Alessandra begriff, daß sie nie mehr eine Heilige sein würde. Sie sprang ans Ufer. Die Harpune hatte den collector dicht unter dem Rippenbogen getroffen. Sie hatte einen Priester getötet!

In blinder Panik beugte sie sich über den Toten, griff nach dem Schaft der Harpune und befreite sie mit leicht drehenden Bewegungen aus der Wunde, wie sie es immer tat, wenn sie Robben erlegt hatte.

Carlos und der andere Lakai standen bei den Pferden und starrten sie an. Sie lief auf die beiden Männer zu. Ohne Widerstand zu leisten, ließ sich Carlos die Zügel vom großen Hengst des collectors aus der Hand nehmen.

Das Tier blähte erregt die Nüstern, als es das Blut roch, das von der Spitze der Harpune troff Alessandra griff nach dem Sattelhorn und zog sich ungelenk hinauf. Sie mußte fort! Das war ihr einziger Gedanke. Das Pferd scheute. Einer der Söldner stürzte herbei und wollte nach dem Zaumzeug greifen, zog es dann aber doch vor, den trommelnden Hufen auszuweichen.

Alessandra klammerte sich mit der Linken an der Mähne fest, während der Hengst in halsbrecherischer Eile auf dem steilen Bergpfad davonpreschte, über den sie heraufgekommen waren. Es war nur ein Unfall, wiederholte Alessandra immer wieder in Gedanken. Nur ein Unfall, dich trifft keine Schuld.

Ein Schatten wie von einer Libelle huschte dicht an ihrem Kopf vorbei. Sie wandte sich im Sattel um. Sie hatte die Söldner schon mehr als hundert Schritt hinter sich gelassen.

Der Bärtige hielt einen fast mannshohen Bogen in der Hand. Mit einer anmutigen Bewegung, schnell, aber ohne Eile zog er einen Pfeil aus dem Köcher, der von seinem Sattel hing, legte ihn auf die Sehne, hob die Waffe und zielte.

Unterdessen waren die beiden anderen Krieger aufgesessen, um sie zu verfolgen. Alessandra drückte das Gesicht mit der Maske in die dichte Mähne des Hengstes. Sie wartete auf den tödlichen Stich, der sie zwischen den Schulterblättern treffen mußte. Wind, der an der steilen Bergwand herabstrich, fuhr ihr durch die nassen Kleider und spielte mit der Mähne des Hengstes.

Sie spürte etwas wie einen Ruck. Ein Zittern durchlief den großen Schimmel. Er stieß ein schrilles Wiehern aus und brach seitlich aus. Die Hinterbeine knickten ihm ein. Er riß den Kopf hoch und fand noch einmal einen festen Stand. Sein fein gewölbter Nacken schlug gegen Alessandras Gesichtsmaske. Sie warf sich zurück und klammerte sich zugleich verzweifelt an der Mähne fest.

Ein dunkel gefiederter Pfeil ragte aus der Kuppe des Hengstes; er war mehr als zwei Hand tief eingedrungen. Wieder spürte Alessandra, wie ein Zittern den Körper des Tiers durchlief. Sein Schweif peitschte wild, als wolle es lästige Pferdebremsen vertreiben. Dann knickten ihm erneut die Hinterbeine ein. In verzweifeltem Kampf warf der Hengst sich halb herum und stürzte über die Böschung des steilen Bergwegs hinunter. Alessandra wurde aus dem Sattel geschleudert und schlug auf federnder Erde auf. Ihre Rechte hielt noch immer krampfhaft die Harpune fest. Sie rollte den Hang hinab. Rasend schnell wechselten vor ihren Augen Himmelfetzen, die von dunklen Ästen gerahmt wurden, mit dem gelblichen Laub, das den Hang bedeckte. Erdklumpen verklebten eine der Augenöffnungen des Helms und machten sie halb blind. Erstickend drang säuerlicher Modergeruch unter die Maske.

Alessandra überschlug sich unzählige Male. Sie streifte einen Baumstamm, und der Aufprall trieb ihr die Luft aus den Lungen. Der Helm dröhnte von dem ängstlichen Hecheln, mit dem sie um Atem rang. Etwas schlug ihr hart gegen das Knie. Undeutlich nahm sie Felsbrocken wahr, die aus einer dicken Schicht faulenden Laubs ragten.

Glühende Lichter tanzten ihr vor den Augen. Ihr Sturz wurde aufgefangen. Sie prallte gegen etwas Großes. Ihr linker Arm schien zu zerbrechen. Ein stechender Schmerz pochte bis zur Schulter hinauf. Ihre Rechte griff ins Leere! Die Wallanze mußte ihrer Hand entrissen worden sein, ohne daß sie es bemerkt hatte.

Wieder brandete ihr eine Schmerzwelle durch den linken Arm. Blinzelnd blickte sie durch das weit ausladende Geäst einer Korkeiche zum Himmel hinauf. Alles drehte sich, obwohl sie längst stillag. Übelkeit stieg in ihr auf. Sie schloß die Augen. Wenn sie sich erbrechen müßte, würde das ihren Tod bedeuten. In dem engen Maskenhelm würde sie an ihrem Erbrochenen ersticken. Sie biß die Zähne zusammen und versuchte an etwas Schönes zu denken. An die hellen Sommernachmittage, als sie, ein kleines Mädchen, im Jagdboot ihrer Eltern mitgefahren war. Sie erinnerte sich an den frischen Seewind auf dem Gesicht und an den Duft nach Holz und Teer in dem Bootsschuppen.

Ihr Atem ging etwas ruhiger. Ihr Herzschlag verlangsamte sich. Der stechende Schmerz im linken Arm war zu einem regelmäßigen, dumpfen Pochen geworden. Doch noch immer wagte sie die Augen nicht aufzuschlagen. Sie lag völlig verdreht am Boden. Ihr Körper lastete auf dem schmerzenden Arm, der Kopf war weit in den Nacken gestreckt. Der rechte Ann lag ihr quer über der Brust. Die Finger berührten den Griff des gekrümmten Messers am Gürtel.

Alessandra wagte es nicht, sich zu bewegen. Vielleicht konnte sie es auch gar nicht mehr ... Ihre Schmerzen waren im Augenblick erträglich, doch die kleinste Bewegung würde sie erneut aufflammen lassen, so als bliese man in ein Feuer, das zu glühenden Scheiten zusammengesunken war. Sie wollte die Augen nicht öffnen. Die Dunkelheit vermittelte ihr ein Gefühl der Sicherheit. Sie erinnerte sich, wie sie als kleines Kind geglaubt hatte, niemand sähe sie, wenn sie die Augen schlösse. Deshalb hatte sie beim Versteckspiel immer verloren.

Sie schlug die Augen auf. Ein Gesicht beugte sich über sie. Es war einer der drei Söldner. Er war so nahe, daß sie die hellbraunen Sprenkel im Blau seiner Augen erkennen konnte. Seine Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen. »Sie lebt!« rief er. Sein Atem roch nach Zwiebeln.

Alessandras Gedanken überschlugen sich. Sie hatte einen Priester ermordet. Das war ein todeswürdiges Verbrechen. Niemand würde fragen, wie es geschehen war. Sie hatte sich vor Gott versündigt. Wenn sie ihre Seele von dieser Sünde befreien wollte, dann durfte sie noch nicht sterben! Sie mußte etwas Großes vollbringen. Ihren Glauben unter Beweis stellen.

Ihre Fingerspitzen tasteten nach dem Dolch. Ihre Hand schloß sich um den Griff. Mit einer schnellen Aufwärtsbewegung riß sie die Waffe aus der Scheide und zog die Klinge über die vorgereckte Kehle des Söldners.

Ungläubig griff sich der Krieger an den Hals. Dunkles Blut quoll ihm zwischen den Fingern hervor und tropfte auf Alessandras Maske. Er öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen. Blutiger Schaum perlte ihm von den Lippen.

»Roberto?«

Alessandra versetzte dem Söldner einen Stoß, der ihn zur Seite rollte, und richtete sich auf. Nur zwei Schritt entfernt steckte ihre Harpune im weichen Boden.

Der zweite Söldner stand noch ein ganzes Stück weiter oben. Mit ausgestreckten Armen mühte er sich den steilen Hang herunter. In der Linken hielt er seinen Katzbalger.

»If derf nich stebben«, murmelte die Harpunierin halblaut. Ihr linker Arm hing verdreht und nutzlos herab. Sie mußte weiterleben, um ihre Sünden zu sühnen. Mit zwei Schritten war sie bei der Wallanze. Bei jeder Bewegung schoß ihr ein brennender Schmerz durch den Arm. »If derf nich stebben!«

Ihre Rechte schloß sich um den Schaft der Harpune. Mit einem Ruck riß sie die Waffe aus dem Boden, spannte den Körper und hob den Arm. Ein Ziel über Wasser zu treffen war viel leichter. Da mußte sie keine Lichtbrechung berücksichtigen. Die Harpune nagelte den zweiten Söldner an eine große Korkeiche.

Mit fahriger Hand wischte sie sich über die Maske, um den Schmutz zu entfernen. Jetzt konnte sie wieder mit beiden Augen sehen. Ich habe schlecht gezielt, dachte sie beiläufig, als sie den Hang hinaufstapfte. Die Wallanze saß drei Handbreit höher, als sie beabsichtigt hatte.

Als sie den Baum erreichte, übermannte die Übelkeit sie erneut. Erst jetzt wurde ihr bewußt, was sie getan hatte. Sie starrte in die leblosen Augen des Mannes, der gegen den Baum lehnte. Nie zuvor hatte sie eine Waffe gegen einen Menschen gerichtet. Das Töten war so leicht gewesen. Viel leichter als das Jagen.

Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals.

Sie durfte sich nicht erbrechen! Als sie nach der Lanze griff, schloß sie die Augen. Das Meer! Sie mußte an etwas anderes denken. Ihr rechter Arm spannte sich.

Das Meer und die Rotkopfmöwen mit ihren lachenden Schreien. Dort hatte sie ihr Leben verbracht. Dorthin mußte sie zurückkehren. Pater Tomaso könnte ihr raten, was zu tun war. Sie mußte büßen. Sie hatte das alles nicht gewollt.

Mit einer Drehung löste sie die Wallanze. Alessandra blickte zum Rand der Böschung hinauf. Wo war der dritte Söldner? Hatte der Bärtige sich darauf verlassen, daß zwei Krieger genug waren, um ein aufsässiges Mädchen einzufangen?

Sie mußte fort. Wie lange würde es dauern, bis der dritte Krieger sich aufmachte, um nach seinen Kameraden zu suchen? Wenn er sie fände, beginge er gewiß nicht den Fehler, ihr zu nahe zu kommen. Mit dem Bogen würde er sie niederstrecken wie ein flüchtendes Reh.

Sie spürte eine Bewegung an der Brust und zuckte zusammen. Kleine Krallen gruben sich in ihr Fleisch. Sie tastete nach dem nassen Hemd. Die Maus! Sie hatte den Sturz überlebt. Sie würde sie zu Tormo zurückbringen.

Alessandra begann zu laufen. Im weichen Boden hinterließ sie eine tiefe Spur. Es wäre leicht, ihr zu folgen. Glühender Schmerz pochte in ihrem Arm. Sie reckte das Kinn und dachte an das glitzernde Meer.

Der Wahrträumer

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