Читать книгу Der Wahrträumer - Бернхард Хеннен - Страница 8
Die verlorene Zunge
ОглавлениеIn der Ziegenklamm, nahe dem Fischerdorf Nantala, am 15. Tag des Hitzemondes, im 458. Jahr der Abwesenheit Gottes
Ein breiter Streifen Sonnenlicht fiel senkrecht in die tiefe Schlucht. Wasser glitzerte auf den schroffen Felswänden, und ein winziger Regenbogen schwebte über der Gischtwolke des kleinen Wasserfalls am Ende der Schlucht.
Alessandra liebte es, zu dieser Tageszeit in die Ziegenklamm zu kommen. Sie streifte das Hemd über die nassen Schultern und betrachtete den Regenbogen. Er war stets nur für wenige Augenblicke zur Mittagszeit zu sehen.
So vieles hatte sich in den letzten zwei Tagen verändert. Eigentlich hatte sie Nantala, ihr kleines Fischerdorf, verlassen wollen. Doch plötzlich war es, als sei ein Makel von ihr gewichen.
Seit sie die Wale erlegt hatte, grüßte sie jeder. Der Fluch, der auf ihrer Familie lastete, schien vergessen. Gestern nacht hatte ihr sogar Rocco, der Sohn des Böttchers, nachgepfiffen.
Sie fühlte sich in den engen Gassen der schmutzigweiß verputzten Häuschen wieder heimisch, ja geborgen. Sie kannte hier jeden Winkel, jede Bucht und jeden Fischgrund im Umkreis vieler Meilen, und an diesen klaren Sommertagen erschien ihr das Meer in dem flachen Hafen von Nantala blauer und freundlicher als irgendwo sonst. Gestern abend hatte ihr Guillamo, der Älteste, sogar einen Platz im oktagon angeboten, dem Rat der bedeutendsten Bürger des Dorfes. Hier wurden alle wichtigen Fragen entschieden, die die Geschicke Nantalas betrafen. Nicht einmal ihre Mutter hatte man damals ins oktagon eingeladen, obwohl sie eine geachtete Harpunierin gewesen war.
Alessandra streifte sich die Hose über, zog sich die Stiefel an und schüttelte übermütig ihr strähniges, nasses Haar. Sie sollte beim Schiffsbaumeister ein schlankes Jagdboot in Auftrag geben! Im Geist sah sie sich im Bug des Bootes stehen, das durch die Wellenkämme einer aufgewühlten Wintersee schnitt, angetrieben von den sechs besten Ruderern des Dorfes.
Sie griff nach ihrer Harpune, die an einem Felsen lehnte. Seit vorgestern belächelte niemand mehr ihre Marotte, die Wallanze überallhin mitzunehmen. Pfeifend kletterte sie den Ziegenpfad hinauf; der aus der Klamm zu dem steilen Hügel mit den Agavenfeldern hinter dem Dorf führte. Lange bevor sie die Hügelkuppe erreichte, hörte sie schon das mahlende Geräusch der eisenbeschlagenen schweren Räder. Sie blieb am Wegrand stehen und sah nach Norden.
Guillamos Fuhrwerk näherte sich gemächlich. Schon von weitem war es an den safrangelben Bändern zu erkennen, die in Mähnen und Schweife der beiden schweren Kaltblüter geflochten waren, die den Lastkarren zogen. Auf der Pritsche waren sechs große Fässer festgezurrt. Jedes einzelne von ihnen faßte mehr als dreihundert Liter Öl.
Auf dem Kutschbock saßen Guillamo und sein bulliger Sohn Tormo. Während Tormo mit ausdrucksloser Miene die Zügel hielt, hatte sein Vater den Kopf in den Nacken gelegt und trank mit großen Schlucken aus einer Weinflasche. Als Guillamo die Flasche absetzte, erkannte er Alessandra und winkte ihr mit seinem löchrigen Strohhut zu. Dann nahm er Tormo die Peitsche ab und ließ sie über den Köpfen der Kaltblüter knallen. Doch trotz der wilden Flüche des Alten wurde das schwere Fuhrwerk immer langsamer, während es sich den steilen Hügel hinaufmühte. Als es schließlich die Kuppe erreicht hatte, troff den beiden Stuten weißer Schaum vom Maul.
»Gott, Mädchen!« japste der Alte aufgeregt. »Dreiundsechzig Fässer feinstes Norga-Öl haben die Sieder schon aus dem Tran gekocht, und sie haben den größten Wal noch nicht einmal angerührt!« Guillamo war kahl und sein Gesicht von Falten durchzogen, die der Seewind und die Sorgen in sein grobporiges Antlitz geschnitten hatten. Früher einmal war er Steuermann eines Jagdbootes gewesen, doch das war schon lange her. »Wenn ich nicht meine Roxana hätte, würde ich mir wahrhaftig überlegen, dir den Hof zu machen. Du bist die beste Partie im Dorf, und verdammich hübsch bist du obendrein!« Er starrte unverhohlen auf ihre Brustwarzen, die sich durch das feuchte Hemd deutlich abzeichneten. Dann brach er in schallendes Gelächter aus. »Brauchst nicht blaß zu werden, Mädchen. War nur ein Scherz.« Er versetzte Tormo einen Stoß mit dem Ellbogen. »Wenn du nicht so stumm wie ein Fisch wärst, könntest du der kleinen Alessandra den Hof machen. Bist ein stattlicher Kerl! Wenn du nur deine Zunge nicht verschluckt hättest, Junge.«
Tormo vermied es, in Alessandras Richtung zu blicken, und starrte stur auf die Hinterteile der beiden Stuten. Die Harpunierin mochte den jungen Mann. Er gehörte zu den wenigen, die sie in den letzten Jahren nicht verspottet hatten. Im Gegenteil, auch er war stets ein beliebtes Ziel derber Späße der Dorfjugend gewesen.
Alessandra konnte sich noch gut an jene Zeiten erinnern, als Tormo ein ganz gewöhnlicher Junge gewesen war. An einem Winterabend, zum Fest der Götzenschlacht, hatte er sie in einen Bootsschuppen gezogen. Der Sturmwind hatte an den Dachschindeln gerüttelt, und der ganze Schuppen war erfüllt gewesen vom Duft nach Teer und frisch geschnittenem Holz. Im Licht einer kleinen Tranlampe hatte er die Hose heruntergelassen und ihr seine Harpune gezeigt. Alessandra schmunzelte. Sie war damals sehr beeindruckt gewesen.
Im selben Winter hatte Tormo ein rätselhaftes Fieber gepackt. Er war der einzige in Nantala gewesen, der daran erkrankt war. In seinen Fieberträumen hatte er so geschrien, daß man es im ganzen Dorf hörte. Unheimliche Dinge hatte er gerufen: von einem Tag, da alles Wasser aus dem Hafen weichen und da eine zweite Sonne am Himmel stehen werde. Nach der ersten Nacht schon war seine Stimme so heiser gewesen, daß sie sich anhörte, als spräche ein alter Mann durch den Mund des Jungen. Im Dorf hatte helle Aufregung geherrscht. Niemand vermochte Tormo aus seinem unheimlichen Schlaf zu wecken, um ihn zum Schweigen zu bringen. Man hatte auch versucht, den Jungen zu knebeln. Doch was immer man unternahm, nach ein oder zwei Stunden hatten sich die Knebel gelöst.
Über das weitere Geschehen gab es zwei unterschiedliche Geschichten im Dorf. Guillamo behauptete, ein vermummter Kerl sei ins Haus gekommen und habe Tormo die Zunge herausgeschnitten. Doch er konnte niemanden im Dorf benennen, der diese blutige Tat begangen haben sollte. In dieser Zeit hatte man auch weit und breit keinen Fremden an der Küste gesehen. Die meisten glaubten deshalb, der Alte selbst habe seinen Sohn verstümmelt, um ihn endlich zum Schweigen zu bringen.
Es wurde Frühling, bis Tormo von dem Fieber genas. Von da an ging er allen aus dem Weg. Er arbeitete für zwei. Doch lachen sah man ihn nie mehr. Mit den Jahren war er stark geworden wie ein Stier, und man verspottete ihn nur dann, wenn er nicht in Hörweite war.
»Steig auf den Karren, Alessandra! Du sollst im Triumph im Dorf einziehen. Durch dich füllen sich unsere Taschen! Wenn die Flenser mit den Walen fertig sind, dann feiern wir ein Fest, wie es Nantala lange nicht mehr gesehen hat!« Er grinste breit. »Ich habe bei Philippo schon fünf Hammel bestellt. Und jetzt herauf mit dir auf den Karren! Los, Tormo, sei unserer Heldin behilflich!«
Der Junge streckte ihr die Hand hin. Noch immer vermied er es, sie anzuschauen.
Alessandra wünschte sich, sie wäre ein bißchen länger unten in der Klamm geblieben. Die ganze Sache war ihr unangenehm. Aber sie konnte dem Ältesten den Wunsch nicht abschlagen – nicht bevor er dafür gesorgt hatte, daß man sie ins oktagon aufnahm. Also griff sie nach Tormos Hand, die sich schwielig und schweißnaß anfühlte. Mit einem kräftigen Ruck zog er sie auf den Kutschbock.
»Vorwärts, ihr lahmen Schindmähren!« Guillamo ließ die Peitsche über die Köpfe der beiden Stuten hinweg knallen. Alessandra verlor das Gleichgewicht und stürzte Tormo in die Arme.
Der Älteste brach in gackerndes Gelächter aus. »Laßt euch nicht stören, ihr beiden Turteltäubchen. Ich wußte doch, daß du was für unsere Heldin übrig hast, Kleiner, so wie du immer Löcher in die Luft starrst, wenn sie in der Nähe ist. Sag nur, wenn’s nicht so ist, Junge!« Wieder brach er in wieherndes Gelächter aus.
Alessandra hatte sich inzwischen aufgerappelt und war auf die Pritsche geklettert. »Laß ihn in Ruhe, Guillamo!«
»Warum? Er ist mein Sohn. Ich will ihn doch nur gut verheiratet wissen. Laß einem alten Mann ein bißchen Spaß. Weißt du, daran, daß er still ist, gewöhnt man sich schnell. Quatscht wenigstens kein dummes Zeug. Manchmal wünschte ich, seine Mutter hätte ihre Zunge verschluckt und nicht er. Du solltest mal sehen, was er unter der Hose trägt. Ich sag dir, mein Kleiner braucht sich nicht zu verstecken. Der ist bestens ausgerüstet. Stimmt’s, Tormo?«
Tormo hielt die Zügel fest umklammert und starrte auf den Feldweg vor sich.
»Nun, dann schweigen wir eben ...« Guillamo setzte die Weinflasche an die Lippen und nahm einen tiefen Schluck.
Der Weg zum Dorf war so holprig, daß sich Alessandra mit der Linken auf Tormos Schulter stützen mußte, wenn sie nicht bei jedem Schlagloch das Gleichgewicht verlieren wollte. Sie spürte, wie seine Muskeln unter dem Hemd arbeiteten, wenn er an den Zügeln zog oder die Kaltblüter mit einem kehligen Grunzen dazu brachte, in der Wegspur zu bleiben.
Wäre dieses Fieber nicht gewesen, dann wäre Tormo sicher längst ein Bootsführer geworden. Vielleicht sollte sie ihn in ihre Mannschaft aufnehmen, wenn sie erst einmal ein eigenes Jagdboot besaß. Viele waren der Meinung, er sei nicht ganz richtig im Kopf. Die anderen fanden es wahrscheinlich nicht gut, mit so einem rudern zu müssen. Besser wohl, sie überdachte die Sache noch einmal.
Alessandras Blick wanderte zu dem dünnen Lederriemen, den sich Tormo anstelle eines Rings durch das durchstoßene Ohrläppchen gezogen hatte. Das untere Ende des Riemens verschwand unter seinem Hemd. Über Tormos rechtem Brustmuskel zeichnete sich eine Beule unter dem groben Stoff ab. Es hieß, er habe immer eine kleine Maus bei sich. Angeblich hatte er das andere Ende des Riemens an ihrem Schwanz festgeknotet. Verrückt! Nein, es wäre nicht gut, einen solchen Kerl mit ins Boot zu nehmen. Auch wenn sie Tormo mochte.
Als sie den Rand des Dorfes erreichten, begann Guillamo wieder ausgelassen zu rufen. »Dreiundsechzig Fässer! Und wir haben noch einen ganzen Norga zu zerlegen. Einen riesigen alten Bullen! Feiert unsere Heldin!«
Alessandra war das Geschrei peinlich. Sie hielt den Blick gesenkt und wünschte sich zum Wasserfall in der verborgenen Klamm zurück.
»He, ihr Nichtsnutze! Laßt gefälligst unsere junge Heldin hochleben!«
Aus den Augenwinkeln sah Alessandra eine Gruppe von Frauen beieinanderstehen und aufgeregt miteinander tuscheln. Nur ein dunkelhaariges kleines Mädchen blickte zu ihr auf und winkte.
»Bei den unflätigen Götzen vom Rand der Welt, was ist denn in euch gefahren, ihr dummen Weiber? Man sollte euch alle ...«
Tormo zog an den Zügeln und brachte die schwere Kutsche zum Stehen. Sie hatten den Marktplatz im Herzen des Dörfchens erreicht, und mitten auf dem Platz befand sich ein Trupp Fremder. Es waren drei Waffenknechte, gekleidet in geschlitzte bunte Wämser, und zwei schwarzgewandete Lakaien. Der Anführer der Truppe aber war ein hochgewachsener Mann in weißer Soutane. Ihn schmückten eine purpurgefärbte Bauchbinde und ein breitkrempiger Hut aus gleichfarbenem Stoff. Die Insignien eines Gesandten des princeps von Monte Flora!
Cosimo, der Böttcher und sein Sohn Rocco kamen zum Wagen herübergelaufen. »Hochwürden ist ein collector. Wir sind vom princeps auserwählt worden. Nur drei Dörfern ist diese Ehre zuteil geworden.«
Guillamo nickte zufrieden. »Unser Schicksal steht unter einem guten Stern. Erst die Norgas – und jetzt gehören wir zu den Auserwählten des princeps.« Er strich sich die ausgefranste Hose glatt und schwang sich für sein Alter erstaunlich behende vom Wagen. »Wir werden heute abend eine große Versammlung einberufen. Rocco, lauf zum Strand und sammle weiße Kiesel. Bei Gott, man kommt nicht mehr zur Ruhe. Laß uns den Pfaffen zur Schenke bringen. Schauen wir nach, oh Rosalita ʼnen Becher schales Bier für ihn übrig hat.«
Alessandra musterte den weißgewandeten Kirchenmann mißtrauisch. Ein collector – es war lange her, daß der princeps einen ähnlich wichtigen Geistlichen in ihr Dorf geschickt hatte.
Tormo zupfte sie am Ärmel und stieß einen rauhen Laut aus. Er deutete auf den Priester und schüttelte heftig den Kopf. Dann zeigte er auf Alessandra und in Richtung der Berge. Mit Mittelfinger und Zeigefinger machte er eine Geste, die wohl soviel wie ›laufen‹ bedeuten sollte.
Die Harpunierin runzelte die Stirn. »Was meinst du? Ich soll in die Berge gehen? Du weißt doch, daß niemand das Dorf verlassen darf, wenn ein collector zugegen ist. Ich würde den Abwesenden Gott beleidigen, und das, nachdem er mir gerade ein so reiches Geschenk gemacht hat.« Sie stieg vom Wagen und sah zu den Söldnern herüber. Die Krieger trugen stattliche Pluderhosen mit grellroten Schamkapseln. Einer der Männer grinste sie frech an, und Alessandra blickte herausfordernd zurück. Dann grinste auch sie. Es war schon mehr vonnöten, als aufgebauschter Stoff, um sie zu beeindrucken. Aber vielleicht würde sie dem Kerl heute abend in der Versammlungshalle noch eine Gelegenheit geben ...
Zufrieden schritt sie auf das nahe den Bootsschuppen stehende bescheidene Häuschen zu, das sie gemeinsam mit ihrem Onkel Pietro bewohnte.