Читать книгу Der Wahrträumer - Бернхард Хеннен - Страница 19
Die verlorene Axt
ОглавлениеIn den Ruinen Nantalas, nach der Flut
Gott liebte ihn! So mußte es sein. Er war der einzige Überlebende. Oder war es ein Fluch? Orlando blieb stehen und blickte sich in den Ruinen des Fischerdorfes um. Nein! Dies war nicht sein Dorf. Er hatte Meilen entfernt auf einer Klippe gelebt. Für die hier war er auch nach mehr als zwanzig Jahren noch immer der Fremde gewesen.
Welche Ironie! Der Fremde hatte überlebt. Jeder, der jetzt hierher käme, würde ihn für den einzigen Einheimischen halten. Würde er Nantala vermissen? Er hatte kaum je mit irgend jemandem gesprochen. Die meiste Zeit hatte er in seinem selbst gewählten Exil auf der Klippe verbracht. Ein Ort, den er nur mit den Möwen und einer gelegentlich verirrten Ziege teilte. Nachts wiegten ihn das Meeresrauschen und der dunkelmelodische Gesang der Wale in den Schlaf. Das würde bleiben! Nein, er würde Nantala nicht vermissen.
Und doch standen ihm Tränen in den Augen. All die Menschen! Ein Dorf, ausgelöscht in wenigen Stunden. Die meisten Häuser waren vom Meer bis auf die Grundmauern zerstört worden. Nur mühsam ließ sich noch erahnen, wo die engen Gassen entlanggeführt hatten.
Die zweite Welle war noch mächtiger, noch vernichtender als die erste gewesen. Viele Häuser sahen aus, als hätte man sie über den Grundmauern abgeschnitten. Im Dorf selbst gab es außer Steinen kaum noch etwas. Fast alles war entweder den Hang hinaufgespült oder ins Meer gerissen worden. Auch die Klamm, wo der Bach entsprang, der dicht am Dorf vorbeifloß, war voller Trümmer und Toter.
Orlando hatte nur überlebt, weil er den Hügel hinaufgestiegen war, um sich das große Schiffswrack im Agavenfeld anzusehen. Dann hatte er die zweite Welle kommen sehen und war losgelaufen.
Fort vom Weg, hinauf zum höchsten Punkt des Hügels war er gerannt. Die Dornen an den langen Agavenblättern hatten ihm blutige Striemen ins Gesicht und in die Arme gerissen und die Hose zerfetzt. Er hatte auf der Flucht seine Handaxt verloren und es nicht einmal bemerkt.
Die Welle hatte das Dorf überrollt, ohne langsamer zu werden. Droben auf seiner Klippe hatte er schon schlimme Stürme erlebt, aber das hier ... Es gab keine Worte dafür. Das Fauchen der Wassermassen. Wie ein unersättliches Tier war das Meer über die Küste hergefallen. Etwas nördlich des Dorfes war ein riesiges Stück aus einer Steilklippe weggebrochen, so als hätte ein Ungeheuer einfach ein Stück aus dem Land herausgebissen.
Orlando war gelaufen, ohne zurückzublicken. Er hatte das Donnern gehört, das Mahlen von Steinen, die übereinandergerieben wurden. Und er war gerannt.
Die Welle war bis in die tiefergelegene Klamm gelangt, und donnernd war eine Wand aus Gischt nur wenige Schritte von ihm entfernt aus dem engen Spalt der Schlucht heraufgefahren. Wie die Fontäne eines Wals hatte das ausgesehen, nur viel gewaltiger. Am hohen Hügel hatte sich die Wucht der Welle schließlich gebrochen. Die alles vernichtende Kraft war zu einem weniger zerstörerischen Fließen geworden, als ihn das Wasser einholte und ihm schnell bis zu den Waden stieg. Dann zog es sich zurück, als hätte eine höhere Macht dem Meer verboten, ihn zu berühren. Orlando lachte. Er wurde verrückt! Eine höhere Macht! Es gab kein höheres Wesen außer Aionar. Doch Gott hatte die Welt vor vierhundertachtundfünfzig Jahren verlassen. Die Menschen waren auf sich gestellt ... Und er, Orlando, war völlig unbedeutend! Außer für die Eisheiligen ... Aber sie hatten seine Spur längst verloren.
Unsicher blickte er sich um. Er war allein. Doch der Gedanke an sie ängstigte ihn. Sie würden niemals aufhören, nach ihm zu suchen. Selbst nach mehr als zwanzig Jahren nicht. Sogar in hundert Jahren würden sie nicht ruhen, bis sie sein Grab gefunden hätten.
Sein Blick wanderte aufs Meer hinaus. Von hier aus hatte man das Wasser früher nicht sehen können. Er befand sich in der Seilergasse ... Zweifelnd sah er sich um. Oder war dies die Gasse, in der die Werkstatt des Böttchers gelegen hatte? Allein die Ruinen der großen Lagerhalle waren ein markantes Wegzeichen geblieben. An nichts anderem konnte er sich noch orientieren.
Noch einmal streifte sein Blick rastlos über das flache Ruinenfeld. Es war unmöglich herauszufinden, wo er war. Und was bedeutete es auch? Außer ihm gab es niemanden mehr, der sich an den Böttcher oder an Guillamo, den Ältesten, erinnerte.
Zögernd ging Orlando auf die Halle zu. Ihre Mauern waren mehr als zwei Schritt dick gewesen. Sie hätte eine Festung sein können! Und selbst dieses Bollwerk hatte die wütende See herrisch geschleift.
Der alte Mann blickte zum Himmel hinauf. Es gab keine Wolken, doch etliche dünne Streifen zogen wie ferner Rauch quer über das Firmament. Was hatte man in diesem unbedeutenden Fischerdorf verbrochen, daß ein solches Strafgericht über Nantala hereingebrochen war?
Er zuckte mit den Achseln und stieg über eine tiefe Pfütze hinweg. Erst im letzten Augenblick bemerkte er die Bewegung unter sich. Er zuckte zurück. Ein häßlicher Kopf schnellte vor. Orlando taumelte einen weiteren Schritt zurück und stürzte über eine niedrige Mauer.
Das Wasser der Pfütze kräuselte sich. Sonst war alles ruhig. Nichts deutete noch auf die Muräne hin, die sich dort verbarg. Das Meer hatte sie von irgendwo dort draußen von den Korallenriffen hergetrieben. Und nun war ihr der Rückweg abgeschnitten. Verstört und bösartig lauerte sie auf alles, was ihrem Versteck zu nahe kam.
Orlando rappelte sich auf und schlich vorsichtig zur Pfütze zurück. Doch weiter als bis auf einen Schritt wagte er sich nicht heran. Jetzt sah er den gefleckten Schatten unter der Oberfläche. Unruhig wand sich der schlangenartige Fisch in seinem Gefängnis.
»Verdammtes Mistvieh!« Er spuckte ins Wasser und umrundete die Pfütze. Flache verkantete Steine bildeten einen niedrigen Damm, der das Wasser zurückhielt. Der Alte kniete nieder und lockerte einige der Steine. Jetzt sickerte ein dünnes Rinnsal zwischen ihnen hindurch.
Unruhig wand sich die Muräne. Sie spürte die plötzliche Strömung. »Das hast du davon, wenn du dich mit Greisen anlegst!« Orlando stieß ein dünnes keckerndes Lachen aus und blickte zum gestreiften Himmel empor. »Bevor es Nacht wird, hat dich die Sonne in eine ordentliche Portion Dörrfisch verwandelt!«
Während er vorsichtig jeder weiteren Pfütze auswich, setzte er seinen Weg zu den Ruinen des Lagerhauses fort. Dort hatte man allerlei Werkzeug gelagert. Vielleicht fände er eine neue Axt.
Das Meer hatte ihm heute sein Leben geschenkt. Vielleicht hielt es auch noch andere Gaben für ihn bereit? »Hohes oktagon, ich bitte um die Gunst, meine Verluste aus den Gütern der Harpuniere ersetzt zu bekommen.«
Als Orlando sich antwortete, ahmte er die Stimme Guillamos, des Ältesten, nach. »Aber gewiß, werter Klippenwächter, wie könnten wir dein ersten Bürger eine solche Bitte abschlagen? Nehmt Euch, was immer Euer Herz begehrt.«
»Erster Bürger«, wiederholte der Alte noch einmal. Er schneuzte sich und zog mit einer flüchtigen Bewegung seinen zerrissenen Ärmel unter der Nase vorbei. »Erster Bürger«, sagte er noch einmal leise und schluckte den galligen Geschmack hinunter, der diesen Worten anhaftete.
»Jetzt wirst du weinerlich!« schalt er sich selbst. Seine Schritte hatten ihre Kraft verloren. »Du bist ein Leichenflederer, Orlando. Bis heute warst du nur ein Mechanicus, der seine Ordensgelübde verraten hat, so wie es einst Leomedes tat. Wie tief willst du noch sinken?« Aber er brauchte eine neue Axt!