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Das Lagerhaus

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In den Ruinen von Nantala, drei Stunden später

»So halt doch still, sonst beschädige ich die Maske noch!«

Alessandra hätte den Alten verwünschen können. Ihr war es herzlich gleichgültig, was mit dieser verfluchten Maske geschah. Aber ihre Schwäche hinderte sie am Protestieren. Sie hatte nicht einmal mehr aus eigener Kraft den Hügel hinab ins Dorf gehen können. Tormo hatte sie tragen müssen.

Das Meer lag jetzt so ruhig da, als hätte es sich niemals erhoben, um das Land zu verschlingen.

»Eine wundervolle Handwerksarbeit!« lobte Orlando. Der alte Klippenwächter war irgendwann im Dorf erschienen. Alessandra konnte sich nicht erinnern, ihn unter den Gestalten gesehen zu haben, die auf das Agavenfeld zugelaufen waren.

Orlando hatte Werkzeug aus den Trümmern der Schmiede geholt und machte sich nun schon eine ganze Weile an dem Hein zu schaffen.

»Die Maske hat ein wahrhaftiger Künstler geschaffen.«

Über das Unglück hatte der Alte noch kein Wort verloren. Statt dessen ließ er sich in unermüdlichem Redefluß über den Handwerker aus, der die Maske erschaffen hatte, die dazu bestimmt gewesen war, Alessandra zu töten. Zu müde, um Orlando mit barschen Worten zum Schweigen zu bringen, kauerte die Walfängerin im Schatten der eingestürzten Schenke und ließ den Klippenwächter hantieren. Bisher hatte noch niemand der Überlebenden sie gefragt, warum sie zurückgekehrt war, sondern sie waren unterwegs in den Ruinen und suchten nach ihren Angehörigen. Man hatte bislang noch niemanden in den Trümmern gefunden. Das Meer hatte selbst die Leichen mit sich fortgenommen. Aber die Toten würden wiederkommen ... Zumindest einige. In zwei Stunden erreichte die Flut ihren höchsten Stand. Dann würde die See einen Teil ihrer Opfer zurückgeben. Ein metallisches Knirschen erklang.

»Hab ich dich, du Miststück!« murmelte Orlando vor sich hin.

Er zeigte Alessandra einen kleinen Metallstift. »Damit waren die Ösen am Helm verbunden. Man hat beide Enden plattgeschlagen, damit der Stift den Helm fest zusammenhielt. Ich muß noch einen zweiten mit der Zange durchkneifen, dann bist du erlöst. Wir können den Helm dann aufklappen.«

Orlando brauchte nicht mehr lange, um mit seiner Arbeit fertig zu werden. Vorsichtig löste er ihr die Maske vom Gesicht. Es war ein Gefühl, als zöge er ihr die Haut ab. Von innen war der Helm mit Fett und geronnenem Blut verkrustet. Orlandos Mundwinkel zuckten, als er sie betrachtete.

»Was?«

»Du siehst nicht gerade gut aus. Die Maske war zu eng. Um die Lippen und an den Augenbrauen bist du blutiggescheuert. Außerdem ist dein Gesicht voller Rost.«

»Du weißt ... wie man ... einer Frau ... Komplimente macht.« Jedes Wort war wie glühendes Eisen, das ihr durch die Kehle rang.

Der Alte grinste breit. »Du hättest mich erleben sollen, als ich jünger war.«

»Durst ...«

Orlando nickte. »Ich besorge dir eine Schale Wasser und sehe zu, ob sich zwischen den Ruinen etwas Besseres als toter Fisch gegen den Hunger auftreiben läßt.«

Alessandra lehnte sich gegen die Hauswand. Sie hatte gedacht, sie wäre erleichtert, wenn sie endlich von der verfluchten Maske befreit wäre. Doch jetzt beherrschte der Durst ihr ganzes Denken. Wäre sie nicht so kraftlos gewesen, sie wäre auf die Straße gekrochen, um aus einer der Pfützen zu trinken, obwohl sie wußte, daß das Salzwasser ihr die Eingeweide verbrannt hätte.

Müde blickte sie an sich hinab. Orlando hatte ihren Arm mit zerbrochenen Dachsparren und einem Ledergürtel geschient, so daß sie ihn nicht mehr bewegen konnte. Der Alte war erstaunlich geschickt!

Sie schloß die Augen. Die Mauer in ihrem Rücken war angenehm kühl. Sie war zu erschöpft, um heute noch weiterzuflüchten. Aber spätestens morgen müßte sie gehen. Sie wollte fort sein, bevor man Fragen stellen konnte und bevor sie ein neues Unglück auf das Dorf herabrief. Sie war verflucht!

Etwas strich ihr sanft über das Haar. Erschrocken riß sie die Augen auf Sie mußte kurz eingeschlafen sein. Neben ihr stand eine Schale mit Wasser, und auf einem Brett lag ein Stück aufgeweichtes Brot.

Tormo war zu ihr gekommen und hatte ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht gestrichen. Er sah sie mit traurigen Augen an. Auf seiner Schulter kauerte seine Maus.

Mit zitternden Händen griff sie nach der Schale und hatte die Hälfte verschüttet, bevor der erste Tropfen ihre Lippen benetzte. Gierig trank sie mit großen Schlucken. »Geht es deiner Mutter besser?« brachte sie schließlich prustend hervor.

Tormo hob nur die Augenbrauen.

Jetzt griff sie nach dem durchweichten Brot, riß Brocken davon ab und stopfte sie sich mit beiden Händen in den Mund, bis sie sich daran verschluckte und die Hälfte hustend wieder hervorwürgte.

Guillamos Sohn ging vor ihr in die Hocke und betrachtete sie. Seine Lippen bewegten sich.

»Hast du Pietro gesehen? War er im Dorf, als die Welle kam?« fragte sie schnaufend.

Tormo zuckte mit den Schultern.

Bis jetzt hatte sie noch keinen Augenblick an ihren Onkel gedacht. Er war der einzige Mensch, der in den letzten Jahren immer zu ihr gehalten hatte. Vielleicht lag Pietro verschüttet in seiner Hütte und brauchte ihre Hilfe. Und was tat sie? Herumsitzen und darüber nachdenken, wann sie am besten fortlaufen könnte!

Tormo ging zu dem kleinen Bach, der der Ziegenklamm entsprang, und füllte ihr noch einmal die Wasserschale. Noch immer ausgehungert, aß Alessandra weiter, schlang aber nicht mehr wie ein Tier. Erst als sie auch die letzte Brotkrume verzehrt hatte, versuchte sie sich aufzurichten. Doch sofort kehrten auch die Schmerzen zurück.

Guillamos Sohn half ihr auf und stützte sie.

»Bringst du mich nach Hause?« Erst als sie ihre eigenen Worte hörte, begriff sie, welchen Unsinn sie redete. Die Welle hatte das Dorf so gründlich verwüstet, daß kaum noch festzustellen war, wo einst welches Haus gestanden hatte. Verloren irrten die beiden über das Trümmerfeld. Die wenigen Gebäude, die noch aufrecht standen, sahen so fremd aus, daß Alessandra selbst Häuser, an denen sie Tag für Tag vorübergegangen war, nicht mehr wiedererkannte.

Tormo schien es nicht besser zu ergehen. Immer wieder blieb er stehen und blickte sich verwirrt um. Sie hatten den Dorfplatz ein gutes Stück hinter sich gelassen. Gehörte der gewölbte Türbogen dort zum Haus des Bootsbaumeisters Jacomo?

Etwas Buntes erregte Alessandras Aufmerksamkeit. In einer Vertiefung des Straßenpflasters hatte sich eine Pfütze gesammelt, die in allen Regenbogenfarben schimmerte. Die Walfängerin kniete nieder, tauchte einen Finger in die Flüssigkeit und schnupperte dann daran. Walöl! Das Meer hatte sich zurückgeholt, was ihm gehörte.

Sie drehte sich um. Ein dünner Ölfilm zog sich über das unregelmäßige Pflaster. Das Öl rann aus einem geborstenen Rohr am Sockel eines massigen Gebäudes. Das Lagerhaus der Harpuniere! Dort wurde die Beute aller Fangboote Nantalas eingelagert, bis die dickbauchigen Frachter aus Maganta wieder einmal im Hafen anlegten, um Waren für eines der großen Handelskontore in der Hauptstadt einzukaufen.

Alessandra tauchte beide Hände in die Ölpfütze. Es war alles vergebens gewesen. Sie begann heftig zu lachen, laut und schrill. »Vergebens!«

Tormo sah sie mit seinen großen ruhigen Augen an. Ganz langsam streckte er die Hand nach ihr aus, als wolle er ihr über den Kopf streicheln, wie einem Kind, das man beruhigen will.

Sie reckte das Kinn. »Nein!« Sie brauchte kein Mitleid. Sie durfte von niemandem mehr etwas annehmen. Sie mußte fort von hier, bevor ein neues Unglück geschah. Wenn Tormo freundlich zu ihr war, wenn er ihr etwas bedeutete, dann würde er sterben. »Faß mich nicht an!«

Verwundert zog er die Hand zurück.

»Ich ... ich bin verflucht!« Sie stemmte sich hoch. Vielleicht gab es im Lagerhaus noch Vorräte, die die Flut überstanden hatten. Dort wurden auch wasserdichte Kisten mit Schiffszwieback verwahrt, den die Harpuniere auf längeren Jagdfahrten mitnahmen.

Sie stieg die flache Rampe zu dem Lagerhaus hinauf und kletterte über einen Haufen zersplitterter Schiffsplanken. Über dem hohen Bogentor des Lagerhauses ragte der verschrammte Rumpf einer zweiten Kriegsgaleere auf, die der Flutwelle zum Opfer gefallen war. Er war mit grün angelaufenen Kupferplatten verkleidet. Nur wenige Muscheln klebten an dem Metall. Man hatte das Schiff offensichtlich erst vor kurzem überholt. Die Ramme der Galeere zeigte in steilem Winkel zum Himmel. Die Flutwelle hatte das Wrack aufs Dach des Lagerhauses geschleudert.

In feinen Rinnsalen troff Wasser vom Rumpf herab. Ein großes Auge aus Fayence war in die Bordwand eingelassen. Es schien geradewegs auf Alessandra herabzustarren, als gehöre es zu einem riesigen Norga, den das Meer ausgespien hatte, um über das Öl zu wachen, das man aus dem Fett seiner Brüder gekocht hatte.

Entschlossen trat Alessandra in das Lagerhaus. Das Dach war halb eingestürzt. Grün schimmernd wie ein fauliger Fisch lag der Schiffsrumpf auf den schweren Balken. Das Gerüst aus langen Zedernbalken und dünneren Sparren war fast völlig von Schindeln entkleidet. Es sah beinahe aus, als hätte das Schiff sich in einem großen hölzernen Netz verfangen.

Den massiven Mauern der Halle hatte die Sturmflut nichts anhaben können. Sie waren fast zwei Schritt dick und stammten aus alten Zeiten. Angeblich hatte es diese Mauern schon gegeben, bevor die ersten Fischer nach Nantala gekommen waren. Die Nordwand des Lagers war nach außen gewölbt, als hätte sie einst zu einem gewaltigen Turm gehört. Diese Mauer war sogar noch massiver als die Seitenwände. Eine Treppe aus Steinstufen, die in die Wand eingelassen waren, wand sich in der Wölbung nach oben und endete auf einer Höhe von fünf Schritt vor einer Mauernische. Die Stufen waren alt und zum Teil geborsten. Alessandra erinnerte sich, wie sie dort als Kinder gespielt hatten, wenn es ihnen geglückt war, sich heimlich in das Lagerhaus zu schleichen. Sie hatten sich ausgemalt, die Herren einer stolzen Burg zu sein und Nantala gegen die Heiden von den Jaguarinseln zu verteidigen. Natürlich waren das nur Kinderträume gewesen. Auf die Frage, gegen wen man ihre kleine Bucht einst so stark befestigt hatte, wußte niemand im Dorf eine Antwort. Und um der Wahrheit Genüge zu tun: Die meisten hatte es herzlich wenig gekümmert.

Alessandra sah sich um. Das Erdbeben und die Flutwelle hatten auch hier alles verändert. Am Boden der Lagerhalle lagen die Reste geborstener Fässer zwischen Schindeln und Holzstücken. Große Kisten waren wild durcheinandergewürfelt worden. Der Schiffsrumpf warf einen weiten Schatten. Etwas blinkte im Zwielicht. Alessandra dachte an die Harpunen, die hier lagerten. Sie winde eine zweite Waffe und einen Wetzstein mitnehmen.

Sie stieg über zwei Fässer hinweg, in deren geborstene Dauben ihr Zeichen eingebrannt war: das Waljagdboot, das von einem plötzlich auftauchenden Norga durchgebissen wurde. In die Wölbung der nördlichen Wand waren Berge von Treibgut gespült worden. Kisten, Fässer, zerbrochene Planken und zerrissene Netze türmten sich mehr als drei Schritt hoch. Zuckende Fische waren in Pfützen gefangen, die sich auf dem unebenen Boden gebildet hatten. Obwohl das Unglück noch keine zwei Stunden zurücklag, hing bereits Verwesungsgeruch in der Luft. Verdunstendes Wasser stieg von einer Ecke des Trümmerhaufens auf, der im hellen Sonnenlicht lag.

Beim Näherkommen hatte sie das funkelnde Metallstück aus den Augen verloren, das sie angelockt hatte. Sie beugte sich unter dem Schiffsrumpf durch, der an dieser Stelle so tief durch das Dach hing, daß er fast den Boden berührte.

Sie hörte ein Geräusch und fuhr herum. Tormo! Er winkte ihr zu. Offenbar wollte er, daß sie die Lagerhalle wieder verließ.

Wie um Tormos Sorge zu unterstreichen, knirschten die schweren Deckenbalken, auf denen die zerschmetterte Galeere lag. Ein Schwall Wasser ergoß sich schwer und schaumig aus dem Rumpf des Schiffes in die Halle.

Alessandra hatte die Trümmerhaufen an der Nordwand erreicht. Jetzt sah sie das Blinken wieder. Sie zerrte ein Knäuel aus zerrissenen Tauen zur Seite und blickte in ein Gesicht. Es war ein flächiges Gesicht mit schmalen Lippen, gerahmt von eisgrauem Haar. Buschige Augenbrauen wuchsen über der Nasenwurzel zusammen. Der Mund des Mannes war halb geöffnet. Etwas bewegte sich darin. Lebte der Fremde noch? Er trug einen prächtigen geschwärzten Küraß, auf dem in Silber aufgearbeitet ein Bildnis des Heiligen Malachias prangte. Die Walfängerin beugte sich vor. Als ihr Schatten auf das Gesicht fiel, huschte ein kleiner blaßroter Krebs aus dem halb geöffneten Mund. Er krabbelte erschrocken im Seitschritt über das Kinn des Toten und verschwand unter dem Halsausschnitt des Brustpanzers. Alessandra drückte dem fremden Krieger die Augenlider zu. »Möge deine letzte Reise dich zurück zu Aionar führen, der unsere Welt verlassen hat.« Erschaudernd musterte sie den Trümmerhaufen und entdeckte weitere zerschmetterte Leiber. Was geschah hier? War das die Antwort Gottes auf ihr selbstsüchtiges Aufbegehren gegen den collector? Hatte er in seinem Zorn das Meer aufgewühlt, so daß alle Schiffe an Land geworfen wurden?

Eine plötzliche Bö ließ das Dachgebälk knacken. Vereinzelt stürzten Schindeln in die Halle. Mit einem scharfen Knall zerbrach der Tragebalken des Dachstuhls. Zugleich war ein fernes, tiefes Donnergrollen zu hören.

Tormo hechtete ihr entgegen und riß sie von den Beinen. Beide stürzten in den Trümmerhaufen. Alessandras geschienter Arm prallte gegen eine Kiste und wurde in unnatürlichem Winkel verdreht. Der Schmerz traf sie mit solcher Wucht, daß sich ihr Magen zusammenkrampfte und sie Galle würgte.

Mit infernalischem Getöse stürzte das Schiffswrack in die Halle herab. Der geborstene Rumpfschlug an jener Stelle auf dem Boden auf, wo sie vor einem Augenblick noch gestanden hatte.

Unfähig, sich zu bewegen oder auch nur ein Wort zu sagen, starrte sie auf die Galeere. Tormo hielt sie fest umschlungen, als wäre sie ein Kind. Sein warmer Atem streichelte ihre Wange. Sie fühlte sein Herz schlagen, so eng lag sie an ihn gepreßt.

Den weiten, wolkenleeren Himmel kreuzten zwei Sternschnuppen, die einen dünnen weißen Rauchfaden hinter sich herzogen. Alessandra wagte es nicht, sich zu rühren. In ihrem Arm pulste ein beständiger dumpfer Schmerz. Wenn sie aufstand, würde der gebrochene Arm sich bewegen. Sie hatte Angst vor den Schmerzen und atmete flach und hechelnd. Selbst das leichte Heben und Senken des Brustkorbs versetzte dem Arm jedesmal einen Stich. Auch Tormo rührte sich nicht. Er roch angenehm nach Schweiß und Meer.

Irgendwo in den Ruinen des Dorfes erhob sich ein kurzer, abgehackter Schrei. »Das Meer! Es kommt zurück!«

Sofort war Tormo auf den Beinen. Hilflos öffnete sich sein Mund, unfähig, auch nur ein Wort zu formen. Er beugte sich herab und hob Alessandra auf, bemüht, ihren verletzten Arm so wenig wie möglich zu bewegen.

Hastig stürmte er jene schmale Treppe in der Wölbung der Nordwand hinauf, die vor der Mauernische endete. Fünf Schritt über dem Boden der Halle mündete die Treppe auf einen schmalen Absatz. Im Mauerwerk waren noch die Reste ausgebrochener Stufen zu erkennen, die einst noch weiter nach oben geführt hatten. Von hier aus gab es keinen Fluchtweg mehr. Sie saßen in der Falle.

Alessandra hörte ein Rauschen wie das der Brandung. Wellen, die sich, vom Sturmwind aufgepeitscht, an mächtigen Felsen brachen. Im nächsten Augenblick verschwand der Himmel hinter sprühender Gischt. Eine riesige Welle spülte über das Lagerhaus hinweg.

Tormo griff nach einem Eisenring, der in die Wandnische eingelassen war. Wie eine Mauer stürzte das Wasser auf sie nieder und schleuderte sie gegen den Steinboden.

Alessandra spürte, wie Tormo sie eng umschlungen hielt und seine Finger sich in ihren Gürtel krallten. Schatten wirbelten durch das Wasser. Ein ungeheurer Sog zog sie über die Platten zur Lagerhalle hinunter.

Die Welt war im grünen Zwielicht des warmen Wassers versunken. Alessandra hatte unwillkürlich den Atem angehalten, als die Welle über sie niederging, doch sie war nicht mehr dazu gekommen, tief Luft zu holen. Schon brannten ihr die Lungen. Verzweifelt blickte sie nach oben, dorthin, wo matt die Sonne durch das Wasser brach. Das Wasser brach sich am Giebel zu weißer sprühender Gischt.

Noch immer stürmte die Welle landeinwärts. Alessandra spürte eine Beklemmung im Hals. Immer stärker wurde ihr Wunsch, einzuatmen und ihrem Leiden mit einem Schlag ein Ende zu bereiten. Wenn sie jetzt stürbe, hätte der zornige Gott keinen Grund mehr, ihr Dorf noch weiter zu strafen. Sie konnte wenigstens Tormo retten.

Die Strömung schwang um und drückte sie gegen die Mauer. Ein gewaltiger Schatten kam durch das aufgewühlte Wasser auf sie zu. Das Schiffswrack! Der Sog des zurückflutenden Wassers hatte es angehoben und trieb es nun auf die Mauer zu. Wie riesige Fangzähne ragten die geborstenen Spannten aus dem Rumpf.

Alessandra spürte, wie Tormo den Ring losließ. Mit rudernden Bewegungen versuchte er, sie beide tiefer in die überflutete Mauernische zu retten. Der Schatten folgte ihnen. Dann gab es einen Stoß. Etwas hatte Alessandras Rücken gerammt. Sie wurde bis in den hintersten Winkel der Nische getrieben.

Tormos Finger glitten über die Wand und suchten nach einem Halt in den Mauerfugen. Das Wasser dämpfte alle Laute ringsum. Dennoch war das Knirschen ohrenbetäubend, als sich das Wrack quer vor die Mauernische legte. Eine vorkragende Spannte stieß dicht neben Alessandras Kopf gegen die Rückwand der Nische. Alles schien im Wasser träger und langsamer zu werden. Sogar die Zeit. Überdeutlich nahm die Walfängerin wahr, was um sie herum geschah. Der Augenblick neigte sein Haupt vor dem Grauen und dehnte sich in qualvolle Länge, damit Alessandra keines der Schreckensbilder entging.

Die Strömung ließ nach. Zwischen den Spannten des Wracks erkannte Alessandra eine Gestalt. Der Seeoffizier in dem prächtigen Küraß! Die Sturzwelle mußte seinen Leichnam aus den Trümmern an der Wand befreit haben. Seine Hose hatte sich im zersplitterten Holz des Schiffsrumpfs verfangen.

Er schien ihnen zu winken. Alessandra wußte, daß es die Strömung war, die seine Arme bewegte, und doch erschien es ihr wie ein Zeichen Gottes. Er rief sie!

Sie öffnete den Mund. Sie mußte nur einmal einatmen, und ihre Lungen würden sich mit Wasser füllen. Einen Augenblick lang zögerte sie. Etwas in ihr wehrte sich verzweifelt gegen diesen letzten erlösenden Atemzug.

Da preßte Tormo ihr die Lippen auf den Mund und hielt ihren Kopf umklammert. Warm berührte sein Atem ihren Gaumen. Er teilte das wenige, was ihm noch an Luft verblieben war, mit ihr.

Jetzt hielt er sie nur noch mit der Linken. Seine Rechte hatte irgendwo in den Fugen des Mauerwerks Halt gefunden. Er zerrte sie beide hoch. Von der Nische aus führte ein steiler Tunnel senkrecht nach oben.

Mit schier übermenschlicher Kraft zog der Hüne sie immer weiter. Der Tunnel war beklemmend eng, und kein Lichtstrahl durchbrach die Finsternis. Alessandra wurde schwindlig. Sie hatte keine Kraft mehr, sich an Tormo zu klammern. Doch er ließ sie nicht los.

Sein Kuß hatte ihr Leben um einige Herzschläge verlängert. Die Zeit, um zu begreifen, wie sehr er sie lieben mußte. Benommen blickte sie in die Tiefe. Unter ihr schnitt ein grünes Rechteck in die Finsternis. Jetzt begriff sie, wohin Tormo sie gebracht hatte. Es war keine Nische und auch kein Tunnel. Die Treppe hatte zu einem großen Kamin geführt, und sie befanden sich in dessen Rauchabzug.

Schwach hob sie noch einmal den Kopf. Über ihnen gab es kein Licht. Man hatte den Kamin schon vor Jahrzehnten vermauert, damit keine Feuchtigkeit in die Lagerhalle eindrang. Sie waren gefangen! Ertrunken in einem verschlossenen Schornstein. Welch ein Ende ...

Der Wahrträumer

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