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Die Lust des Greisen

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Im Haus des Guillamo im Fischerdorf Nantala, nur wenige Minuten zuvor

»Ich hab schon Fische gesehen, die hübscher waren als du alte Vettel!« Guillamo war wütend. Er hatte für Roxana einen alten Schuppen am Dorfrand gepachtet. Er mußte das nicht tun!

»Du kannst mich doch nicht einfach verstoßen!« Die Stimme seiner Frau überschlug sich. Sie stand vor der großen gemauerten Herdstelle in ihrer Küche.

»Sieh dir das alles noch einmal an«, höhnte der Älteste. »Heute ist der letzte Tag, an dem ich deinen Anblick in meinem Haus ertragen muß. Und untersteh dich, hier irgend etwas zu zerschlagen!« Er zog den Gürtel von seiner Hose und legte ihn vor sich auf den gedeckten Küchentisch. »Zur Not prügle ich dich aus dem Haus, wenn du noch weiter herumplärrst.«

»Bitte, Guillamo!« Roxana kniete nieder. »Bitte! Das kannst du doch nicht tun. Nach all den Jahren! Ich war dir immer eine treue Frau ... Wenn du eine andere ins Haus nehmen willst ... gut, das verstehe ich. Aber verstoß mich nicht. Dir schmeckte doch immer mein Essen. Ich koche für euch beide. So ein junges Ding weiß doch gar nicht, wie man einen Haushalt führt ...«

Lästiges Weib! Er hatte viel zu viele Jahre an sie vergeudet. Heute morgen war er bei pater Tomaso gewesen und hatte das Ehegelöbnis aufgelöst. Es war einfach gewesen. Eine Frau, die keine Kinder mehr gebären konnte, durfte man jederzeit verstoßen, um sich ein anderes Weib zu nehmen. Und wer hätte je von einem Weib mit einundfünfzig Sommern gehört, das noch Kinder bekam?

Als einzige Bedingung mußte man nachweisen, im Zweifelsfall reich genug zu sein, um zwei Frauen zu versorgen und der Kirche eine angemessene Spende zukommen zu lassen. Er hatte dem pater eines der Walölfässer überlassen, die er für Alessandra verwaltete.

Eigentlich hätten sie Alessandras Onkel Pietro zugestanden, doch das oktagon hatte diesen Säufer schon vor Jahren entmündigt. So lag es allein an ihm, die Güter des Mädchens zu verwalten.

Er hatte schon lange ein Auge auf Ira geworfen, die Tochter der Schankwirtin. Mit ihrer Mutter war er schnell handelseinig geworden. Rosalita hatte sich noch nie Argumenten widersetzt, die mit einer entsprechenden Summe untermauert wurden und noch mehr Geld in Aussicht stellten.

»Sie ist doch noch fast ein Kind!« keifte Roxana und kämpfte sich von den Knien hoch.

Guillamo betrachtete sie voller Ekel. Es war immer dasselbe mit ihr. Wenn sie mit Betteln nicht weiterkam, dann schrie sie, daß man es im ganzen Dorf hörte.

»Wie kannst du so etwas tun, du liederlicher Lump?«

»Sie ist im besten Alter, im Gegensatz zu dir, Knochensack«, entgegnete Guillamo kühl. »Pack deine Sachen! Und wenn du gehst, dann nimm deinen schwachsinnigen Sohn mit! Der kommt sonst noch auf falsche Gedanken, wenn eine junge Frau im Haus lebt.« Der Alte bedachte Tormo mit einem abfälligen Blick. Jahre um Jahre hatte er diesen nichtsnutzigen Tropf durchgefüttert. Jetzt stand er stumm hinter seiner Mutter. Außer für grobe Arbeiten war er zu nichts zu gebrauchen. Jeder im Dorf lachte über ihn.

»Ich werde im Dorf erzählen, was du mit Tormo gemacht hast, als er das Fieber hatte.«

Roxanas Gesicht war zu einer wütenden Grimasse verzerrt. Früher hatte Guillamo ihr Temperament geliebt. Es hatte ihr gut gestanden, wenn sie schimpfte und auf ihn einschlagen wollte. Und es hatte Spaß gemacht, sie danach zu nehmen. Aber jetzt ... »Jeder im Dorf wird sich fragen, warum du sieben Jahre lang geschwiegen hast. Immerhin bist du doch Tormos liebende Mutter! Weißt du, was geschehen wird, wenn du jetzt herumläufst und Geschichten über mich erzählst? Jetzt, da ich dich verstoßen habe, um ein jüngeres Weib zu nehmen? Keiner wird dir glauben. Und du weißt ja, wie man Verleumdungen bestraft.«

»Das tätest du nicht ...«, stammelte sie fassungslos.

»Das oktagon würde gewiß zustimmen«, fuhr Guillamo ungerührt fort. »Wenn du ihren Ältesten beleidigst, dann beleidigst du den ganzen Rat. Du kämst an den Pranger. Und solltest du die Verleumdungen danach noch einmal wiederholen, dann risse man dir die Zunge heraus.« Er lachte und blickte zu seinem mißratenen Sohn hinüber. »Ein schönes Paar gäbt ihr beiden ab, so ohne Zungen. Hm, Tormo, erzähl deiner Mutter doch einmal, wie das ist, wenn man die Zunge herausgerissen bekommt.«

Guillamo lachte und wollte nach dem Weinkrug vor sich auf dem Tisch greifen, hielt aber erschrocken mitten in der Bewegung inne. Der Krug bewegte sich zitternd auf die Tischkante zu. Gleichzeitig begannen die Zinnteller zu klappern, die Roxana über der Tür aufgehängt hatte. Pfannen und Schöpflöffel, die an Haken neben der Wand am Kamin hingen, schlugen klirrend aneinander, und aus dem Dachgebälk drang ein beunruhigendes Knirschen.

Guillamo sprang auf, so daß der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, über den Boden polterte. »Hinaus! Wir ...« Mit infernalischem Getöse barst der Deckenbalken. Strohbündel, Dachsparren und Ziegel prasselten wie Hagel in die Küche herab. Mit einem Satz war Guillamo unter dem Tisch.

Tormo beugte sich schützend über seine Mutter und zerrte sie zur Tür hinaus. Dieser undankbare Mistkerl! dachte Guillamo. Ihm, seinem Vater, sollte er hinaushelfen! So ein verfluchtes Unglück! Er würde seine Hochzeit verschieben müssen. Auf der anderen Seite ... Er hatte gestern erst einen größeren Posten Bauholz gekauft. Das könnte er jetzt vermutlich mit gutem Gewinn weiterverkaufen.

»Tormo! Hol deinen Vater hier heraus!« Wenn dem Jungen die Dachsparren in den Rücken schlügen, sollte ihm das nicht viel ausmachen. Er hatte ein breites Kreuz und war Prügel gewohnt. Er hingegen konnte es sich nicht leisten, etwas abzubekommen. Seine Knochen waren empfindlich geworden ...

»Tormo, mein Junge, komm schon!« Ängstlich spähte er unter dem Tisch hervor. Die Rückwand der Küche war bereits halb eingestürzt.

Guillamo verdrehte den Kopf, um besser nach oben sehen zu können. Die Erde zitterte jetzt nicht mehr so stark. Es fielen nur noch vereinzelt Schindeln von der Decke.

Vorsichtig kroch Guillamo ein Stück unter dem Tisch hervor. Jetzt sah er den schweren Dachbalken. Der wippte bedenklich auf dem halb eingestürzten Giebel. Mörtel bröckelte zwischen den Mauersteinen hervor, die den Balken noch hielten. Wenn er stürzte, würde er den Rest des in höchstem Maße beschädigten Daches mit sich reißen.

Guillamo blickte zu Tür. Sie lag genau unterhalb des Giebels. »Tormo, lieber Junge! Komm, hol deinen alten Vater hier heraus.« Er wagte es nicht, einfach loszulaufen. Obgleich ... Wenn er es schaffte, sich durch das enge Fenster zu zwängen, das sich an der Längswand befind ... Ein ohrenbetäubendes Krachen beendete seine Fluchtgedanken. Wie eine ängstliche Maus in ihr Loch, so fuhr Guillamo unter den Tisch zurück. Es war mehr ein Reflex als eine bewußte Handlung. Im selben Augenblick wurde ihm bewußt, welchen Fehler er begangen hatte. Der Eßtisch stand in der Mitte des Raumes, genau unter dem Deckenbalken.

Mit mörderischer Wucht schlug der Balken auf der Platte auf. Guillamo rollte sich zur Seite und stieß gegen die Tischbeine. Die große Eichenplatte zersplitterte. Eine Hälfte schlug ihm gegen die Brust. Er hörte ein sprödes, knackendes Geräusch. Ein betäubender Schmerz breitete sich in seiner Brust aus und raubte ihm den Atem. Dann rutschte der Balken nach und nagelte ihn am Boden fest.

Ohne Hoffnung unternahm Guillamo einen halbherzigen Versuch, den Dachbalken zur Seite zu bewegen. Es war aussichtslos. Jeder Atemzug versetzte ihm einen scharfen Stich in die linke Seite. Wahrscheinlich hatte er sich eine Rippe gebrochen.

»Tormo, Junge ...« Guillamos Stimme hatte kaum noch Kraft. Auch das Rufen schmerzte. Eine einzelne Dachpfanne schlug neben ihm auf dem Boden auf. Ziegelsplitter trafen ihn im Gesicht. Er blinzelte. Feiner Staub war ihm in die Augen geraten.

Plötzlich ragte ein Schatten über ihm auf. »Tormo?«

Es mußte sein Sohn sein. Niemand sonst im Dorf war so groß und breitschultrig. Welch ein Harpunier hätte sein Junge werden können! Ware nur damals die Sache mit dem Fieber nicht gewesen. Warum hatte es nur ihn befallen, seinen Jungen?

Guillamo blinzelte sich den Staub aus den Augen. Ja, es war Tormo, der Verblödete!

»Los, Junge ... der Balken.«

Tormo stand einfach nur breitbeinig über ihm, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Bist du mir böse, Junge? Hol mich hier heraus, dann können wir über alles reden.« Sein Atem ging pfeifend. Die Stiche in der linken Seite wurden schlimmer. »Komm, du kannst den Balken heben. Ich weiß es ... Niemand im Dorf ist so stark wie du.«

Tormo griff sich an das ausgerissene Ohrläppchen. Er rieb es zwischen Daumen und Zeigefinger, bis die Kruste abbröckelte und ein hellroter Blutstropfen hervortrat.

Was tut dieser Verrückte? dachte Guillamo. War es wegen der Maus? Warum hatte ihn der Abwesende nur mit einem solchen Sohn gestraft?

Endlich beugte sich Tormo vor. Er stellte sich über den Balken. Seine großen Hände umklammerten das gesplitterte Holz. Guillamo beobachtete, wie sich die gewaltigen Muskeln seines Sohnes spannten. Dicke Adern traten an seinem Hals hervor. Endlich bewegte sich der Balken!

Guillamo konnte ein wenig freier atmen, doch noch immer brannte der Schmerz in der linken Brusthälfte. Auch sein Arm war wie taub. Er konnte ihn nicht mehr bewegen. Doch das käme schon wieder in Ordnung. Hauptsache, er würde erst einmal befreit.

Tormo hielt noch immer den Balken umklammert. Mit einer ungelenken Bewegung der Füße trat er die Tischplatte zur Seite, die über Guillamos Brust lag und die Wucht des herabstürzenden Balkens abgebremst hatte.

»Vorsicht, Junge ... Ich krieche unter dein Balken hindurch. Nur einen Augenblick noch.«

Tormo setzte ihm den Fuß auf den linken Arm und drückte ihn gegen den Boden.

»Vorsicht, du Tölpel, du ...«

Der Junge schüttelte den Kopf. Ihm standen Tränen in den Augen. Wie rührend! Er hatte Angst um ihn! »Ich komme frei ... Es wird alles wieder gut. Wir sind doch eine Familie.«

Wieder schüttelte der Hüne den Kopf. Er schluchzte. Seine Tränen tropften Guillamo ins Gesicht. Verrückt! Vollkommen verrückt war dieser ...

Mit tödlicher Wucht schlug ihm der Deckenbalken auf die Brust. Fassungslos starrte Guillamo seinen Sohn an. Er versuchte zu atmen. Etwas Warmes lief ihm den Rücken hinab. Er spürte keine Schmerzen mehr. Nur das Atmen wurde immer beschwerlicher. Keuchend rang er um Luft. Die Lungen schienen mit jedem Atemzug kleiner zu werden. Er hechelte wie ein Hund. Doch das nutzte nichts. Es war, als hätte sich eine riesige Faust um seine Brust geschlossen, um das Leben aus ihm herauszupressen. Ganz so, wie er hin und wieder Tormos Mäuse zerquetscht hatte, um den Jungen zu bestrafen.

Guillamo streckte den Kopf hoch und riß den Mund so weit auf, wie es ihm nur möglich war. Doch er konnte nicht mehr atmen. Er preßte sich an den Balken. Kämpfte wild mit dem Tod. Doch was er auch tat, er konnte nicht mehr einatmen. Die Kräfte verließen ihn. Er sank zurück und starrte mit weit aufgerissenen Augen zum Himmel hinauf.

Tormo stand noch immer über ihn gebeugt und weinte.

Der Wahrträumer

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