Читать книгу Der Wahrträumer - Бернхард Хеннен - Страница 17
Flut
ОглавлениеAuf dem Agavenhügel südlich von Nantala, wenig später
Alessandra erwachte mit stechenden Kopfschmerzen. Sie waren wie beständige Meeresbrandung, der Schmerz wurde stärker, ebbte einen Herzschlag lang ab und kam dann noch heftiger als zuvor zurück.
Etwas zupfte an ihrer Schulter. Auch dort klopfte ein beständiger dumpfer Schmerz. Ob sie Wundbrand bekommen hatte?
Wieder das Zupfen an der schmerzenden Schulter.
»Joh.« Sie hatte Angst davor, die Augen zu öffnen. Gern hätte sie es noch etwas hinausgezögert. Die Schmerzen waren jetzt schon schlimm genug. Sie wußte, daß das Licht ihr nicht guttäte.
Wieder das Zupfen. Energisch, schmerzhaft. Sie mußte auch an der Schulter verletzt sein.
»Joh!« Sie drehte sich um, blinzelte und blickte in die gelben Augen einer Rotkopfmöwe. Etwas Blutiges hing ihr aus dem Schnabel. Ein Stoffetzen ihrer Jacke!
»Verdemmtes Vieh!« Die Möwe hüpfte ein Stückchen fort, ließ ihr Opfer aber nicht aus den Augen.
»If bin nuch keen Aas!« Alessandra setzte sich ruckartig auf. Jetzt traf sie blendend das Sonnenlicht im Gesicht. Sie schloß die Augen. Sie hatte es gewußt. Es fühlte sich an, als wolle ihr Kopf von innen heraus zerplatzen. Sie mußte von diesem Hügel fortkommen und aus der Sonne heraus.
Stöhnend stand sie auf. Es war nur noch ein kleines Stück bis zur Hügelkuppe. Vielleicht sah man sie dort vom Dorf aus. Ganz gleich, was man mit ihr anstellen mochte, nichts konnte schlimmer sein als diese bohrenden Kopfschmerzen.
Schwer auf die Harpune gestützt, schleppte sie sich Schritt um Schritt vorwärts. Nur hin und wieder öffnete sie die Augen für ein kurzes Blinzeln, um sich das nächste Stück Weg einzuprägen.
Sie hatte Angst, erneut zu straucheln. Wenn sie noch einmal ohnmächtig würde und in der Hitze liegenbliebe, würde sie nicht mehr erwachen.
Endlich sah sie für einen kurzen Augenblick das Meer. Noch zehn Schritte. Wieder stach ihr das Licht in die Augen und bohrte sich glühenden Dolchen gleich tief in ihren Kopf Aber sie hatte die Riffe erblicken dürfen, die eine halbe Meile vor der Hafeneinfahrt lagen. War denn schon Ebbe? Hatten zweieinhalb Tage gereicht, um ihr das Gefühl für den Rhythmus der Gezeiten zu nehmen?
Noch fünf Schritte. Beinahe wäre sie gestolpert. Ihr Herz schlug schneller. Sie war fast wieder zu Hause. Drei Schritte. Von hier aus müßte sie das Dach des großen Lagerhauses der Harpuniere sehen! Trotz der Kopfschmerzen schloß sie die Augen nicht. Endlich stand sie auf dem Hügelkamm.
Nantala! Was war nur mit ihrem Dorf geschehen? Die Hälfte der Häuser war eingestürzt. Die Menschen irrten über das Trümmerfeld und suchten nach Überlebenden. Auf dem Marktplatz lagen Tote und Verletzte, die man aus den Ruinen geborgen hatte. Das Dach des Lagerhauses war zur Hälfte eingestürzt, doch seine mächtigen Mauern hatten der Vernichtung getrotzt. Einen Herzschlag lang dachte Alessandra an ihre Walölfässer, die dort lagern mußten, und ob sie wohl von den herabstürzenden Balken zerschlagen worden seien. Dann schämte sie sich, angesichts des Unglücks so eigennützigen Gedanken zu folgen.
Aus den Ruinen der Schenke loderten Flammen. Auch bei den Bootsschuppen war ein Feuer ausgebrochen. Plötzlich mußte Alessandra die Augen schließen. Zu stark war der nagende Schmerz. Sie erinnerte sich an den Erdstoß, der sie von den Beinen gerissen hatte. Ein Beben ... Wind zerrte an ihrer Kleidung. Sie blinzelte. Eine Sturmbö zerpflückte die Rauchschwaden zwischen den Ruinen. Und dann floh das Wasser! Fassungslos blickte Alessandra auf das Schauspiel im Hafen. Sie hatte Stürme erlebt, deren Wüten die Fischerboote an den Kais zerschlug. Wellen, die sich mit solcher Wucht an den Hafenmolen brachen, daß Gischt wie Regen auf die Dächer der Häuser prasselte. Doch das ... das Wasser floß einfach zurück. Nicht wie bei der Ebbe. Nein, es wurde mit solcher Kraft aufs Meer hinausgezogen, wie es sonst im Sturm gegen die Ufer anbrandete.
Binnen weniger Augenblicke lag das Hafenbecken trocken. Die Fischerboote kauerten auf dem kiesigen Grund oder hingen fest vertäut auf groteske Weise von der Hafenmole herab.
Bis hinter den Horizont war das Meer geflohen! Wo die See sich ausbreiten sollte, erstreckte sich plötzlich eine Ebene, durchsetzt von Prielen und Rinnsalen.
Alessandra schlug mit zitternder Hand das Zeichen des Gottessterns. Das Ende der Welt war gekommen! Sie sank auf die Knie, um zu beten. Den Schmerz im Arm spürte sie nicht mehr. Ein Zittern durchlief den ganzen Körper. Das alles war ihr Werk! Sie hatte sich gegen den Willen Gottes aufgelehnt, und nun traf sein Strafgericht das Dorf! Sollte doch ein Blitz vorn Himmel herabfahren, um sie zu töten!
Wie als Antwort erklang ein dumpfes Grollen vom Horizont. Eine weiße Linie erschien und wuchs schnell an. Sie kniff die Augen zusammen, um gegen das grelle Sonnenlicht besser sehen zu können. Die Seehundklippen, die gut drei Meilen vor dem Hafen lagen, verschwanden in der weißen Linie. Sie ragten sonst immer nahezu dreißig Schritt aus dem Meeresspiegel heraus, doch die Todeswelle fegte über sie hinweg, als wären sie nichts als ein paar Felsbrocken am Strand.
Alessandra wollte aufspringen und die Überlebenden im Dorf warnen, doch die Glieder versagten ihr den Dienst. Sie zuckten und zitterten, als hätte die Faust eines unsichtbaren Riesen sie ergriffen, um sie durchzuschütteln.
Jetzt hatte man auch im Dorf die Welle gesehen. Manche waren vor Entsetzen gelähmt wie Alessandra. Andere rannten einfach los. Eine dicke Frau lenkte einen flachen Heuwagen auf den Marktplatz. Sie sprang vom Kutschbock und zerrte ein Mädchen auf die Pritsche. Rosalita? Dann hob sie einen alten Mann auf.
Alessandra schrie. Der Wagen mußte weg. Die Welle raste schnell wie ein Pfeil auf das Dorf zu.
Niemand hörte die Walfängerin. Ihr Schrei wurde von der Maske verzerrt, und das Fauchen der Welle verschlang ohnehin jedes andere Geräusch.
Endlich hatte das dicke Weib begriffen, wie nahe ihr der Tod war. Sie sprang auf den Kutschbock zurück und trieb die Pferde an.
Einige wenige, die sich am Rand des Dorfes befunden hatten, waren nun schon fast bis zum Fuß des Hügels gelangt.
Tormo war unter ihnen und auch pater Tomaso! Der Hüne trug eine alte Frau in einem schwarzen Kleid auf den Armen.
Die Flutwelle traf die Riffe, die wenige hundert Schritt vor der Einfahrt zum Hafen lagen. Sie war nun so nahe, daß die Sturmbö, die ihr vorauseilte, schon feine Gischttropfen bis herauf zum Agavenhügel trug.
Das Pferdegespann erreichte den Ausgang des Dorfes. Ein Mann versuchte auf die Pritsche zu springen und geriet unter die eisenbeschlagenen schweren Räder. Jetzt erkannte Alessandra die dicke Frau. Es war Rosalita, die Schankwirtin.
Die Welle traf auf die Kais. Die Bootsschuppen zerbarsten. Die Walfängerin spürte die Erde unter ihren Füßen erzittern. Sie wollte die Augen schließen und einfach warten, bis das Meer sie holte. Doch als stünde sie unter einem Zauberbann, vermochte sie den Blick nicht abzuwenden.
Pater Tomaso war ein Stück zurückgelaufen, um Rocco, dem Sohn des Böttchers, zu helfen, der hinkte und sich kaum auf den Beinen halten konnte.
Die Welle hatte das ganze Dorf verschlungen. Rosalita stand weit vorgebeugt auf dem Kutschbock und schwang die Peitsche Tiber den Köpfen der Kaltblüter, als die weiße Wasserwand sie verschluckte.
Schneller als ein Falke im Sturzflug schossen gierige Gischtfinger den Hügel herauf. Tomaso und Rocco verschwanden ... Etwas Dunkles schoß aus der Todeswelle hervor und wurde vom Wasser wie ein titanischer Pflug durch das Agavenfeld geschoben. Alessandra erkannte einen goldschimmernden Delphin, und es schien, als wolle er geradewegs auf sie zukommen. Taumelnd erhob sie sich auf die Beine und wich zurück, als sie erkannte, was das Meer ausgespien hatte. Eine Galeere. Der Delphin war nichts als eine vergoldete Galionsfigur.
Langsam verlor die Welle an Gewalt. Doch über der Stelle, an der einmal Nantala gelegen hatte, erhob sich schon ein neuer Gischtkamm, und auf der See rollten weitere Wogen heran.
Die schäumenden Finger der ersten Welle glitten den Hügel hinab und nahmen alles mit sich, was nicht fest mit denn Boden verwachsen war.
Eine schwankende, hohe Gestalt erschien zwischen den blaßgrünen Agaven. Tormo! Er hielt noch immer seine Mutter in den Armen. Behutsam setzte er sie am Wegrand ab. Er blickte nicht zurück zum Dorf. Inmitten all des Schreckens strahlte er eine seltsame Ruhe aus. Mit weit geöffneten Armen schritt er Alessandra entgegen.
Die weiteren Wellen, die anbrandeten, reichten kaum noch bis zum Wrack der Galeere. Die Macht des Meeres schien vorerst gebrochen.