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Das Schwert des Imperiums
ОглавлениеAcht Meilen nördlich des Kaps der Türme, am 17. Tag des Hitzemondes, im 458. Jahr der Abwesenheit Gottes
Arcimbaldo da Gona stützte sich schwer auf die Reling des gewaltigen Kriegsschiffes Invictus und blickte nach Süden. Zwei dünne weiße Rauchfäden zogen über den blauen Himmel, doch das Licht, tausendmal heller als der Morgenstern, war vom Firmament verschwunden. Die Himmelserscheinungen der letzten Tage hatten viele seiner Offiziere beunruhigt, doch er sah darin ein gutes Omen für den bevorstehenden Angriff. Aionar, der Abwesende Gott, schrieb ihm eine Grußbotschaft an den Himmel! So war es und nicht anders!
Was sollten sie auch zu fürchten haben? Stolz blickte er über das lange, schmale Deck des Flaggschiffs. Die Invictus war die mächtigste Galeere der merkantilischen Flotte. Drei Reihen Ruder trieben den Giganten vorwärts.
Die Invictus war eine Decemreme. Ein solches Schiff zu bauen, dauerte fast ein Jahr, und es im Einsatz mit allem Nötigen zu versorgen, war eine Herausforderung für jeden Hafenmeister. Doch dafür waren Decemremen Waffen, denen nichts zu widerstehen vermochte. Nicht einmal die schwerfälligen großen Segler der Kataueken! Decemremen waren lange, schlanke Schiffe, angetrieben von sechshundert Rudern. Bestückt mit sieben doppelt mannshohen Kampftürmen, in denen zwölf Geschütze untergebracht waren, brauchten die Invictus und ihre Schwesterschiffe keinen Gegner zu fürchten. Sein Blick wanderte über die gewaltige Flotte, die durch die See pflügte. Tausende Ruder wühlten das Wasser auf und hinterließen lange Gischtspuren hinter den Rümpfen der Schlachtschiffe. Nie zuvor hatte es eine solche Flotte gegeben!
Der unterarmlange Stab aus Elfenbein und Gold, den Arcimbaldo seit Tagen kaum aus den Händen gelegt hatte, kratzte leise über das polierte Holz der Reling. Es war der Stab des praefectus classis, des Oberkommandierenden der Kriegsflotte des merkantilischen Imperiums.
Voller Stolz dachte Arcimbaldo an jenen Nachmittag in Maganta, als er vor drei Wochen von den versammelten mercatoren zum Oberbefehlshaber aller Seekräfte berufen worden war. Zwanzig Jahre lang hatte er auf diesen Augenblick hingearbeitet. Er hatte zweimal Frauen geheiratet, für die er nichts empfand, und sein Vermögen für Geschenke an einflußreiche mercatoren verschleudert, um diese Position zu erreichen. Seinen Sohn Octavio hatte er mit eigener Hand wegen Feigheit vor dem Feind gerichtet, um sich einen Ruf als unbeugsamer Verfechter der alten Tugenden des Imperiums zu schaffen. Ein bitteres Lächeln zuckte um Arcimbaldos schmale Lippen. Auf diese Weise war ihm der Tunichtgut wenigstens ein einziges Mal in seinem Leben nützlich gewesen.
Arcimbaldo war ein stämmiger, mittelgroßer Mann in leicht vorgerücktem Alter. Sein Haar war eisgrau und immer noch so dicht wie bei einem jungen Mann, was ihn insgeheim mit Stolz erfüllte. Das auffallendste Merkmal in seinem breiten, flächigen Gesicht bildeten die ausgeprägten, buschigen Augenbrauen, die über der Nasenwurzel zusammengewachsen waren. Die vielen Jahre auf See hatten seine Haut gebräunt. Die Mundwinkel und Augen waren mit einem Gespinst von Falten umgeben, die zeigten, daß der praefectus classis kein Mann war, der häufig lachte. Für ihn war der Kampf um die Macht niemals ein amüsantes Spiel gewesen, und niemand, der Arcimbaldo sah, wäre im entferntesten auf den Gedanken gekommen, daß er ein Mann war, mit dem zu spaßen war.
Obwohl noch keine kriegerischen Auseinandersetzungen zu erwarten waren, stand Arcimbaldo in voller Kampfausrüstung auf dem Achterdeck. Er trug einen geschwärzten Küraß, den das silberne Bild des Heiligen Malachias schmückte, jenes verdienstreichen Mannes, der während des Götzenkrieges Belabadangbarad missionierte und damit mehr Land in das alte Reich eingliederte als irgendein anderer Feldherr. Arcimbaldo verehrte diesen kriegerischen Heiligen seit frühester Jugend und war entschlossen, ihn zu übertreffen.
Unter der Brustplatte trug der praefectus classis ein leichtes weißes Wams mit geschlitzten Ärmeln, dazu eine weit gebauschte rote Hose und kniehohe Stiefel aus feinstem Wildleder. Um die Hüften hatte er eine breite purpurne Schärpe gewickelt, die mit goldenen Troddeln geschmückt war, dem Kennzeichen eines Oberkommandierenden. Zusätzlich war er mit einem abgetragenen braunen Wehrgehänge gegürtet, von dem ein schmuckloses Stoßrapier hing, das ihm bereits in etlichen Kämpfen gute Dienste geleistet hatte.
Der praefectus classis entstammte einer der großen Kaufmannsfamilien des Imperiums. Seit dreihundertvierundsechzig Jahren gehörte seine Sippe zu den mercatoren, dem großen Rat, der von Maganta aus das Schicksal des Reiches lenkte. Nur Handelshäuser, die nachweislich einen Gewinn von zehntausend Goldstücken im Jahr erwirtschafteten, durften einen mercator stellen. Das Haus da Gona gehörte zu den wenigen Familien, die seit ihrer ersten Benennung ohne Unterbrechung im Rat der mercatoren geblieben waren. Heute besaß seine Familie Handelsniederlassungen im ganzen Imperium, und Arcimbaldo gehörte der camera secreta an, dem Inneren Zirkel der camera magna. Seine Sippe konnte nur noch expandieren, wenn das Imperium einen Krieg führte.
Selbstzufrieden stand der praefectus classis an der Reling, und sein Blick glitt über die Flotte, die weit aufgefächert die Jaguarinseln passierte. Seine Flotte! Die mercatoren hatten ihm die mächtigste Waffe in die Hände gelegt, die es auf Ajuna gab. Und ganz allein er entschied nun, wie sie zu führen war.
Zwei Jahre lang hatten die mercatoren in ihren Versammlungen gegen die Naomit gewettert, ein Eingeborenenvolk an der Ostküste von Esanuk, das mehrere imperiale Handelsposten niedergebrannt hatte. Man hatte eine Strafexpedition ausgeschickt, die spurlos verschwand, was den Zorn gegen die Barbaren noch mehr anfachte.
Doch die Aufregung über die Naomit war nur Spiegelfechterei gewesen, eine von langer Hand vorbereitete Kriegslist der camera secreta. Immer wieder hatte sie durch Winkelzüge erreicht, daß man hei den Versammlungen der mercatoren über ein Flottenunternehmen gegen die Naomit beriet.
Vor vier Wochen hatte man dann Depeschen an die großen Kriegshäfen des Reiches verschickt, die jeden praefectus navigius davon überzeugten, daß allein seine Schiffe für den Einsatz gegen die Naomit ausgewählt worden seien. Die Flottenkommandeure erhielten Befehl, sich mit ihren Verbänden bis zum 15. Tag des Hitzemondes dreißig Meilen östlich des Kaps der Türme einzufinden und ihre Vorkehrungen dazu unter strengster Geheimhaltung zu treffen. Dies alles hatte man eingefädelt, um die Spitzel der Ehernen Liga zu täuschen. Was wirklich geschehen sollte, wußte selbst die Mehrzahl der mercatoren nicht.
Die praefecten der einzelnen Flottillen waren im guten Glauben aufgebrochen, daß ihnen allein die Ehre zuteil würde, den Naomit Respekt vor dem Imperium beizubringen. Doch die camera secreta, der nur die Patriarchen der zwölf einflußreichsten Mercatorenfamilien angehörten, hatte in Wahrheit längst ein anderes Ziel für den Angriff vorgesehen: die Eherne Liga, den einzigen ernstzunehmenden Rivalen des Imperiums im Kampf um die Macht auf Ajuna. Dazu waren die zweihundertsiebenunddreißig Kriegsgaleeren aller Klassen und die Fünfhundertzwölf Transporter und Versorgungsschiffe aufgeboten worden, die nun die Jaguarinseln passierten und Kurs auf die Stadtstaaten und Fürstentümer nahmen, die sich in der Ehernen Liga zusammengeschlossen hatten. An Bord der Schiffe befanden sich mehr als dreißigtausend Seesoldaten sowie über achtzigtausend Ruderer und Matrosen.
Sie würden wie ein Feuersturm über die Liga herfallen. Er, Arcimbaldo da Gona, würde den hochmütigen Fürsten dieses Bündnisses zeigen, was es hieß, gegen die Handelsgesetze des Imperiums zu verstoßen. Sein erstes Ziel war Andhakleia, die Königsstadt von Kurjameos. Dort hatte die Rebellion gegen das Imperium einst ihren Anfang genommen, und hier würde er damit beginnen, das Übel auszubrennen.
Der praefectus classis malte sich aus, wie er Mahatargos III., den Herrscher von Kurjameos, mit den mächtigen goldenen Ketten, die er aus der Ratskirche Magantas mitgenommen hatte, an die Kais von Andhakleia fesseln ließe. Seit den Tagen der Fleischwerdung Aionars hatte man sie nicht mehr benutzt, um Könige hinzurichten.
Neben diesem Rebellenschurken Mahatargos würden in Ketten seine sämtlichen Weiber, Kinder, Satrapen und Würdenträger stehen. Und wenn die Flut käme, dann würde das steigende Wasser sie alle ertränken.
Es hieß, Mahatargos sei ein hochgewachsener Mann. Das war gut so! So bliebe ihm Zeit, um zuzusehen, wie seine Weiber und seine Brut ertränken. Er sähe sein Königreich untergehen ... Arcimbaldo lächelte selbstgefällig über das Wortspiel. Nach zweihundert Jahren des langsamen Zerfalls würde dieser Krieg endlich wieder die Vormacht des merkantilischen Imperiums herstellen!
Andhakleia mußte fallen, noch bevor der Monsun einsetzte. Der Hafen war groß genug, um die Invasionsflotte aufzunehmen. Man würde dort die Regenmonde über vor Anker bleiben und das umliegende Land befrieden. Bis zum Schwemmond sollten auch die Landtruppen, die von Norden her in Kurjameos einfielen, zur Königsstadt durchgebrochen sein. Dann würden Armee und Flotte gemeinsam nach Süden vorstoßen, um die übrigen Staaten der Liga zu zerschmettern.
Arcimbaldo blickte zum Himmel. Ein dünner Rauchfaden schnitt durch das Blau. Wieder eine Sternschnuppe. Ein gutes Omen! Vielleicht würde die Armee ihr Ziel nicht rechtzeitig erreichen. Dann würde die Flotte ohne die Armee aufbrechen und den Ruhm für sich allein ernten. Wenn der Feldzug beendet wäre, würde man ihm einen Ehrennamen verleihen. Er wußte schon jetzt, welchen Titel er fordern würde. Der Städtezerstörer! Das klang ehrfurchtgebietend!
Während der Regenmonde würden sich die Dschungelstraßen in Schlammbäche verwandeln, und gewiß würden einige unbelehrbare Satrapen, die ihrem König auch über den Tod hinaus die Treue hielten, verbissenen Widerstand leisten. Die Armee würde es schwer haben, sich in zwei Monden bis nach Andhakleia durchzukämpfen. Doch die Landstreitkräfte spielten in den Plänen der camera secreta eine untergeordnete Rolle, denn das Schwert des Imperiums war seine Flotte!
Schmunzelnd dachte Arcimbaldo an seinen jüngsten Bruder Joacino. Der Tor hatte sich stets zu begreifen geweigert, welche Bedeutung der Flotte zukam. Als einziger in der ganzen Familie hatte er eine Laufbahn im Heer angestrebt. Dies bedauerte er jetzt gewiß. Zur Stunde marschierte er wahrscheinlich irgendwo neben den Kolonnen der Safran-turmae nach Süden und schluckte den Staub, den Tausende von Füßen aufgewirbelt hatten. Sich zum Heer zu melden – welch absurder Einfall!
Der praefectus wandte sich dem bärtigen trierarchen zu, der schräg hinter ihm stand und das mehr als hundert Schritt lange Deck der Decemreme mit seinen sieben Kampftürmen wachsam im Blick behielt.
Arcimbaldo deutete mit seinem Kommandostab zum südlichen Horizont. »Ich sehe das Kap der Türme. Wir müssen den Kurs korrigieren.«
Der trierarch nickte knapp und bellte einen Befehl. Signalflaggen wurden am Fahnenmast im Heck aufgezogen. Boten liefen vom Achterdeck zu den befehlshabenden Offizieren auf den beiden Ruderdecks. Wenige Augenblicke später änderte sich der Rhythmus der mächtigen Kesselpauken im Schiffsrumpf. Die Ruder auf der Steuerbordseite der riesigen Galeere glitten aus dem Wasser und verharrten bewegungslos, während die Rudermannschaften backbord weiter im langsamen Rhythmus der Pauken arbeiteten. Der schwere Rumpf des Schiffes schwenkte auf nordwestlichen Kurs.
Arcimbaldo beobachtete kritisch, wie die übrigen Decemremen und die kleineren Kampfschiffe das Manöver vollzogen und sich die gewaltige Armada aus der Sichtweite der Küste wegbewegte. Eine leichte Brise machte die drückende Hitze des Nachmittags erträglich und strich nun erfrischend längs über das Deck des Flaggschiffs.
»Würdest du dem nichtswürdigen Sohn des Mo Zi bitte den Gazellenschweif reichen, Dudong?« Der Kataueke vollzog eine Geste sorgsam einstudierter Arroganz in Richtung seines Leibdieners. »Die strengen Ausdünstungen der ajunäischen Seeleute beleidigen meine Nase und stören mich in der Ausübung meines Amtes.«
Arcimbaldos breite, behaarte Hände schlossen sich fester um den Ehrenstab. Er wünschte, der parfümierte katauekische Höfling hätte niemals seinen Fuß auf das Flaggschiff gesetzt, doch dieser nach süßlichen Blütenessenzen duftende Blutsäufer hatte darauf bestanden, an der Seite des praefectus classis zu sein. Sein hochnäsiger Gast war ein wichtiger Gesandter vom Hof des Kaisers von Katau, der die Ausrüstung der merkantilischen Kriegsflotte mitfinanziert hatte.
Die Kataueken waren ein seltsames, kleinwüchsiges Volk, das auf einem Kontinent jenseits des Ozeans des Abends lebte. Kein Ajunäer, den Arcimbaldo kannte, hatte jemals das Land der Kataueken mit eigenen Augen gesehen. Reich der Tugend nannten sie es stolz. Unzählige Gerüchte waren über dieses unbekannte Land im Umlauf. Man mußte Tuwua nur ansehen, um den Geschichten über den sagenhaften Reichtum der Kataueken zu glauben. Er trug einen langen roten Seidenmantel, auf den in schillernden Farben ein Fisch aufgestickt war. Das Gewand allein war soviel wert wie ein kleines Segelboot. Und dieser gelbhäutige Wicht besaß etliche dieser Kleidungsstücke.
Arcimbaldo wäre es niemals eingefallen, soviel Gold für Garderobe zu verschwenden. Gewiß, man mußte sich seinem Stand entsprechend kleiden, doch ein solcher Aufwand ...
Jedes Jahr nach dem Fest der Segel erreichten die Kataueken mit ihren Handelsflotten das merkantilische Imperium. Sie kamen in großen Schiffen, die sie bunt bemalt hatten und die hoch wie Türme aus dem Wasser ragten. Die Vordersteven waren mit geschnitzten Vogelköpfen geschmückt. Zwei große Ausleger stabilisierten die flachgehenden Schiffe, und ihre Segel öffneten sich wie Fächer zu beiden Seiten des Decks. Doch nicht die verrückten Schiffe waren das eigentliche Geheimnis dieses Volkes.
Es waren die merkwürdigen Glasplatten, die ihre Nautiker benutzten. Mit deren Hilfe verloren die Segler niemals die Richtung auf den endlosen Wasserwüsten des Ozeans, und es hieß, daß sie über Tausende von Meilen ohne die geringste Hilfe durch Sterne oder Landmarken ihren Zielhafen zu finden vermochten. Im übrigen waren die Kataueken Verbündete im Kampf gegen die Eherne Liga, und deshalb verhielt sich Arcimbaldo dem kleinen Nautiker gegenüber freundlich, der sich immer wieder aufführte, als sei dies seine Kommandobrücke.
Bisher hatte der Gesandte vorgegeben, der lingua dei, der Sprache der Gebildeten und der Priesterschaft in Ajuna, nicht mächtig zu sein. Mit seiner Bemerkung über den Gestank, der nun einmal zu den Galeeren gehörte wie ihre Ruder, bewies er allen Offizieren auf der Brücke, daß er sehr wohl verstand, was um ihn herum gesprochen wurde.
»Ich hoffe, die Umstände der Reise sind dem ehrenwerten Herrn der zweiten Kammer der Nautik, Tuwua näng Düeng, nicht allzu unangenehm.« Arcimbaldo hatte sein ganzes Leben unter verschlagenen Handelsherren und ehrgeizigen Seeoffizieren verbracht, und so war seiner Stimme nicht anzumerken, daß er den katauekischen Kammerherrn am liebsten hochkant über Bord geworfen hätte.
»Man hatte mich gewarnt, daß allen Schiffe von Euch Langnasen der Atem selten geleerter Latrinen anhafte. Auch erscheint es mir wie ein Einfall während eines Traumpfeifenrauschs, ein Schiff von der Kraft von tausend Männern antreiben zu lassen, statt den Wind einzufangen und mit ihm zu reisen.« Der Kammerherr wedelte mit dem Schweif aus parfümiertem Gazellenhaar, und ein geradezu übelkeiterregender süßlicher Duft stieg Arcimbaldo in die Nase. Die Parfüme der Kataueken waren berüchtigt.
Der praefectus sah aus den Augenwinkeln, wie sich die Halsmuskeln des trierarchen spannten. Der Mann entstammte keiner der großen Familien und hatte offensichtlich nicht von klein auf gelernt, sich zu beherrschen. Die Kataueken waren Handelspartner, die über unschätzbare Reichtümer verfügten. Einen ihrer Würdenträger zu beleidigen, hätte geheißen, den eigenen Ruin zu besiegeln.
»In diesen Gewässern gibt es unberechenbare Strömungen und plötzliche Flauten. Es ist besser, das Schicksal eines Schiffs nicht allein dem Wind anzuvertrauen. Im übrigen wird eine Decemreme durch die Kraft von eintausendsechshundert Männern angetrieben. Des weiteren befinden sich achthundert Seesoldaten an Bord. Unsere Flotte gebietet über sieben dieser Schiffe, doch unser Schiff, die Invictus, ist das mächtigste. Trotzdem hat keines dieser Schiffe einen Tiefgang von mehr als drei Schritt. Ein nicht zu unterschätzender Vorzug, wenn man in so trügerischen Gewässern wie den Jaguarinseln navigiert.« Arcimbaldo sprach in beiläufigem Plauderton. Er ließ sich von diesem aufgeblasenen katauekischen Wichtigtuer doch nicht aus der Fassung bringen! »Ich fürchte, für die großen Nauken Eurer Flotten sind dies sehr gefährliche Gewässer.«
Tuwua hielt den Blick auf die merkwürdige Glasplatte gerichtet, die vor ihm auf einem Pult lag. Sein Volk benutzte diese Platten, um zu navigieren, und machte ein großes Getue darum. Arcimbaldo schmunzelte. Genaugenommen machten Kataueken um alles, was sie taten, ein großes Aufheben.
»Der ehrenwerte praefectus classis möge mir meine Schweigsamkeit vergehen, doch es ist mir nicht gestattet, mit freier Zunge von jenen Schiffen zu sprechen, die es erlauben, auch weitab der Küsten zu fahren und die Ozeane des Morgens und des Abends zu überqueren. Doch da der Herr der tausendzweihundertdreiundzwanzig Kammern, der Gebieter im Land der Tugend, mit väterlichem Wohlwollen dem Bündnis mit den mercatoren des Imperiums gegenübersteht, erlaube ich mir anzumerken, daß den Herren der zweiten und dritten Kammer der Nautik selbstverständlich Strömungen, Wassertiefen und der Gezeitenhub zwischen den Jaguarinseln bekannt sind.« Tuwua sah mit abwesendem Blick von seiner Glasplatte auf. Er schien etwas am nördlichen Horizont zu suchen. »Ungefähr sieben Meilen in diese Richtung liegt ein Eiland, das von einem einzelnen Berg beherrscht wird, der ein wenig an einen Hundskopf erinnert. Hält man von dort aus auf das Auge im Bild der Tanzenden Schlange zu, so befindet man sich in einer tiefen Fahrrinne mit einer nach Westen führenden günstigen Strömung.«
Arcimbaldos Hände umklammerten erneut den Kommandostab. Das Bild der Schlange, albernes Gerede! Aber wer, zum Henker, hatte den Kataueken das Geheimnis der Myriander-Passage verraten? Sie war eine der wenigen Fahrrinnen in diesem korallenverseuchten Gewässer, in der Großschiffe wie die Nauken der Kataueken auch bei Ebbe noch sicher navigieren konnten.
»Den nautischen Fähigkeiten Eures Volkes steht man im Imperium mit größter Bewunderung und Wißbegier gegenüber«, heuchelte Arcimbaldo.
Tuwua antwortete nicht, sondern blickte mit höchster Konzentration auf die Glasplatte, die vor ihm auf dem Pult lag.
Von einem nahem Felsriff stiegen jählings Dutzende von Rotkopfmöwen auf und segelten mit schrillem Geschrei über die Invictus hinweg.
Der praefectus classis drehte sich um und blickte zum Signalmast. Die bunten Flaggen hingen schlaff herab. Es war jetzt vollkommen windstill. Was mochte die Möwen bei dieser Flaute aufgeschreckt haben?
Von der Klippe des Riffs lösten sich einige kopfgroße Felsbrocken und stürzten in die See. Arcimbaldo spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Hier stimmte etwas nicht! Keines seiner Schiffe war so nahe an die Klippe geraten, daß es durch das herabstürzende Gestein bedroht worden wäre. Und doch ...
Mit fahriger Geste wischte sich der praefectus classis den Schweiß von der Stirn. »Verfluchte Hitze«, murmelte er halblaut vor sich hin.
Auch die übrigen Offiziere auf dem Achterdeck waren zur Reling hinübergeeilt, um zu sehen, was da vorging.
»Ein leichtes Beben«, kommentierte ein junger capitano der Seesoldaten. »So etwas gibt es hier öfter. Auf See sind wir vor den Auswirkungen solcher Beben sicher.«
»Haltet mehr Abstand zu dem Riff!« herrschte Arcimbaldo den trierarchen an. Plötzlich lag eine Spannung in der Luft wie kurz vor einem Gewitter. Doch der Himmel war völlig wolkenlos. Selbst die Möwen waren verschwunden. Sie waren nach Süden in Richtung des Kaps der Türme geflogen.
»Bei allen Heiligen, was ist das?«
»Was?« Arcimbaldos Stimme klang schrill. Er mußte sich wieder in die Gewalt bekommen! Er trat mit steifem Schritt zu den Offizieren an die Reling.
»Dort, praefectus!« Der junge capitano deutete mit ausgestrecktem Arm zu dem Riff hinüber. »Seht nur die Wasserlinie ...«
Arcimbaldo kniff die Augen zusammen. Das Riff lag fast hundert Schritt entfernt. Doch selbst auf diese Distanz war zu erkennen, wie sich die Wasserlinie zurückzog. Schneller, als es selbst für die launischen Gezeiten zwischen diesen Inseln üblich war. Viel schneller!
Fast zwei Ellen weit war das muschelverkrustete dunkle Gestein am Fuß des Riffs schon freigelegt.
Nun eilten auch entlang des gestreckten Hauptdecks Offiziere und Mannschaften an die Reling, um das seltsame und rätselhafte Schauspiel zu betrachten.
»Habt Ihr Euren Frieden reit Eurem entrückten Gott gemacht?« fragte der Kataueke mit einer Stimme, der diesmal jeder ironische Unterton fehlte. »Seht doch nur dort in Richtung des Sonnenuntergangs!«
Arcimbaldo hob den Kopf und schwor sich, diesen Irren beim ersten Seegefecht unter die Verluste zu buchen. Dann erstarrte der praefectus. Über dem gesamten westlichen Horizont war eine dünne weiße Linie zu erkennen. Einige Herzschläge lang weigerte sich sein Verstand, die einzig plausible Erklärung für dieses Phänomen anzunehmen. Er hatte ein ganzes Leben auf See verbracht, doch so etwas hatte er noch nie gesehen. Seine Hände begannen zu zittern. Der Kommandostab entglitt seinen Fingern und stürzte in die türkisfarbene See.
»Beidrehen!« Arcimbaldos Stimme war nur noch ein unverständliches Krächzen. »Beidrehen! Richtet den Bug nach Westen aus!« Nur wenn sie diese Welle mit dem Bug voraus nahmen, bestand eine kleine Hoffnung, daß die zerbrechlichen Schiffe nicht zerschmettert würden. Wie hoch die Sturmwelle wohl sein mochte?
Überall an Bord brach offener Tumult auf. Einige Offiziere, die noch nicht begriffen hatten, was auf sie zukam, schlugen mit ihren Knotenstöcken auf die Mannschaften ein. Ein Seemann sprang blindlings über Bord, prallte auf mehrere der Ruder und wurde von den großen Ruderblättern schließlich unter Wasser gedrückt.
Die Wasserlinie am Riff war jetzt um mehr als einen Schritt gesunken. Doch Arcimbaldo beachtete sie nicht. Sein Blick wurde von dem Schauspiel am westlichen Horizont gefesselt. Die dünne weiße Linie war noch keinen Finger breit. Doch das würde sich bald ändern. Was von dort auf sie zukam, war eine Welle, so übermächtig, wie sie Arcimbaldo in dreißig Jahren auf See noch niemals gesehen hatte!