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Steingeboren
ОглавлениеIn Nantala, später Nachmittag, am 17. Tag des Hitzemondes, im 458. Jahr der Abwesenheit Gottes
Orlando stand unter dem halb eingestürzten Torbogen der Lagerhalle und musterte mißtrauisch die spiegelnde Wasserfläche zu seinen Füßen. Der Boden der Halle war abgesenkt gewesen; so hatte sich das zurückflutende Wasser hier gesammelt. Es war nicht tief. Es würde ihm kaum bis zu den Hüften reichen, doch Orlando zögerte. Hin und wieder sah er silberne Schemen unter der Wasseroberfläche dahinziehen. Ob auch hier Muränen oder andere Räuber lauerten?
Der geborstene Rumpf einer Decemreme lag in der Halle, zersplitterte Fässer und Kisten, Fischernetze, bleiche Walkiefer, die für die Knochenschnitzer auf den Jaguarinseln bestimmt gewesen waren. Öl lachen trieben auf dem Wasser und hatten einige der Trümmerstücke mit einer schillernden Haut überzogen.
Die Seitenwände der Halle waren trotz ihrer massiven Bauart fast bis zur Hälfte abgetragen. Die Südwand, die aus schwächerem Mauerwerk bestanden hatte, war gänzlich verschwunden. Allein die gewölbte Nordwand mit ihrer schmalen Treppe, die ins Nichts führte, hatte die Sturmwellen einigermaßen unbeschadet überstanden.
Gehetzt streiften Orlandos Blicke das spiegelnde Wasser. Er brauchte eine Axt! Und er war sich ganz sicher, daß er hier eine fände. Es machte ihn unruhig, ohne Waffe zu sein. Er drehte sich um und musterte die Hügel hinter dem Dorf. Nichts! Natürlich war dort niemand.
Sie würden in dieser Stunde gewiß nicht nach ihm suchen. Und dennoch, man konnte nie wissen ... Vielleicht gerade jetzt! Er brauchte eine Waffe, dann würde er wieder ruhiger werden. Ein Schwert konnte er nicht führen. Außerdem würde es ihn verdächtig machen. Ein einfacher Mann trug kein Schwert! Eine Axt hingegen war ein Werkzeug und erregte keinen Verdacht.
Zögernd streckte er den rechten Fuß ins Wasser. Es war warm. Kein Fisch kam herbeigeeilt, um ihm die Zehen abzubeißen. Er lächelte schwach. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, daß sich hier eine Muräne verbarg? Wieder wanderte sein Blick über die Trümmer. Verstecke für diese schlangenartigen Fische gab es genug. Die aufstehenden Wände hatten wie ein Fischernetz einen Teil der Beute der Sturmflut zurückgehalten. Sicher waren hier auch viele Fische gefangen.
Unschlüssig leckte sich der Alte über die rissigen Lippen. Wenn er ein paar Tage wartete, würde das Wasser verdunsten. Dann konnte er ohne Gefahr suchen. Vielleicht sogar früher, falls die Halle irgendwelche verborgenen Abflüsse hatte, durch die das Wasser versickerte.
Seine Rechte tastete über das grobe Seil, das er um die Hüften geschlungen trug. Seine Hand strich über die Stelle, an der seine Axt gesteckt hatte.
Nichts, was hier im Wasser lauern mochte, war so gefährlich wie sie. Er brauchte seine Waffe. Vorsichtig tastete er sich seinen Weg durch die überflutete Lagerhalle. Die silbernen Schemen spürten ihn kommen und flohen. Seine Schritte wirbelten Schlamm und Sand auf, so daß er dort, wo er ging, kaum etwas sehen konnte.
Er fand zwei verbogene Wallanzen und ein Messer, das er sich in den Gürtel schob. Jetzt, da er zumindest diese Waffe besaß, wich seine Anspannung ein wenig. Sie hatten ihn all die Jahre nicht aufgespürt ... Wenn er in ein paar Tagen zurückkäme und das Wasser fort wäre, fände er auch eine Axt. Ganz sicher!
Er hörte ein klatschendes Geräusch und fuhr erschrocken herum. Zunächst sah er nichts, auch wenn deutlich ein leises Stöhnen zu hören war. Dann entdeckte er eine kauernde Gestalt, halb verborgen im Schatten der gewölbten Öffnung zur vermauerten Turmtreppe. Naß und schmutzverschmiert kroch sie hervor und wirkte, als hätte das Mauerwerk sie geboren.
Orlando schlug mit zitternder Hand den Gottesstern über der Brust, ein mächtiges Schutzsymbol gegen alles, was die gottgefügte Ordnung störte. Und Menschen, die aus Mauerwerk geboren wurden, gehörten nicht in diese Welt. Orlando hatte gesehen, wie nach der großen Welle noch zwei kleinere Sturmwellen über das Dorf hinweggefegt waren. Alle Gebäude waren von den wogenden Wassermassen verschluckt worden. Nichts und niemand konnte dies überlebt haben.
Langsam richtete sich der Steingeborene auf. Er war ein Hüne von einem Mann Jetzt erkannte Orlando, daß es zwei Geschöpfe waren. Der Hüne hielt eine zweite Gestalt in den Armen. Er blickte über den geborstenen Galeerenrumpf geradewegs zu Orlando herüber. Dann stieß er einen gurgelnden Schrei aus, einen Laut, wie ihn der Alte noch nie zuvor gehört hatte. Durchsetzt von Schmerz und Hoffnung. Dieser Schrei durchbrach den Bann, der Orlando bislang hatte verharren lassen. Voller Panik wandte er sich ab und stürzte davon.
Wieder stieß das Geschöpf hinter ihm einen Schrei aus. Diesmal fordernder.
Als Orlando den Torbogen erreichte, hörte er hinter sich ein platschendes Geräusch. Sein Verfolger war die Treppe heruntergekommen. Entsetzt blickte sich der Alte um. Die Ruinen waren so weit abgetragen, daß es kaum Verstecke gab. Würde er den Hügel hinaufflüchten, dann wäre er gut zu sehen. Und hatte es überhaupt einen Sinn fortzulaufen? Er wußte nicht, wie schnell diese Kreatur war.
Entschlossen zog er das Messer aus seinem Gürtel und drehte sich um. Es war besser, dem Feind ins Gesicht zu sehen, als ihn im Rücken zu haben!
Orlando blinzelte. Er sah den Hünen jetzt viel deutlicher – er war noch fünf oder sechs Schritt entfernt. Daß seine Augen für die Ferne nicht mehr scharf genug waren, hatte Orlando stets als Geheimnis gehütet. Die Fischer hätten ihn gewiß nicht als Klippenwächter geduldet, wenn sie davon gewußt hätten.
Der Hüne wurde langsamer, als er Orlandos Messer sah. Er stieß ein gurgelndes Geräusch aus. Noch immer hielt er die zusammengesunkene Gestalt in den Armen.
Der Alte blinzelte erneut. Das war ... Er erkannte ihn. Tormo! Bei allen Heiligen, wie hatte er in diesen Ruinen die Flutwelle überlebt? Der Junge war völlig mit Ruß beschmiert, und die Kleider hingen ihm in Fetzen vom Leib. Deshalb hatte er ihn nicht erkannt!
»Tormo?« fragte Orlando.
Der Hüne nickte.
Wieder schlug der Alte das Zeichen des Gottessterns. »Ein Wunder, mein Junge. Ein Wunder!« Jetzt erkannte er auch die Gestalt, die Tormo trug. Es war Alessandra.
»Laß uns hinaus ins Trockene gehen. Was ist mit ihr geschehen? Lebt sie?«
Der Junge machte eine umständliche Geste, deren Sinn Orlando nicht zu deuten vermochte. Einen Moment lang sah ihn Tormo abwartend an, dann setzte er Alessandra an der Außenwand der Lagerhalle vorsichtig ab, so daß sie mit dem Rücken gegen die Mauer lehnte. Orlando tastete nach ihrem Hals, doch er fühlte kein Leben mehr pulsieren fühlen, und die Haut war ganz kalt.
»Tormo ...« Er suchte nach Worten. »Sie ist auf ihre letzte Reise gegangen, Junge. Dort ...«
»Norh!« Der Junge stieß ihn zur Seite und riß ihm dabei das Messer aus der Hand. Tormos Augen funkelten vor Wut und Entschlossenheit. »Norh!«
Orlando wich ein Stück zurück. »Junge, du mußt dich in das Unabänderliche fügen. Ich habe sie auch sehr gern gemocht. Doch jetzt ist sie tot. Fühl nur, wie kalt sie ist. Alles Leben ist aus ihr gewichen. Wir können nichts mehr für sie tun.«
»Norh!« fauchte der Hüne und hielt ihr das Messer vor das Gesicht, als wolle er ihr die Nase abschneiden.
Orlando erinnerte sich daran, wie die anderen im Dorf den Jungen immer einen verrückten Sonderling genannt hatten. Offenbar hatte ihm die Katastrophe den Rest seines Verstandes geraubt. »Nicht, mein Sohn! Nimm das Messer weg. Wir wollen sie in Ehren bestatten. In der Klamm, beim Wasserfall. Dort ist sie immer gern gewesen.«
Tormo schüttelte den Kopf und winkte aufgeregt. Noch immer hielt er Alessandra die Klinge vors Gesicht.
Orlando erinnerte sich, einmal gehört zu haben, daß es klüger sei, den Verwirrten ihren Willen zu lassen. »Was willst du mir denn zeigen?«
Behutsam legte der Junge die stumpfe Seite des Messers auf Alessandras Oberlippe, so daß sich die breite Seite der Klinge dicht unter ihrer Nase befand. Und jetzt endlich sah Orlando, was Tormo gemeint hatte. Der Stahl beschlug. Sie atmete! Wenn auch unregelmäßig.
Sorgfältig untersuchte der Alte das Mädchen. Der Lebensfunke glomm nur noch schwach in ihrem Körper. Sie mußte gewärmt werden, und man mußte ihre zahlreichen Schürfwunden säubern und verbinden. Die Schienen an ihrem linken Arm waren verrutscht. Der Knochen hatte sich erneut verschoben. Orlando versuchte zu ertasten, ob der Arm gar noch ein weiteres Mal gebrochen war. Er betete stumm, daß dies nicht der Fall wäre, denn dann müßte er dem Mädchen den Arm abnehmen.
Mit Grauen dachte er an die Fertigkeiten zurück, die er vor langer Zeit einmal gelernt hatte. Früher einmal hatte er so vieles gewußt ... Er betrachtete das leichenblasse Gesicht des Mädchens und war sich nicht sicher, ob er für sie seine Erinnerungen beleben wollte.