Читать книгу Der Wahrträumer - Бернхард Хеннен - Страница 22
Zweifel
ОглавлениеAm Braunwasser nahe der Beinhügel, zur Zeit der Beerenreife, im Jahr der Sturmreiter
»Du bist kein Geistertänzer, Sohn!«
Seruun Zuudet wich dem Blick seines Vaters aus. Er wußte, wie groß der Unterschied zwischen Gurwan und ihm war. Es war nicht sein Entschluß gewesen, der Geistertänzer seines Volkes zu sein. Gurwan hatte ihm diese Last aufgebürdet.
»Du kannst den Weg der Speernasen nicht lesen!« Bärenhaut, einer der erfahrensten Krieger des Stammes, sprach ohne Groll. »Gurwan Nudet ist zu früh zu den Ahnen gegangen. Er konnte dir nicht alle Geheimnisse der Geistertänzer beibringen. Ist das richtig?« Sein Pferd tänzelte unruhig.
Sie waren eine Gruppe von sieben Kriegern, die sich auf der Kuppe eines Hügels versammelt hatten, um den Zug der Herde am Braunwasser entlang zu beobachten. Wie ein zweiter gewaltiger Strom ergoß sich die Herde über das Grasland. Speernasen, Büffel und Pferde zogen in friedlicher Eintracht nebeneinander her und folgten dem sanft gewundenen Flußlauf.
Hin und wieder sah man kleine Gruppen von Männern und Frauen, die die Tiere begleiteten. Sie alle waren beritten, wie es sich für die Hüter der Speernasen gehörte.
»Das Volk der Salhin Halt wird einen neuen Geistertänzer suchen«, erklärte Roter Speer, Seruuns Vater. Aus seinen Augen sprach nichts als Verachtung. »Mein Sohn kann nicht mit den Geistern der Leitbullen tanzen. Er hat nicht gewußt, daß die Herde ihren Weg ändern wird.«
Seruun preßte die Lippen zusammen. Er durfte nicht sagen, wie wenig Gurwan gewußt hatte. Durfte nicht darüber reden, daß sein Lehrmeister meist auch nur aus genauer Beobachtung der Speernasen ihren Weg zu deuten gewußt hatte.
»Die Salhin Hült können aber nicht ohne Geistertänzer sein.
Du kannst ihn nicht einfach fortschicken«, wandte Bärenhaut ein. »Auch wenn er nicht weise wie Gurwan ist, so versteht er doch besser als irgendein anderer den Stimmen der Geister im Wind zu lauschen.«
»Wir sind hilflos wie ein Büffelkalb, das in der Weite des Graslands seine Mutter verloren hat, wenn wir den Weg der Herde nicht kennen«, entgegnete Roter Speer erregt. Dann deutete er zum Himmel »Selbst das Tagauge hat sich vor Scham über den Geistertänzer versteckt, der nun die Salhin Hült führt. Mein Sohn kann gar nichts! Er versteht es nicht einmal, den Bogen vom Pferderücken aus zu benutzen oder die Lanze zu führen. Er ist kein erfahrener Jäger und auch kein Geistertänzer. Wir sollten ihn zu den Frauen schicken, vielleicht mag er dort von Nutzen sein.«
»Wie hätte er lernen sollen, ein Krieger und Jäger zu sein, da er doch von Gurwan Nudet gelehrt wurde, auf den Pfaden der Geister zu gehen? Du mußt mehr Geduld mit deinem Sohn haben, Roter Speer.« So sprach Bärenhaut, und einige der übrigen Krieger nickten zustimmend. »Es war die Himmelsfaust, die niedergefahren ist und die das Tagauge erschreckte, so daß es sich nun hinter dunklen Wolken verbirgt, die um den Tod Gurwan Nudets und so vieler Kälber weinen.«
Seruun beobachtete seinen Vater aus den Augenwinkeln. Er war der Erste Reiter unter den Windwanderern, der Anführer der Krieger und Jäger. Nur mühsam gelang es ihm, seinen Zorn über Bärenhaut zu unterdrücken. Sie waren Rivalen, solange Seruun sich erinnern konnte. Er hatte nie verstanden, warum Roter Speer und Bärenhaut miteinander verfeindet waren. Es wurde auch nie über den Grund ihres ständigen Streits gesprochen. Schon beim geringsten Anlaß gerieten die beiden Männer aneinander. Und sosehr die beiden geachtet waren, lieferte ihre bittere Fehde doch Nahrung für heimlichen Spott.
In Seruuns Augen war es sein eigener Vater, der sich dabei am lächerlichsten aufführte. Er empfand keine Liebe für Roter Speer, denn sein Vater ließ selten eine Gelegenheit aus, ihn zu demütigen. Bärenhaut war ganz anders. Er war es, der Seruun oft vor der Willkür von Roter Speer in Schutz nahm.
»Wenn die Herde weiter dem Abendhimmel entgegenzieht, werden wir bald in die Weidegründe der Aduuchin, der Pferdeherren, gelangen. Zwei große Herden kann das Grasland nicht nähren«, erklärte Roter Speer und wandte sich dann an Seruun. »Wir müssen die Geister der Ahnen fragen, was zu tun ist. Kannst du wenigstens das, Seruun?«
Der junge Geistertänzer nickte. »Ich werde die Ahnen in das tanzende Zelt rufen. In zwei Tagen, wenn das Nachtauge hoch am Himmel steht, werde ich sie rufen.«
Der Vater musterte ihn zweifelnd, doch die übrigen Krieger waren mit der Antwort zufrieden.
Seruuns Herz schlug so schnell wie nach einem scharfen Ritt. Noch nie hatte er allein die Geister der Ahnen gerufen. Er hatte Angst.