Читать книгу Der Wahrträumer - Бернхард Хеннен - Страница 14
Das Sternenwunder
ОглавлениеNahe der Höhle Wolfzahns, am Tag der Himmelsfaust, im Jahr der Sturmreiter
Das Land stieg leicht hügelig vom großen Fluß her an. Hier und dort durchbrachen breite rote Felskanten die Grasnarbe. Seruun blickte zurück und sog das wunderbare Bild in sich auf. Der Fluß war gesäumt von hohen Pappeln, die sich sanft im Wind wiegten. Auf den Hügeln wurden sie von bleichstämmigen Birken abgelöst. Rotgolden glänzende Birkensamen tanzten in der Luft und streichelten Seruuns Gesicht. Zwischen den Bäumen weidete die Herde. So weit sein Auge reichte, sah er die Speernasen. Wie wandernde Felsen zogen sie durch den lichten Wald. Hin und wieder hörte er das Krachen von Holz, wenn ein übermütiger junger Bulle eine der Birken niederdrückte, um an die frischen Triebe in der Baumkrone zu gelangen. Die Speernasen waren so groß, daß sie selbst einen Krieger zu Pferd noch überragten. Sie hatten Beine wie Baumstämme und ein dichtes rotbraunes Fell. Über ihren Nüstern wuchs ein Horn aus ihrem Haupt, das so lang war wie ein Speer und an seinem Ansatz so dick wie der Oberschenkel eines kräftigen Mannes. Hatte ein Jungtier das erste Jahr überstanden, dann gab es in den Ebenen keinen Räuber mehr, den es fürchten mußte – außer vielleicht ein großes Rudel Schneelöwen oder einen der heimtückischen Flußwürger.
Seruun fühlte Stolz in sich aufsteigen, als er auf die zahllosen Speernasen hinabblickte, die sich durch den lichten Wald schoben. Die Salhin Hült, die Windwanderer, hüteten die größte Herde, die durch die Ebenen zog, ganz gleich, was die Grasfalken und die verrückten Reiter vom Volk der Pferdeherren auch behaupten mochten. Nach dem Schrecken am Morgen hatten sich die Tiere wieder beruhigt.
»Träum nicht, Seruun! Wir haben es eilig. Bald kommt die Stunde, da die Schatten vergehen, und wir haben es immer noch nicht gefunden«, drängte der alte Mann.
»Wenn du mir sagst, was wir suchen, wäre ich dir eine größere Hilfe, Gurwan Nudet.«
»Einen Nachtaugenblattbusch, du nutzloser Bügelfloh! Er steht allein auf einer Hügelkuppe.«
Seruun seufzte und schwieg. Seit dem Morgen benahm sich Gurwan Nudet seltsam. Der Alte war der Geistertänzer der Windwanderer. Zu seinen Aufgaben gehörte es, den Zug der Speernasen zu deuten und in wolkenverhangenen Nächten den Stimmen der Ahnen zu lauschen. Eines Tages würde Seruun diese Aufgabe erfüllen, doch bis dahin würde noch viele Male der Eisatem über das Land ziehen.
»Komm schon, Seruun!« drängte der Alte. »Nicht mehr lange, und das Tagauge wird die Schatten fressen.« Der Geistertänzer musterte das Firmament. Bevor das goldene Tagauge dem Blutsee entstieg, war das zweite Nachtauge, das die Finsternis geboren hatte, fast halb so groß wie das ältere Himmelsauge gewesen. Die Himmelserscheinung hatte die Herde unruhig gemacht. Keiner aus dem Volk der Windwanderer hatte in der letzten Nacht ein Auge zugetan. Unablässig waren sie zwischen den Speernasen umhergewandert, um die Leittiere zu beruhigen und nach den trächtigen Kühen zu sehen. Es hatte sieben Fehlgeburten gegeben.
Als Seruun den alten Geistertänzer erreichte, erstarb der leichte Wind. Es war so warm, daß die Glut des Tagauges die Luft zu schmelzen schien. Nicht weit entfernt zerfloß sie über einem flachen Felsen zu flimmernden Streifen, und wenn man hindurchblickte, wurden die Bäume auf der anderen Seite des Tals zu bewegten grünen Schemen.
»Was glaubst du, wovon träumt der Wind, wenn er schläft?« fragte Gurwan Nudet so beiläufig, als frage er nach einem Schlauch vergorener Stutenmilch.
Seruun verdrehte die Augen und seufzte. Er haßte diese Fragen. Ganz gleich, was er darauf antwortete, er machte sich immer zum Narren. Gurwan Nudet war groß darin, solche Fragen zu stellen. Vielleicht mußte man, so wie er, mit den Geistern der Ahnen getanzt haben, um von den verwehenden Träumen des Windes zu wissen.
»Nun, Seruun, was glaubst du?«
»Vielleicht träumt er ja von Grasfeder.«
Gurwan Nudet lachte. »Ich wollte nicht wissen, wovon du träumst, mein junger Freund. Aber wer weiß ...« Er zuckte mit den Schultern, und sein Rücken knackte. »Sie ist ein hübsches Mädchen, und der Wind liebt die schönen Dinge. Doch lassen wir das. Dort drüben steht der Nachtaugenbusch, den ich gesucht habe.« Er deutete auf einen verkrüppelten kleinen Busch, der halb verborgen zwischen zwei Felsblöcken wuchs. »Wir müssen ein wenig aufpassen, Seruun. Folge mir und bleib genau in meiner Spur.«
Der Alte entfernte sich von dem Busch mit den silbergrünen Blättern und ging auf eine breite Grasnarbe auf der nördlichen Seite der Hügelkuppe zu. Dabei setzte er jeden Schritt so vorsichtig, als wäre er auf der Pirsch nach einem Wolfsrudel. Seruun grinste. Es wirkte schon ein wenig lächerlich, wie der Alte vorsichtig durch das Gras schlich, obwohl doch – abgesehen von einigen scheuen Erdhörnchen – auf dem ganzen Hügel kein lebendes Wesen zu sehen war. Ob er sich vor Grasschlangen fürchtete?
Plötzlich riß Gurwan Nudet die Arme hoch. »Hier!« Er kniete nieder und zerrte an den Halmen.
Als Seruun den Alten erreicht hatte, sah er, daß der Geistertänzer neben einem Felsenloch kniete, das sich halb unter wucherndem Gras verbarg. Drückte man die Grasbüschel aber zur Seite, bemerkte man eine nahezu runde Öffnung, die merkwürdig regelmäßig wirkte. Sie war nicht groß. Mit ausgestreckten Armen konnte Seruun sie zur Hälfte umfassen.
Gurwan Nudet blickte zum Himmel und stieß einen schnaubenden Laut aus. »Steh nicht herum und glotz wie eine schwachsichtige Hirschkuh! Hilf mir lieber, das Gras von den Rändern dieses Lochs zu reißen.«
»Aber warum?«
Statt zu antworten, bedachte ihn Gurwan Nudet mit einem Blick, der keinen weiteren Widerspruch duldete.
Es war leichte Arbeit, und sie brauchten nicht lange dafür, dennoch ging der Atem des Geistertänzers pfeifend und unregelmäßig, als sie fertig waren. Wieder blickte Gurwan Nudet auf zum Himmel.
Er hatte Seruun nie gesagt, wie oft er den Eisatem schon hatte vorüberziehen sehen. Und bislang hatte sich Seruun auch keine Gedanken darüber gemacht, wieviel Zeit ihnen noch blieb, bevor er der Geistertänzer der Salhin Hült, der Windwanderer, sein würde. Zum allerersten Mal gewahrte der Junge, daß sein Lehrmeister ein alter Mann war. Gurwan Nudets Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen, Spuren, wie sie ein Leben im Wind des Graslands und unter dem strahlenden Schein des Tagauges hinterließ.
Stöhnend kam der Alte auf die Beine. »Sieh mich nicht so an, Junge! Mein Tag des Seelenflugs ist noch lange nicht gekommen, nicht bevor ...«
Erstaunlich behende kletterte Gurwan Nudet die schroffe Nordseite des Hügels hinab, bis er den halb vermoderten und von Efeuranken überwucherten Stamm einer Birke erreichte, die der Sturm entwurzelt hatte. Mit einer Hast, die Seruun von seinem Lehrmeister sonst nicht kannte, zerrte der Alte die Ranken zur Seite, bis eine dunkle Höhlenöffnung zum Vorschein kam.
Der Geistertänzer lächelte zufrieden und dreht sich halb zu Seruun um. »Dieser Ort ist nur uns bestimmt. Choniin Schüd, Wolfszahn, erschuf ihn, als der lange Eisatem zu Ende ging und das Volk der Salhin Hült die Spinnenmänner besiegte. An diesen Tagen waren die Geistertänzer voller Macht. Sie wurden eins mit den alten Leitbullen und berieten mit ihnen über die Wanderwege der Herden. Es muß eine herrliche Zeit gewesen sein ... Bürgediin Hamart, Falkennase, der mir all sein Wissen schenkte, hat oft davon erzählt. Doch auch er kannte die Geschichten nur von Gebrochener Speer, der sie ...« Gurwan Nudet lachte. »Das Geschwätz alter Männer! Aber wisse, Seruun, es gab Tage, da waren wir Geistertänzer voller Macht. Es muß aufregend gewesen sein, eins mit den Speernasen zu werden. Horn gegen Zahn mit den Wölfen zu kämpfen, die Nüstern voll vom Duft des saftigen Grases und der brünstigen Kühe. Und ihre Kraft! Ihr wildes Herz schlagen zu fühlen und über die weiten Ebenen zu laufen. Stundenlang ... Doch komm jetzt!« Er duckte sich unter den
Efeuranken hindurch und verschwand in dem schmalen Höhleneingang.
Seruun hatte einwenden wollen, daß sie auch heute noch den Tanz der Speernasen tanzten, bevor die große Wanderung begann, doch er hatte das Gefühl, daß ihm der Alte ohnehin nicht zugehört hätte.
Bei den ersten tastenden Schritten wies ihm noch grünes Zwielicht den Weg. Flüchtig erkannte er Malereien an den Wänden. Sie zeigten Reiter auf starken Pferden, die über die Ebene jagten, und einen großen Mann, der neben einem weißen Speernasenbullen stand.
Seruun konnte die Bilder in dem schwachen Licht kaum erkennen. Zudem war ein Teil der Farben rissig geworden und vom Felsen abgebröckelt. Wirklich gut waren nur die schwarzen Striche zu sehen, die man wohl mit dem Ruß halbverbrannter Äste ausgeführt hatte. Auf einem der Bilder schien es, als würde eine Speernasenherde über ein weites Wasser wandern. Sie wurde von einem großen weißen Speernasenbullen angeführt. Das mußte Mösönchin sein, der Schutzgeist der Herden. Der Junge lächelte. Speernasen, die auf dem Wasser gingen! Diese Geschichte war zu unglaubwürdig; deshalb erzählte man sie sich wohl auch nicht mehr. Ganz im Gegensatz zum Gerede über die Spinnenmänner, die während des langen Eisatems von Norden her auf die weite Ebene gekommen waren. Diese unheimliche Geschichte war immer wieder zu hören, wenn der Schnee das weite Grasland verschlang und man die langen Nächte über beisammensaß und redete.
Plötzlich wurde Seruun des süßlichen Geruchs des Todes gewahr, der die Höhle durchtränkte wie die Dunkelheit, die hier niemals vom Glanz des Tagauges vertrieben wurde. Vorsichtig tastete er sich weiter. Vor sich hörte er die leise Stimme Gurwan Nudets. Der Geistertänzer summte das Lied des Seelenflugs!
Seruun tastete nach dem Steinmesser an seinem Gürtel. Er wollte Gurwan Nudet etwas zurufen, wollte fragen, was es dort vorn in der Höhle gebe, doch er wußte, daß er das Lied des Seelenflugs auf keinen Fall unterbrechen durfte. So verharrte er reglos, und erst als die Stimme des Alten verklang, wagte er sich tiefer hinein in die Dunkelheit.
Während er die Finger der rechten Hand über die Höhlenwand gleiten ließ, tastete er sich weiter voran, bis er einen breiten, gleißenden Lichtstrahl entdeckte, der wie ein Dolchstoß durch die Finsternis schnitt. Blinzelnd spähte er in eine weite Höhle. Nur wenige Schritt entfernt stand Gurwan Nudet.
Der Leichengestank war hier so beklemmend, daß Seruun nur noch durch den Mund atmete. Dicke Fliegen umschwirrten Gurwan Nudet. Wenn sie durch den Lichtstrahl schossen, der durch eine runde Spalte in der Felsendecke herabstach, glänzten ihre Flügel golden auf.
Dort, wo das Licht auf den Höhlenboden traf, war eine Büffelhaut über einen Felsen gebreitet. Die Haut war mit dunklen Blutspritzern besudelt und halb von dem Stein gerutscht, den sie einmal bedeckt hatte. Neben dem Felsen lag der Kadaver eines Büffelkalbs.
Gurwan Nudet kniete nieder, um etwas Unförmiges in die Brust des toten Tieres zurückzubetten, die er mit seinem langen Stahlmesser geöffnet hatte. Empört über die Störung, stob eine Wolke von Fliegen auf
»Welch sinnloser Tod«, murrte der Alte. »Sein furchtsames Herz tötete es. Es starb aus Angst vor einem Erdhörnchen.«
Seruun starrte den Geistertänzer ehrfürchtig an, und für einen Moment vergaß er sogar den Gestank in der Höhle. »Hast du mit dem Geist des Kalbs gesprochen, bevor du seine Seele endlich fliegen ließest?«
Gurwan Nudet lächelte, und die Falten in seinem Gesicht vertieften sich. »Nein. Man muß den Geistern ein weites Stück entgegenkommen. Du weißt doch: Um mit den Geistern zu sprechen, braucht man Haut von einem Knochenpilz und Samen vom Löwenzahn.«
»Aber du sagtest doch, ein Erdhörnchen habe das Büffelkalb getötet ... Wie kann ein Büffel aus Angst vor einem Erdhörnchen sterben?«
»Ich sagte, sein furchtsames Herz tötete es. Junge, wann lernst du endlich, deine Augen und deine Ohren zu benutzen?« grummelte der Geistertänzer. »In Zeiten, da die Stimmen der Geister so schwach sind, müssen wir alle unsere Sinne schärfen. Als Choniin Schüd lebte, brauchte man keinen Knochenpilz, um mit den Geistern zu tanzen. Sie kamen, auch wenn man sie gar nicht um sich haben wollte. Heute aber muß man auf die kleinsten Zeichen achten, um zu sehen, was anderen verborgen bleibt. Die anderen dürfen nicht merken, wie schwer es uns fällt, den Willen der Geister zu deuten. Wir müssen klüger sein als sie, um noch als Geistertänzer anerkannt zu sein.« Er lächelte. »Manchmal genügt es auch, ein paar verrückte Dinge zu tun, die kein anderer Mensch versteht. So etwas erwartet man von den Männern, die mit den Geistern des Landes und den Geistern der Ahnen Umgang pflegen.«
Gurwan Nudet stützte sich schwer auf den Stein, der halb mit der Büffelhaut bedeckt war. Dann deutete er zu dem Loch in der Höhlendecke. »Du erinnerst dich an das Gras dort oben. Es war zu sehen, daß dort in den letzten Tagen kein Tier geweidet hat. Wenn du aber das Büffelkalb betrachtest, dann erkennst du aus seinem Zustand und der Art, wie die Maden in seinen Körper eingedrungen sind, daß es keinesfalls länger als vier Tage hier liegt. Wir halten uns seit sieben Tagen in diesen Weidegründen auf, und wir wissen von unseren Jägern, daß sich keine Wölfe oder Langmähnen in der Nähe herumtreiben. Es gibt also keine Räuber, vor denen das Kalb geflohen wäre. Geflohen ist es aber, denn es hat offensichtlich nicht bei der Felsspalte geweidet, und wäre es einfach nur hier entlanggetrottet, dann hätte es die Gefahr wahrscheinlich rechtzeitig erkannt.« Der Alte setzte ein triumphierendes Lächeln auf, und sein Gesicht verwandelte sich in ein Geflecht tiefer Falten. »Erinnerst du dich an die Erdhörnchen, die wir gesehen haben, Seruun? Erst dreimal hat sich das Nachtauge seit der Geburt des Kalbs geschlossen. Es war also noch jung und unerfahren. Vielleicht ist es in eine Erdhörnchenhöhle getreten, und das Männchen ist verzweifelt keckernd hervorgesprungen, um den vermeintlichen Räuber von den Jungen abzulenken. Einen alten Büffel hätte das kaum beeindruckt. Das Kalb aber hat sich erschrocken und ist blindlings davongestürmt. So hat sein furchtsames Herz es getötet.«
Seruun dachte über die Geschichte nach. »Könnte es nicht auch so sein, daß das Kalb einfach den Hügel hinaufgetollt ist, um die Kraft seiner Beine zu erproben oder weil es mit anderen Jungtieren spielte?«
Gurwan Nudet schmunzelte. »Natürlich könnte es so gewesen sein. Aber es hört sich besser an, wenn du voll dunkler Bedeutung sagst, sein furchtsames Herz habe es getötet. Vergiß nicht, wir sind Geistertänzer, und es gehört sich für uns, daß wir den anderen geheimnisvoll erscheinen. Wir sind vom Wissen der Alten durchdrungen, teilen die Geheimnisse des Windes und verstehen das Flüstern in den Blättern der Bäume. So sieht man die Geistertänzer. Die Fähigkeit, unserem Volk zu helfen, liegt in seinem Glauben an uns. Vergiß das nie, Seruun. Dies ist die wichtigste aller Lehren. Die Kraft liegt im Glauben!«
Mit einem ärgerlichen Wedeln verscheuchte der Alte eine Fliege, die sich an seinen Mundwinkel gesetzt hatte. »Und jetzt bring den Kadaver des Kalbs fort! Es besudelt diesen heiligen Ort.« Er blickte besorgt zu dem Felsspalt in der Decke hinauf. »Beeil dich! Die Zeit drängt, wenn du das Wunder Wolfzahns noch sehen willst.«
Mit angehaltenem Atem machte sich Seruun an dem toten Kalb zu schaffen. Es war zu schwer, als daß er es hätte tragen können. Er packte es bei den Hinterbeinen und zerrte es über den unebenen Höhlenboden. Eine Wolke von Fliegen stob in die Luft, als er den Kadaver mit einem Ruck bewegte. Dicke weiße Maden fielen aus dem aufgerissenen Maul.
Seruun versuchte, nur durch den Mund zu atmen, doch noch bevor er den Höhlenausgang erreichte, hatte er das Gefühl, daß sich ein schleimiger dicker Film in seinem Mund und auf der Zunge bildete. Es fühlte sich ein wenig so an, wie wenn er Milchbrei gegessen hätte. Nur daß sein Mund von süßlichem, brackigem Fäulnisgeschmack erfüllt war.
Obwohl die Hinterläufe des Kaltes kaum Muskelfleisch aufwiesen, trat durch die Kraft, mit der er die Beine umklammert hielt, eine klebrige Flüssigkeit unter der Haut des Kadavers hervor. Als er ihn endlich ins Freie geschafft hatte, zerrte Seruun ihn noch ein ganzes Stück vom Höhleneingang fort und ließ ihn an der Hügelflanke liegen. Dort würden ihn die Raben bald finden.
Der Junge spuckte sich auf die Hände und wischte sie im Gras sauber. Er konnte den klebrigen braunen Saft abwischen, doch der Gestank blieb weiterhin an den Händen haften. Verärgert schnupperte er an seinem Hemd aus hellem Hirschleder. Oh sich der Gestank auch dort festgesetzt hatte?
Sobald Gurwan die Höhle wieder verlassen hätte, würde er sich von dem Alten trennen und hinunter zum Fluß laufen, um ein langes Bad zu nehmen. Es war schon ein ... Seruun stutze. Irgend etwas stimmte nicht. Er hob den Kopf und blickte sich um. Es war noch immer windstill, doch nicht das verwirrte ihn. Das Zirpen der Grillen hatte aufgehört. Kein Geräusch war ringsherum zu hören.
Aus der sumpfigen Flußschleife im Süden erhoben sich Enten in die Luft. Kleinere Vögel folgten ihnen. Ob dort ein Räuber durch das hohe Gras pirschte? Oder eine Gruppe von Jungen, die einen buntgefiederten Vogel erlegen wollten?
Seruun spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. Er sollte schnell zu Gurwan zurückkehren!
Als Seruun den Eingang der Höhle betrat, hörte er hinter sich ein leises Klackern. Ein Steinchen hatte sich vom Hang gelöst und fiel hinter ihm zu Boden.
Der Junge beschleunigte seine Schritte. Ein verirrter Lichtstrahl traf auf eine der Höhlenwände. Deutlich sah er einen Spinnenmann. Ein riesiges Ungeheuer mit viel zu vielen Armen und so groß wie ein Mann, der auf einem Pferd saß. Seruun hatte das aberwitzige Gefühl, daß ihn der Spinnenmann anstarrte.
Dünner Rauch zog durch den Gang. Er duftet nach Harz und Feuerblättern. Als Seruun den großen Raum betrat, beugte sich Gurwan über eine flache Tonschale, in der er Räucherwerk entzündet hatte.
Obwohl der Junge sich in seinen dünnen Lederschuhen fast lautlos bewegte, hatte der Geistertänzer ihn gehört. »Nun wirst du Zeuge von Wolfzahns Wunder.« Der Alte richtete sich auf und zog mit einem Ruck die Büffelhaut vom Felsblock neben sich. Darunter kamen fünf Kristalle zum Vorschein, die wie Finger aus einem roten Stein hervorstachen. Sie waren so klar wie Quellwasser. Das Licht, das von der Höhlendecke herabfiel, brach sich in strahlenden Kaskaden auf den Kristallen. Jetzt leuchteten überall an den rußgeschwärzten Wänden der Höhle weitere kleine Kristallsplitter auf.
Seruun wagte kaum zu atmen, so sehr war er vom Zauber des Geistertänzers beeindruckt.
»Dies hat Wolfszahn in den Jahren des verlorenen Himmels geschaffen«, erklärte der Alte. »Sieh es dir genau an. Bemerkst du etwas? Kannst du es sehen?«
Der Junge starrte zur Decke hinauf. Hunderte von kleinen Kristallen leuchteten dort. Doch sie schienen ohne Plan über der Fläche verteilt zu sein.
Gurwan Nudet deutete auf eine Gruppe von Kristallen drei Handbreit neben dem Spalt. »Erkennst du das Bild des Schwans?«
Jetzt, da der Alte ihm den Weg des Erkennens gewiesen hatte, ordneten sich die zwölf Kristalle für Seruun zu einem erkennbaren Muster. Drei Splitter für den langen Hals, einer für den Kopf und acht Splitter, die zwei weit ausgebreitete Flügel zeigten. Es war das Sternbild des Schwans, das während der Zeit des Eisatems nahe dem Zenit des Himmels stand. Nun erkannte er ein Stück weiter auch den Wolfskopf mit seinen spitzen Ohren und das Bild des Jägers. Die Kristalle an der Höhlendecke waren das genaue Abbild des Sternenhimmels zur Zeit des Eisatems.
Seruun wandte den Kopf. Immer wieder entdeckte er vertraute Bilder: das laufende Kind, das Rehkitz und den Maulwurf, der nur knapp über dem Horizont stand.
Dann verblaßten die Kristallsterne plötzlich. Der Lichtstrahl, der von der Höhlendecke herabgefallen war und die Kristalle auf dem roten Stein getroffen hatte, war weitergewandert, und das Wunder der Sterne verging.
Ein leises Knacken erklang. Staub rieselte von der Decke.
»Die Höhle stammt aus den Jahren des verlorenen Himmels. Die Zeit des Mösön Amisgal, des Eisatems, wurde mit jedem Jahr länger, und der Himmel war verschwunden. Man sah das goldene Tagauge nur noch als matten Fleck hinter den Wolken, und die Sterne waren gänzlich verschwunden. Der Himmel zeigte sich wie an einem diesigen Tag des Mösön Amisgal. Und das selbst im Sommer! Choniin Schüd, Wolfszahn, war während der Zeit des Frostatems vor einem schlimmen Sturm in diese Höhle geflohen. Tagelang war er hier gefangen und konnte nicht hinaus. Er litt schlimmen Hunger und sehnte sich nach der Weite des sternenbedeckten Himmelszeltes. Er schlief viel. Und eines Morgens, als er erwachte, hatte sich die Höhle verändert. Die Kristalle waren da und erstrahlten in klarem Licht, obwohl das Tagauge immer noch hinter Wolken verborgen war. Sie schenkten Choniin Schüd die Kraft, in der Höhle zu überleben. Es heißt, die Geister der Ahnen hätten ihm seinen Wunsch erfüllt und das Wunder erschaffen. Doch als das Tagauge zurückkehrte, wurde der Zauber schwächer, und so erstrahlen die Sterne in dieser Höhle nur noch an einigen Tagen in der Zeit der größter’ Hitze. Dies Wunder, Seruun, ist ein streng gehütetes Geheimnis, von dem nur wir Geistertänzer wissen. Bewahre es in deinem Herzen, bis der Tag des Seelenflugs kommt, und wisse, die Geister der Alten sind um uns. Sie wachen über uns, auch wenn wir nur noch selten mit ihnen sprechen können.«
»Aber warum ist das so? Warum haben die Stimmen der Alten uns verlassen? Warum kann ich das Lied des Windes nicht mehr deuten?« fragte Seruun und sah dabei noch immer zur Decke hinauf, in der Hoffnung, der Glanz der Sterne kehre vielleicht noch einmal zurück.
»Ich weiß es nicht«, entgegnete Gurwan Nudet. »Vielleicht sprechen die Geister nur in besonders schweren Zeiten zu uns. Vielleicht ist es auch so ...« Der Boden der Höhle erzitterte.
Ein tiefes Grollen war zu hören, das mehr im Bauch als in den Ohren nachklang. Staub rieselte von der weiten Höhlendecke. Klackernd fielen kleine Steine herab.
»Lauf, Seruun!« Die Stimme des Alten überschlug sich.
Verängstigt starrte der Junge nach oben. Der Spalt hoch über ihm war breiter geworden. Der Boden zitterte jetzt so stark, daß Seruun die Arme ausbreitete, um das Gleichgewicht zu behalten. Es war fast so, als ob er auf einem wilden Pferd säße, das ihn mit aller Kraft abzuwerfen versuchte.
Ein schwerer Schlag traf ihn im Gesicht. Gurwan hatte ihm eine schallende Ohrfeige versetzt. »Lauf, Junge!«
Seruun fühlte sich wie in einem Traum. Daß der Felsen unter seinen Füßen tanzte, war doch unmöglich. Benommen folgte er Gurwan, der ihn an seinem Lederhemd gepackt hatte und in den schmalen Gang zerrte, der aus der Höhle hinausführte. Die Steine, die auf den Boden der Höhle gestürzt waren, kamen nicht zur Ruhe. Sie hüpften auf und nieder, wirbelten Staub auf und schlugen knirschend aneinander.
Vor ihnen bildete sich ein breiter Riß. Ein Teil des Höhlenbodens sackte weg und verschwand in der Dunkelheit. Jetzt lösten sich auch schwerere Steine von der Decke und stürzten herab. Ein Felsbrocken, breit wie drei Männer, krachte vor dem Höhlengang zu Boden und versperrte ihn fast vollständig. Die Luft war voller Staub, und das Atmen fiel schwer. Ein Stein schrammte an Seruuns Schulter vorbei. Er warf sich gegen die Höhlenwand und suchte dort Schutz vor den herabprasselden Gesteinsstücken. Doch als er sich anlehnte, fühlte es sich an, als hätte ihn ein kräftiger Krieger fest mit beiden Händen gepackt, um ihn durchzuschütteln. Nichts, was fest sein sollte, gab noch Halt! Die Welt war auf den Kopf gestellt.
Der alte Geistertänzer hatte ihn losgelassen und war im wirbelnden Staub verschwunden. »Gurwan!« schrie der Junge. »Gurwan ...« Staub kitzelte seinen Rachen. Der Ruf vergurgelte zu einem Hustenkrampf. Das Atmen fiel immer schwerer. Es war, als hätten sich ihm zwei mächtige Fäuste auf die Brust gelegt, um sie einzudrücken.
»Gurwan!« Das Grollen der Erde war so plötzlich verstummt, wie es entstanden war. Noch immer stürzten Felsbrocken knirschend in die Höhle herab. Doch wenigstens zitterte der Boden nicht mehr. Seruuns Herz schlug wie eine Trommel. Vorsichtig tastete er sich zwischen den Felsen hindurch zurück zur großen Höhle. Der Spalt in der Decke war zu einem klaffenden Loch geworden. Breite Lichtbahnen fielen von oben durch den rotgolden glänzenden Staub.
Gurwan lag auf dem Boden. Ein mächtiger Felsbrocken hatte ihm die Beine zerschmettert und ihn halb eingeklemmt. Überall auf dem Boden war Blut zu sehen. Seine Lippen bebten. Als Seruun neben ihm niederkniete, hörte er, daß der Alte das Lied des Seelenflugs sang.
Der Junge griff nach seiner Hand. Sie war kalt. Der Alte drehte sacht den Kopf. Eines seiner Augen war voller Blut. »Nimm mein ... Messer.«
Seruun tastete ungelenk nach Gurwans Gürtel. Das Messer hatte eine lange Klinge aus Stahl. Es war soviel wert wie zwei gute Pferde. Man konnte damit sogar Feuer aus Steinen schlagen! Die Klinge steckte in einer Scheide aus speckigem dunklem Leder. Eine zerzauste blonde Haarsträhne hing vom Griff herab. Angeblich hatte Gurwan in seiner Jugend gegen die Tömör Hümuüs, die Eisenmänner, gekämpft und einem von ihnen die kostbare Waffe abgenommen.
»Wirst du ... meine Seele aus dem ... Knochenkäfig ... befreien? Sie bereitet sich zum Flug.«
»Ich hole Hilfe!« Seruun wollte aufspringen, doch die Finger des Alten krampften sich um seine Hand.
»Keine Hilfe ... Zu spät.« Ein Lächeln zuckte ihm über die Lippen. »Ein guter Platz ... für den Seelenflug. Wolfzahns Höhle. Ich ... werde mit ihm tanzen.«
Seruuns Blick streifte durch die Höhle. Stumm rief er die Geister der Alten um Hilfe an. Sie durften Gurwan noch nicht gehen lassen! Nicht so schnell! Er war noch längst nicht bereit, seinen Platz als Geistertänzer der Windwanderer einzunehmen.
Ein großer Felsbrocken hatte den fünffingrigen Kristall zerschmettert, der den Zauber der Höhle zum Leben erweckt hatte. Nie wieder würde Wolfzahns Sternenhimmel leuchten.
»Warum haben die Geister das getan?« fragte Seruun eher sich selbst als den Alten. »Warum? Wir haben sie geehrt. Wir haben die Herde gehütet, und sie ist groß geworden ...«
»Die Himmelsfaust ...« Gurwans Stimme war nur noch ein leises Röcheln. »Sie ist ... herabgefahren. Der Eisatem ... Spinnenmänner ... Du wirst die Salhin Hült führen. Die Herde ist in Gefahr. Finde das ... weite Tal. Das ist deine Bestimmung, Seruun ... Du mußt über das Wasser ...«
Der Junge beugte sich hinab. Die Stimme des Alten war kaum noch zu verstehen. Als er das Ohr dicht über dessen Lippen brachte, spürte er, wie Gurwan der Atem ausging.
»Die Geister kommen ... aus dem Licht ... Sie fliegen. Laß meine Seele ...«
Seruun verharrte noch lange über den Alten gebeugt. Kein warmer Atem berührte sein Ohr und seine Wange. Er konnte nicht weinen. Es war, als drücke ihm etwas die Kehle zu. Sein eigener Atem ging stoßweise.
Von einem Felsbrocken starrte ihn das grobe Gesicht eines Spinnenmanns an. Lange Zähne wuchsen ihm aus dem Mund. Seine Augen starrten bedrohlich.
Der Staub in der Höhle hatte sich gesenkt, als Seruun endlich die Kraft fand, sich zu erheben. Das Felsstück mit dem Spinnenmann drehte er um, so daß die Fratze zum Höhlenboden zeigte. Sie sollte den Frieden des alten Geistertänzers nicht stören.
Durch das vergrößerte Loch in der Höhlendecke entdeckte Seruun weiße Wolken am Himmel. Dunkel malten sich ziehende Wildgänse vor dem Licht des Sommerhimmels ab.
Seruun zog das Messer und stimmte das Lied des Seelenflugs an. Er beugte sich über den Alten. Er würde seine Seele aus dem Knochenkäfig befreien, so wie Gurwan es gewünscht hatte, und sie dem blauen Himmel entgegenstrecken, damit sie zu den Ahnen aufflöge.