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Das Geschenk des Meers

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Das Kap der Türme, am 13. Tag des Hitzemondes, im 458. Jahr der Abwesenheit Gottes

Mit Beginn der Dämmerung zeigte sich der schneeweiße neue Stern am abendlichen Himmel. Alessandra streckte den Arm aus und peilte über den Rand ihres Daumens. Kein Zweifel: Der Weiße Wanderer war wieder ein wenig gewachsen. Ihr Daumen reichte nicht mehr aus, um das Gestirn mit dem Lichtschweif gänzlich zu verdecken.

Seit dieser Stern vor zehn Tagen zum ersten Mal am nächtlichen Firmament erschienen war, schwatzten die Alten gern über den neuen Gast am Himmel, den sie den Weißen Wanderer oder das Eisauge nannten. Sie ergingen sich in allerlei düsteren Orakelsprüchen über diesen Fremdling zwischen den Sternen.

Die Harpunierin lächelte spöttisch. Wie dumm, sich vor einer Erscheinung zu fürchten, die sich in so weiter Entfernung befand, daß sie hinter einer ausgestreckten Hand verschwand! Die Alten neigten dazu, über alles Neue schlecht zu reden. Wahrscheinlich lag es daran, daß sie keine Zähne mehr hatten. Wem das Fleisch von der Schwiegertochter vorgekaut werden mußte, der hatte allen Grund, von einem neuen Tag eher neues Übel als etwas Gutes zu erwarten.

So ende ich niemals, dachte Alessandra grimmig. Es bestand auch keine allzu große Gefahr, als Walfängerin alt und hinfällig zu werden. Lange bevor sie zur stumpfsinnig brabbelnden Greisin einschnurrte, hätte ein Norga sie zwischen den mächtigen Kiefern zerfleischt.

Alessandra hatte ihr zwanzigstes Jahr noch nicht vollendet, war von hohem, geradem Wuchs und schon jetzt so stark, daß sie ihre Wallanze weiter und treffsicherer schleudern konnte als die meisten anderen Harpuniere in Nantala.

Heute war ihr der Abwesende Gott wohl gesonnen. Bevor die Sonne wieder aufginge, wäre sie eine der reichsten Frauen im Dorf, und den anderen würde es leid tun, sie nicht mit in ihre Boote genommen zu haben.

Seit dem Unglück ihrer Eltern vor sechs Jahren mochte niemand sie in seinem Jagdboot haben. Abergläubisches und hartherziges Fischerpack!

Alessandra reckte trotzig das Kinn, eine Geste, die in den letzten Jahren charakteristisch für sie geworden war. Sie war fest entschlossen, sich ihren Platz in der Welt zu erstreiten, gleichgültig, was die anderen von ihr dachten. Spott machte ihr nichts mehr aus. Flachbrüstig, wie sie war, mit breiten Schultern und schmalen Hüften, wurde sie von den Burschen aus dem Dorf gehässig das Mannweib genannt, und keiner von ihnen hatte ihr bisher begehrliche Blicke zugeworfen. Sie stellten lieber den einfältigen Töchtern des Bootsbaumeisters Jacomo nach. Die hatten langes goldenes Haar, dralle Brüste, gaben keine Widerworte und würden vor allem eine stattliche Mitgift mit in die Ehe bringen. Alessandras Haar hingegen war schwarz und strähnig vom Salz. Außerdem war sie bettelarm, und als sei das noch nicht genug, munkelte man, ein Fluch liege auf ihrer Sippe. Abgesehen von ihrem Onkel Pietro galt sie als die Letzte ihrer Familie. Alle anderen waren auf dem Meer geblieben. Dies schienen keine guten Voraussetzungen, um in einem Fischerdorf beliebt zu sein.

Auch Alessandras Gesicht entsprach nicht den üblichen Schönheitsvorstellungen. Es fehlte ihm die vornehme Blässe jener Mädchen, die kaum das Haus verließen. Sie war braungebrannt – abgesehen von der dünnen weißen Narbe, die ihre linke Augenbraue teilte –, denn von Kindesbeinen an hatte sie sich stets in der Nähe des Wassers aufgehalten. Hohe Wangenknochen und eine hohe Stirn machten ihr Gesicht lang und schmal. Ein Eindruck, der durch ihre dünnen, wenig ausgeprägten Lippen noch unterstrichen wurde. Vielleicht hätte ihr Gesicht asketisch, ja sogar abweisend gewirkt, wären da nicht die sanften graugrünen Augen gewesen, die an die Farbe des Meers an einem bewölkten Sommertag erinnerten. Allen Schicksalsschlägen zum Trotz spiegelten sich darin noch immer die Neugier und die Unschuld einer kindlichen Seele.

»Alessandra!« Orlandos Stimme klang schrill wie Möwengeschrei. »Komm rasch! Von hier oben kannst du sie sehen!«

Der alte Klippenwächter war den breiten, halb unter Geröll und Flugsand verschwundenen Weg ein ganzes Stück vorausgeeilt und hatte bereits den Kamm der schroffen Felswand erreicht, die sich hoch über das Kap der Türme erhob. Fast zwei Wegstunden vom Fischerdorf Nantala entfernt lag dieser verlassene Ort, den nur die Möwen und Orlando besuchten.

»Sieh sie dir an! Sind sie nicht prächtig? Wir sind reich, Alessandra!« Der Alte deutete auf die drei riesigen schwarzweißen Körper, die hilflos tief drunten am steinigen Strand lagen. »Norgawale, nicht wahr?«

Die Walfängerin nickte stumm. Es war unmöglich, die großen schwarzweißen Raubwale mit irgendeinem anderen Meerestier zu verwechseln. Sie musterte den Strand, suchte mit zusammengekniffenen Augen auf dem fleckigen Kies nach jener dünnen Linie aus zersplitterten Muscheln und vertrocknetem Tang, die den höchsten Stand des Wassers markierte. »Wie lange liegen sie schon hier?«

»Sie sind gestern mitten in der Nacht mit der Flut gekommen. Sie haben gequietscht wie Schweine am Spieß. Davon bin ich wach geworden. Ich hab sie von den Klippen aus beobachtet. Die Norgas haben sich den Strand hinaufgeschoben, als würden sie vor etwas flüchten.« Mit seiner breiten Zunge strich sich Orlando kurz über die rissigen Lippen. »Draußen auf See war aber nichts zu sehen.«

Alessandra betrachtete das dunkle Meer. Ein Stück voraus zeichneten sich die Türme in der Gischt ab, denen das Kap seinen Namen verdankte: Kleine, fast kubisch geformte Riffe erstreckten sich in weitem Bogen vor der engen Bucht, die von himmelhohen Klippen aus graublauem Fels gesäumt wurde.

»Ich sehe den Walen oft zu, wenn sie weit draußen vorbeiziehen«, sagte Orlando. »Aber nie ist einer auch nur in die Nähe der Türme gekommen. Was mag sie erschreckt haben?«

»Nichts«, entgegnete Alessandra entschieden. »Dort draußen in der See gibt es nichts, was ein Norga fürchten müßte. Sie zerreißen sogar die großen Kraken, die manchmal aus den Abgründen der See heraufsteigen.«

»Nein, nein, da draußen geschieht etwas!« beharrte der Alte. »Warum sonst sollten sie ins flache Wasser gekommen sein? Kein Wal schwämme ohne Grund hierher!«

»Vielleicht sind sie ja verrückt geworden«, erwiderte Alessandra, mehr, um etwas zu sagen, als weil sie wirklich davon überzeugt war.

Schrilles Gelächter ertönte vom Himmel, fast als wäre der Abwesende Gott plötzlich zurückgekehrt, um sie für diesen widersinnigen Gedanken zu verspotten. Hoch über ihnen schwebte eine Rotkopfmöwe. Mit weit ausgebreiteten, leicht zitternden Schwingen schien sie in der Luft zu verharren und balancierte auf dem Wind, der stetig vom Meer her wehte.

Erneut stieß der große Vogel einen Schrei wie Hohngelächter aus, dann winkelte er die schneeweißen Flügel an und segelte in weitem Bogen zum Strand herab.

»Wo einer dieser verdammten Rotköpfe auftaucht, sind es bald noch mehr!« fluchte Orlando. »Komm, Alessandra, erledigen wir unser Geschäft. Die Wale sind ein Geschenk Gottes an uns. So einfach ist die Erklärung, warum es sie an den Strand verschlagen hat!«

Voll widerstreitender Gefühle folgte die Harpunierin dem Alten, vorbei an seiner windschiefen Hütte, die im Schatten eines abgestorbenen Baums dicht hinter den Kamm des Steilhangs kauerte. Norgas hatten ihr einst die Eltern genommen und das beste Fangboot des Dorfes zerstört. Die Überlebenden hatten ihrem Vater damals die Schuld an dem Unglück gegeben. Er war der Steuermann gewesen. Angeblich hatte er den Strom feiner Luftblasen übersehen, der einen auftauchenden Wal ankündigt, kurz bevor er durch die Wasseroberfläche stößt.

Alessandras Finger schlossen sich fester um den hölzernen Schaft ihrer Harpune. Die Eltern würde sie nie mehr zurückgewinnen, wohl aber das Ansehen und den Reichtum, den ihre Familie einst besessen hatte. Heute gab ihr das Meer zumindest einen Teil dessen wieder, was es ihr einst genommen hatte. Und wer mochte es wissen – vielleicht war sogar jener Wal, der vor sechs Jahren das Boot ihrer Eltern zerstört hatte, unter den gestrandeten Jägern?

Einen Herzschlag lang blickte sie zu dem Eisauge hinauf, das seine helle Spur in den Himmel schnitt. Es hatte ihr Glück gebracht! Dann beeilte sie sich, Orlando einzuholen.

Von der Klippe aus führte ein aus dem Fels geschlagener breiter Weg in weiten Kehren den steilen Abhang hinab. Das Weggefälle war so gering, daß hier selbst Ochsenkarren fahren konnten. Niemand im Dorf wußte noch, wer solchen Aufwand getrieben hatte, um zum schmalen Kiesstreifen einer einsamen Bucht zu gelangen. Etliche Dörfer, die landeinwärts in den Bergen lagen, waren nicht so leicht zu erreichen wie dieser menschenleere Strand, der allein Orlando gehörte.

Der Alte befand sich schon zwei Wegkehren tiefer als sie, als er innehielt, um sich mit einem kurzen Blick zu überzeugen, daß sie ihm auch wirklich folgte. Es schien, als verliehen ihm die sterbenden Wale dort unten noch einmal die Kräfte seiner Jugend. Er war so aufgeregt wie ein Junge, der in den Klippen verborgen ein Nest der seltenen Kronenadler aufgespürt hat, deren Federn man nachsagt, sie seien mächtige Glücksbringer und könnten sogar den Bösen Blick bannen.

Orlando war schon sehr alt. Solange sich Alessandra erinnern konnte, hatte er hier oben auf der Klippe gelebt, und doch nannten die meisten im Dorf ihn abschätzig den Fremden. Er hatte ein spitzes Gesicht, gerahmt von einem tabakfleckigen Stoppelbart und einem dichten schlohweißen Haarschopf. Seine großen dunklen Augen wirkten gehetzt, und sein Blick vermochte selten länger als einen Herzschlag lang an einem Ort zu verweilen. Das Alter hatte Orlando gebeugt, und sein Rücken war krumm wie eine Sichelklinge, so daß er der Harpunierin kaum bis zur Brust reichte. Doch im Gegensatz zu den übrigen Alten, die Alessandra kannte, benutzte er keinen Krückstock.

Jahrein, jahraus trug er ein blassblaues Hemd, an dem die Hälfte der Knöpfe fehlte und aus dem üppiges Brusthaar hervorquoll; dazu eine wadenlange Hose, die schon so oft gewaschen und geflickt worden war, daß man ihre ursprüngliche Farbe unmöglich erraten konnte. Schuhe verachtete Orlando ebenso wie eine Kopfbedeckung, und Alessandra konnte sich erinnern, ihn selbst im kalten Winterregen barfuß gesehen zu haben.

Das auffälligste Merkmal des Alten war jedoch jene Axt, die stets von dem geteerten Tauende herabhing, das er als Gürtel benutzte. Wohin immer er ging, nahm er sie mit, und Orte, die man mit einer Waffe nicht betreten durfte – so wie den Hain der Stehenden Steine oder die große Versammlungshalle im Dorf –, mied er. Es handelte sich um eine kleine, einhändig zu führende Holzfälleraxt, deren Blatt er schon so oft nachgeschliffen hatte, daß es unnatürlich kurz wirkte. Der unterarmlange Griff war mit Lederstreifen umwickelt, die der Schweiß des Alten über Jahre hinweg dunkel gefärbt hatte.

Die Aufregung schien seinen Schritten Flügel zu verleihen. Erst an der letzten Wegkehre vor dem Strand holte Alessandra ihn wieder ein.

»Warum hast du ausgerechnet mich gerufen, um die Norgas zu töten? Ich bin die jüngste und am wenigsten erfahrene Harpunierin im Dorf.«

Orlando hielt inne und drehte sich zu ihr um. »Du warst die erste, der ich über den Weg lief. Und deine Beine sind jung ... Ich wollte keine Zeit verlieren. Das Meer hat mir die Norgas geschenkt. Vielleicht nimmt es sie uns auch wieder ...« Seine dunklen Augen hatten einen harten Ausdruck angenommen, während er sprach. Es war ihm ernst!

»Du kennst die Gesetze der Küstenfahrer?« fragte Alessandra. »Wenn ich die Norgas töte, habe ich Anspruch auf die Beinaugen und den dritten Teil von allem, was die Wale dir einbringen. Warum hast du sie nicht selbst erschlagen, wenn du solche Sorge hast, sie könnten zurück ins Meer entkommen? Dann hättest du nur mit den Flensern, die die Wale zerlegen, und den Ölsiedern teilen müssen. Das hätte dich lediglich den zehnten Teil der Beute gekostet.«

Der Alte strich über die Axt an dem behelfsmäßigen Gürtel. »Und es hätte mich ein Bein oder einen Arm kosten können. Mit meiner Kleinen müßte ich viel zu nahe an die Biester heran.« Orlando bedachte sie mit einem zahnlückigen Grinsen. »Das ist deine Aufgabe. Verdien dir den dritten Teil!«

Alessandra kniff trotzig die Lippen zusammen und reckte das Kinn. Zweifelte Orlando an ihr? Mit vierzehn hatte sie ihren ersten Wal harpuniert. Doch nach dem Unfall ihrer Eltern nahm man sie nicht mehr mit aufs Meer hinaus. Deshalb war sie allein zu den Riffen vor der Küste geschwommen und hatte auf Tümmler und Schwertfische gelauert, die manchmal nahe an die Klippen herankamen. Einmal, als sie wochenlang kein Jagdglück gehabt hatte, war sie sogar zu der flachen Insel geschwommen, die weit draußen vor dem Kap der Türme lag, und hatte einen der großen Seeelefantenbullen erlegt. Die Prämie für seine langen elfenbeinernen Stoßzähne hatte sie damals über den Winter gebracht. Wenn Orlando glaubte, es mangle ihr an Mut oder Entschlossenheit, um ein paar gestrandete Norgas zu erlegen, dann hatte er sich getäuscht!

Kies knirschte unter ihren Stiefeln, als sie das kurze Stück zum Ufer hinabging. Die Wale lagen ganz still. Einer der beiden kleineren stieß ein Schnauben aus, das wie ein langer Seufzer klang.

Alessandra war nahe genug heran, um zu erkennen, daß die Augen der Tiere ganz mit blutigem Schleim verklebt waren. Sie konnten sie nicht kommen sehen. Prüfend wog sie die schwere Harpune in den Händen. Da sie heute nicht zu jagen vorgehabt hatte, war ihre Jagd- und Schutzwaffe schon in der Frühe von der langen Fangleine befreit worden. Geduldig hatte Alessandra den schwierigen Knoten gelöst. Verglichen mit den riesigen Tieren, erschien ihr die Waffe nun lächerlich klein. Und doch würden sich die Norgas nicht gegen sie wehren können, wenn sie es nur richtig anstellte. Sie durfte lediglich den Kiefern mit den handlangen Zähnen nicht zu nahe kommen.

Vorsichtig pirschte sie sich seitlich an den kleinsten der Wale heran. Verräterisch knirschte der Kies. Wie gut konnten die Norgas wohl hören? Selbst der kleinste der drei Raubwale maß vom Kopf bis zur Schwanzspitze mehr als vierzehn Schritt. Ein Hieb mit seiner Schwanzflosse hätte mühelos ein Walfangboot zerschmettert. Doch hier nutzte ihm diese schreckliche Waffe ebensowenig wie die gewaltigen Kiefer. An Land war der Räuber wehrlos, jedenfalls solange sich die Harpunierin seitlich von ihm hielt.

Alessandra hob die Harpune mit beiden Händen. Sie würde ihm den funkelnden Stahl seitlich in den Rücken stoßen, dort hinein, wo das kleine Blasloch saß. An dieser Stelle liefen mehrere große Adern zusammen; so hatte es ihr einst ihre Mutter beigebracht. Wenn man die Stelle genau traf, konnte man selbst dem größten Wal eine tödliche Wunde beibringen. Verfehlte man aber sein Ziel, war die Harpune wenig mehr als ein Spielzeug. Alessandra erinnerte sich an Geschichten über Wale, die ein Dutzend und mehr Lanzen im Rücken stecken hatten und immer noch ungestüm die Jagdboote angriffen.

Die Harpunierin biß die Zähne zusammen und stieß zu. Fast ohne auf Widerstand zu stoßen, glitt die widerhakenbesetzte Spitze der Waffe durch die Speckschwarten des Wals. Hilflos peitschte er mit der Schwanzflosse auf den Kies. Im selben Augenblick, da ihn die Waffe traf, stießen die beiden anderen Norgas glucksende tiefe Laute aus.

Eine Fontäne aus Blut schoß aus dem Blasloch und besudelte Alessandra, die sich mit aller Kraft bemühte, die Harpune aus dem Körper des Tiers zu ziehen.

Vom Meer her erklang ein unheimlicher, langgezogener Heulton voller Traurigkeit.

»Da draußen sind noch mehr Norgas!« schrie Orlando und wich bis an den Fuß der Steilklippe zurück.

Blut rann Alessandra in Augen und Mund. Fahrig wischte sie sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Ihre Hände zitterten vor Anstrengung. Das Walblut schmeckte bitter und metallisch. Mit einem Ruck löste sich schließlich die Waffe. Faseriges Fleisch haftete an den Widerhaken.

»Herr, vergib mir«, murmelte sie die rituelle Abbitte an den Abwesenden Gott. »Ich tötete dein Geschöpf ohne Zorn, und ich verspreche dir, daß nichts von ihm vergeudet sein soll.«

Die blutige Fontäne, die dem Wal aus dem Rücken schoß, wurde mit jedem pfeifenden Atemzug flacher. Während sie vorsichtig die halb geöffneten Kiefer des Tiers mied, zog sich Alessandra zurück. Es dauerte eine ganze Weile, bis mehr als vierzig Tonnen Fleisch hinnahmen, daß das Leben sie verlassen hatte.

Die drei Wale lagen dicht nebeneinander auf dem Strand, der größte von ihnen in der Mitte. Die beiden anderen hatten sich so dicht an das Leittier gedrängt, als wollten sie es mit ihren Leibern schützen. Wer immer sich ihm also nähern wollte, geriet in Reichweite seiner Reißzähne oder der gewaltigen Schwanzflosse.

Mit angehaltenem Atem zog sich die Harpunierin ein Stück zurück und schlug dann einen weiten Bogen, um seitlich an den noch lebenden kleineren Wal heranzukommen. Obwohl seine Augen mit zähflüssigem Schleim überzogen waren, hatte sie das beunruhigende Gefühl, daß der alte Wal jede ihrer Bewegungen wahrnahm.

Als sie seine Flanke erreicht hatte, begann seine Seitenflosse zu zucken, und er stieß einen Laut aus, der an ein menschliches Stöhnen erinnerte. Wenn ich die Tiere töte, befreie ich sie von ihren Qualen, dachte Alessandra. Sie gehen hier am Strand ohnehin jämmerlich zugrunde.

Die Walfängerin hob ihre Waffe und stieß erneut mit aller Kraft zu. Wieder hatte sie zielsicher den stark durchbluteten Bereich hinter dem Blasloch getroffen. Noch einmal wiederholte sich das grausige Schauspiel der Blutfontäne.

Mit einer geschickten Drehung befreite Alessandra die Wallanze aus dem Fleisch und trat dem dritten Norga gegenüber. Sie fühlte sich wie ein Metzger und nicht wie eine Jägerin. Dann dachte sie an das viele Geld, das ihr die Beute bringen würde.

Sie blinzelte. Erneut war ihr Blut in die Augen gelaufen. Das Meer hatte den roten Sonnenball schon fast ganz verschluckt, und auf dunklen Schwingen näherte sich von Osten her die Nacht. Böiger Wind trieb Wellen gegen den Strand. Ein dunkler Strom aus Blut vermischte sich mit dem Wasser, und der schmale Gischtkranz zwischen Land und Meer färbte sich rot.

Der letzte der drei Norgas mußte mehr als hundert Jahre alt sein. Nie zuvor hatte Alessandra einen so großen Raubwal gesehen. Sein langgezogener Kopf war von tiefen Narben übersät, die an manchen Stellen ein so dichtes Geflecht bildeten, daß sie wie die verschlungenen Glyphen einer unbekannten alten Schrift wirkten.

Das Blut seiner sterbenden Brüder war auch über den alten Wal gespritzt und lief ihm in zähflüssigen Schlieren vom Rücken herab, wobei es sich in den Verkrustungen der Narben sammelte. Besonders deutlich traten diese auf der langgezogenen weißen Blesse hinter dem rechten Auge hervor. Es waren die runden Male der Saugnäpfe riesiger Oktopoden, mit denen der Wal einst gekämpft hatte, und die breiten, kantigen Schnitte der Schnäbel dieser vielarmigen Ungeheuer. Etwas seitlich im Rücken des Norgas steckten zwei abgebrochene Harpunen.

Ob der Wal auch schon Menschen angegriffen hat? schoß es Alessandra durch den Kopf. Bei seiner Größe könnte er sogar den schweren Küstengaleeren der Kriegsmarine oder den dickbauchigen Fangschiffen aus den großen Häfen gefährlich werden, die sich weit aufs Meer hinauswagen, um den großen Walherden nachzustellen.

Der alte Norga tat einen schwerfälligen Atemzug. Das Gewicht seiner dicken Speckschwarten preßte auf die Lungen. Hier an Land, wo der Auftrieb des Wassers seinen Körper nicht mehr stützen konnte, würde ihn das eigene Gewicht langsam ersticken.

Der Wal blinzelte, und der Schleimfilm auf seinem Auge zerriß. Er sah Alessandra an. Es war mehr als nur der Blick eines Tiers. Er verstand sie und schien ihr mit seinem Auge, dunkel wie die tiefsten Abgründe des Ozeans, unmittelbar ins Herz zu schauen. Sein Blick hatte etwas Zwingendes, und so absurd dieser Gedanke auch war: Alessandra hatte das Gefühl, daß der alte Wal auf den Strand geschwommen war, weil er von ihr harpuniert werden wollte.

Sie sprang vor und stieß ihre Lanze in das Auge des Jägers. Das unheimliche Band zerriß, das einige Herzschläge lang zwischen ihr und dem Norga bestanden hatte. Tief drang der Stahl in sein Gehirn und trennte den Tierleib vom Leben.

Alessandra taumelte zurück, strauchelte und fiel in den Kies. Ihre Hände zitterten und wollten nicht zur Ruhe kommen. »Herr, vergib mir«, stammelte sie die Liturgie der Waljäger. »Ich tötete dein Geschöpf ohne Zorn, und ich verspreche dir, daß nichts von ihm vergeudet sein soll.«

Hinter sich hörte sie Schritte. Eine Hand legte sich ihr auf die Schulter. »Das hast du gut gemacht, Mädchen«, erklang die wohltönende dunkle Stimme Orlandos. »Deine Mutter wäre stolz auf dich gewesen.«

Alessandra antwortete nicht. Obwohl es ein warmer Sommerabend war, fror sie. Blutverkrustet klebten ihr die Kleider wie eine zweite Haut am Leib.

»Du siehst aus wie ein Neugeborenes, das man gerade aus dem Mutterleib geholt hat«, scherzte Orlando.

Er blieb eine ganze Zeit hinter ihr stehen und teilte mit ihr das Schweigen. Als er schließlich begriff, daß sie nicht reden wollte, zog er die Hand zurück. »Ich gehe ins Dorf und hole die Flenser und die Ölkocher. Am besten zerlegen wir die Norgas gleich hier unten am Strand.« Knirschend entfernten sich seine Schritte über den Kies.

Ungelenk mit den Flügeln schlagend, landete eine Rotkopfmöwe auf dem Rücken des kleinsten Wals und hüpfte zu der Stelle, wo Alessandras Harpune eine klaffende Wunde gerissen hatte. Prüfend blickte der Vogel in Alessandras Richtung, dann verschwand sein rotfaltiger häßlicher Kopf fast gänzlich in der blutigen Öffnung.

Krächzend landeten noch zwei weitere gierige Aasräuber bei den Walkadavern.

Alessandra warf einen flachen Stein nach ihnen, doch er verfehlte sein Ziel.

Schon kreisten neue Möwen hoch über den Steilklippen. Nicht mehr lange, und der schmale Strandstreifen würde von Rotköpfen nur so wimmeln.

Müde stemmte sich Alessandra hoch. »Weg mit euch!«

Die erste Möwe, die auf dem Walrücken gelandet war, blickte erschrocken auf. Ein faseriger Fleischfetzen hing ihr aus dem Schnabel.

Alessandra bückte sich und hob eine Handvoll Steine auf.

Als ahnte die Möwe, was nun käme, hüpfte sie eilig davon. Auch die anderen Räuber zogen sich vorerst ein Stück den Strand hinab zurück.

»Ich habe zu oft gehungert, um jetzt mit euch zu teilen!« rief die Jägerin wütend. »Keine Unze Fleisch werdet ihr mir stehlen!«

Dort, wo sie eben noch am Strand gesessen hatte, landete eine weitere Rotkopfmöwe. Alessandra wußte: Solange sie dicht bei den Walen stand, solange sie schrie und ab und zu mit Steinen warf, würden die gierigen Räuber Abstand halten.

Sie zog das lange gekrümmte Messer aus der Lederscheide an ihrem Gürtel und drehte sich zu den Walen um. Mit kräftigen Schnitten kerbte sie ihr Zeichen in die Stirn des großen Norgas. Von ferne sah es aus wie ein Kreuz. Bei genauerem Hinsehen war ein stilisiertes Jagdboot zu erkennen, das zwischen den Kiefern eines senkrecht aus dem Wasser hervorstoßenden Norgas zertrümmert wurde.

Unter den aufmerksamen Blicken der immer größer werdenden Möwenschar schnitt sie das Zeichen auch in die Haut der kleineren Wale. Jeder Harpunier kennzeichnete seine Beute mit einem solchen Symbol. Danach entwand sie ihre Lanze dem Schädel des alten Tiers.

»Seht ihr das, ihr Gesindel?« schrie Alessandra die Möwen an. »Dies ist mein Gut! Und wer immer etwas davon stiehlt, soll verflucht sein. Ich werde euch ...« Sie biß sich auf die Lippen. Was tat sie da? Sie gebärdete sich ja wie eine Wahnsinnige. Es gab keinen Grund, sich so aufzuregen. Es waren doch nur Möwen.

Mit der Linken kramte sie in einer der Taschen ihrer engen Hose, bis sie einen Brocken Kautabak fand. Zufrieden grunzend biß sie ein Stück von der zähen Masse ab und ging dann in die Hocke. Der Tabak brannte angenehm auf der Zunge. Sie streckte die Arme von sich und betrachtete ihre Hände. Sie zitterten nicht mehr. Lässig pickte sie einige runde Kiesel auf. Sollten die Möwen nur kommen. Diesmal würde sie die frechen Räuber nicht verfehlen.

Alessandra lehnte sich mit dem Rücken an den Kadaver des alten Norgas und betrachtete das Eisauge am Nachthimmel. Es hatte ihr Glück gebracht. Sie war eine reiche Frau.

Der Wahrträumer

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