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Fleisch

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Drei Tagesreisen entfernt, in Monte Flora, der Hauptstadt der provincia Cornia, zur gleichen Stunde

Mit dem Erwachen kehrte auch der Schmerz zurück. Benommen wurde sich Francisco bewußt, daß er wohl Fieber hatte. Kalter Schweiß perlte ihm über das Gesicht. In der linken Seite, knapp unter dem Rippenbogen, spürte er ein beständiges, dumpf schmerzendes Pulsieren, als schlüge dort ein zweites Herz.

Francisco blinzelte. Er sah verschwommen, doch er begriff daß er nicht in seiner Kammer war. Er war doch in seiner Kammer gewesen!

Dieses Mädchen hatte ihn mit dem Fischspeer niedergestochen. Daran erinnerte er sich noch in aller Klarheit. Carlos hatte ihn versorgt. Eine Trage zwischen zwei Pferden. Der kalte Stern am Nachthimmel. Alle Erinnerungen nach dem Mordanschlag waren undeutlich, doch er war sich nicht sicher, in welcher Reihenfolge die Geschehnisse erfolgt waren.

In dem weiß verputzten Gewölbe über ihm klaffte ein breiter Riß. Wo war er? Es roch unangenehm in dieser Kammer, wie nach fauligem Fleisch. Er wollte den Kopf drehen, doch seine Kraft reichte dazu nicht aus. Er lag nicht im Bett. Dafür war die Unterlage zu hart. Seine Finger ertasteten feine Rillen. Eine Holzplatte? Francisco war sich sicher, in der Kammer allein zu sein. Aber er hörte auch Stimmen. Ein gedämpftes Murmeln, ganz in der Nähe.

Wieder betrachtete er den Riß in der Decke. An der breitesten Stelle klaffte er mehrere Zoll auseinander. Es war nicht allein der Putz, der beschädigt war. Auch das gewölbte Mauerwerk der Decke war aufgerissen. Francisco spürte, daß er sich an etwas erinnern sollte. Der Riß, er war die Erklärung für ... etwas Wichtiges.

Es war heiß in der Kammer. Durch ein kleines Fenster sah er ein Stück Himmel. Welche Tagesstunde es wohl sein mochte? Dicht beim Fenster stand auf einem Dreibein eine Pfanne mit glühenden Kohlen. Wozu denn aber das Zimmer wärmen bei dieser Hitze?

Bei der Kohlenpfanne stand ein Tisch mit einer Wasserschale und anderen Gefäßen. Auch ein Tuch war dort ausgebreitet. Etwas Flaches, Metallisches lag darauf. Doch er konnte nicht erkennen, was es war.

Francisco konnte sich erinnern, daß sie Monte Flora erreicht hatten. Die Straßen waren voller starrender Gesichter gewesen. Aber dies konnte weder der Palast des princeps Bernaldino noch das castrum dei sein. Dort gab es keine Räume mit rissigen Decken. Hatte man ihn vielleicht in einen Kerker geworfen, weil er in seiner Mission gescheitert war?

Die Tür öffnete sich. Der princeps Bernaldino trat ein. Ihm folgte ein Priester in weißer Kutte, den Francisco nicht kannte. Der Fremde war ein bulliger Mann, der über seinem Ordenskleid eine speckige Lederschürze trug.

»Mein lieber Freund, welch einen Tag hast du gewählt, um zum Blumenberg zurückzukehren!« Bernaldino trat an seine Seite und legte ihm die Hand auf die Stirn. Sie fühlte sich angenehm kühl an.

Der princeps und der Fremde tauschten einen kurzen Blick. »Das Fieber ist nicht gesunken«, sagte der Kirchenfürst.

»Ich ... ich bitte um Verzeihung.« Francisco erschien die eigene Stimme fremd. Sie war schwach und rauh.

Bernaldino schüttelte den Kopf. »Nicht doch, Bruder! Carlos hat mir alles berichtet. Dich trifft keine Schuld.« Der princeps lächelte mild. Er hatte kurzgeschorenes hellblondes Haar und eine dunkle Haut. Deutlich sah man ihm an, daß unter seinen Ahnen eine der Wilden aus dem fernen Belabadangbarad gewesen sein mußte. Er war ein kleiner Mann mit schmalen Schultern und einem gütigen Gesicht. Seine dunkle Haut stand in angenehmem Kontrast zu seiner strahlendweißen Soutane. Allein der mit Goldstickerei gefaßte, schmale purpurne Streifen am Stehkragen verriet, daß Bernaldino ein Kirchenfürst war. Ansonsten unterschied sich seine Soutane in nichts vom Gewand eines einfachen Priesters.

Der Wissende freilich kannte den Wert der Knöpfe, mit denen das Priestergewand geschlossen wurde. Je bedeutender ein Priester war, desto außergewöhnlicher fielen die länglichen Knöpfe aus. Auf den ersten Blick schienen sie alle gleich zu sein. Manche wirkten vielleicht ein wenig gelblich, doch in der Form unterschieden sie sich nicht. Erst bei näherem Betrachten erkannte man die eingeschnittenen Schriftzeichen. Es waren Namen. Die Namen jener, denen einst die Knochen gehört hatten, aus denen diese Knöpfe geschnitzt waren.

An der Soutane eines einfachen Priesters find man selten bedeutende Namen. Die Knöpfe waren aus den Gebeinen des riesigen Heers von Klerikern gefertigt, deren Namen nur allzuschnell nach ihrem Ableben in Vergessenheit gerieten. Doch bei einem princeps, dem obersten Geistlichen einer ganzen Provinz, sah das anders aus. So war einer seiner Soutanenknöpfe aus einem Fingerknochen der Heiligen Sarmantha geschnitzt, die nach der Entrückung Aionars der Priesterschaft und der Vielzahl frommer Orden neue Hoffnung gegeben hatte.

Man verwendete die Knochen, um der Namen der Verstorbenen zu gedenken. Auch glaubten viele, daß etwas von der Kraft der Heiligen in ihren Gebeinen verbleibe, und daß es leichter sei, ein beispielhaftes Leben als Priester oder Ordensbruder zu führen, wenn man ein Stück vom Knochen eines gedenkenswerten Toten bei sich trug.

Der fremde Ordensbruder schlug das dünne weiße Leintuch zurück, mit dem Francisco zugedeckt war. Erschrocken entdeckte der collector, daß er, abgesehen von einem fleckigen Verband um den Bauch, nackt war. Er wollte die Hände heben, um seine Scham zu bedecken, doch ihm fehlte die Kraft dazu.

»Ruhig, mein Freund«, erklang die warme Stimme des princeps. »Bruder Andres wird nun den Verband lösen und deine Wunde betrachten. Er ist der beste Heilkundige in meinem Palast. Du bist in guten Händen, Francisco.«

Der collector starrte auf den breiten Riß in der Decke. Im Palast des princeps? Das konnte nicht sein. Niemals hätte Bernaldino geduldet, daß sich ein Zimmer seines Hauses in einem solchen Zustand befand.

Der Kirchenfürst folgte Franciscos Blick. »Wir haben Glück gehabt. Im Palast sind die meisten Gebäude nur leicht beschädigt worden. Doch im castrum dei ist der ganze Südflügel eingestürzt. Noch schlimmer hat es die Stadt getroffen. Wenigstens sind inzwischen die meisten Brände gelöscht.«

»Ein Beben?« hauchte Francisco. Jetzt konnte er sich undeutlich erinnern, daß die Pferde gescheut hatten und er von der Trage gestürzt war.

»Du erinnerst dich nicht? Kurz nachdem du in die Stadt kamst, Bruder. Es war das schlimmste Beben, das Monte Flora je erlebte. Neun Stunden sind seitdem vergangen.«

Francisco zuckte zusammen, als ihm der Verband von der Wunde gelöst wurde. Ein bestialischer Gestank stieg ihm in die Nase. Welch widerliche Salben dieser Ordensbruder verwendete! Warum mußte das so stinken und ... Kurz nachdem du in die Stadt kamst. Die Worte des princeps hallten in Franciscos Ohren wider. Es fiel dem collector schwer, geradlinig zu denken.

»Das Ritual der Endgültigen Askese ... wurde es vollendet?« Etwas Kühles schmiegte sich eng um seinen rechten Oberschenkel.

»Nein«, entgegnete der princeps knapp. »Die beiden anderen Auserwählten sind gestorben. Wir mußten ihnen Masken anlegen. Sie sind auf dem Sternenhof verdurstet. Ein Bauer und der Sohn eines Händlers. Ihr Tod war vergebens. Das Ritual mußte unvollkommen bleiben. Der dritte Auserwählte fehlte. Dieses Fischermädchen. Die Mörderin!«

Ein kühles Band schloß sich um Franciscos rechten Fußknöchel. Er versuchte den Kopf zu heben, um zu sehen, was der Ordensbruder mit ihm vorhatte, doch Bernaldino drückte ihn sanft zurück. »Nicht! Schone deine Kräfte. Wer hätte voraussehen können, daß dieses Mädchen es wagt, eine Waffe gegen ihren collector zu richten. So etwas ist noch nie zuvor geschehen.«

Auch um Franciscos linkes Bein hatten sich nun zwei Bänder geschlossen.

»Ich will Buße tun ...«

Der princeps blickte ihn auf eine eigentümlich eindringliche Art an. »Das ist dir bestimmt. Ich bin hier, um dir in dieser schweren Stunde Beistand zu leisten und an deiner Seite zu stehen, falls du deine letzte Reise antrittst.«

Francisco war verwirrt.

Bruder Andres nahm nun seinen rechten Arm. Jetzt endlich konnte er sehen, was der Ordensbruder mit ihm machte. Er schnallte ihn mit breiten Lederriemen auf dem Tisch fest.

»Was ...«

Bernaldino wirkte überrascht. »Ist dir nicht bewußt, welche Prüfung dir Aionar auferlegt hat?«

Francisco schluckte. Ihm war klar gewesen, daß er für sein Versagen büßen würde. Doch nicht so! »Ich ...«

»Riechst du es denn nicht?«

Natürlich roch er den Gestank. Das ganze Zimmer war erfüllt davon. Doch was hatte dies mit dem Ordensbruder in der Metzgerschürze und seinem Vorhaben zu tun? Jetzt sah Francisco die dunklen Flecke auf dem Leder mit anderen Augen.

Auch sein rechter Arm wurde festgeschnallt.

Der princeps war zur Seite getreten. Als er zurückkam, hielt er eine kurze Säge mit einem breiten Blatt in der Hand. Blinkend brach sich das Licht in dem polierten Metall.

Von einem Herzschlag zum anderen war die Hitze des Fiebers aus Franciscos Leib gewichen. Sosehr er sich auch bemühte, jedes Zeichen fleischlicher Schwäche zu unterdrücken, konnte er doch nicht verhindern, daß seine Glieder zu zittern begannen, als der princeps ihm das breite Sägeblatt auf den Bauch setzte. Er hielt die Säge seltsam. Hochkant. Er drehte sie leicht hin und her. »Siehst du es?«

Francisco konnte in dem spiegelnden Metall seine Wunde sehen. Ihre Ränder waren ausgefranst und hatten sich dunkel verfärbt.

»Bruder Andres wird dir besser erklären können, wie es um dich steht.«

Der Ordenspriester hatte Francisco inzwischen zwei weitere Lederbänder um Brust und Taille geschnallt. Nun rollte er die Ärmel seiner Kutte hoch und musterte den collector mit ruhigen braunen Augen. Seine Stimme jedoch stand in eigentümlichem Gegensatz zu der Ruhe, die er ausstrahlte. Sie war schrill und eine Spur zu hoch, fast wie bei einem Knaben, der zum Mann wird.

»Wie du sehen und sicherlich auch riechen kannst, ist deine Wunde brandig geworden, Bruder Francisco. Die giftigen Säfte, die dein Fleisch entstehen läßt, werden dich binnen zwei Tagen töten. Eine gewöhnliche Wundheilung ist aufgrund der starken entzündlichen Veränderung vollkommen ausgeschlossen. Das liegt unter anderem auch daran, daß die Waffe, die dich verletzte, keinen glatten Schnitt verursachte, sondern dein Fleisch regelrecht zerriß. Der hohe Blutverlust, der mit der Verletzung einherging, hat deinen Körper geschwächt. Deshalb kann ich dir keinen Trunk aus Schlafmohn verabreichen. Es wäre ungewiß, ob du jemals wieder aufwachen würdest, wenn ich es täte.«

Der Heiler räusperte sich leise und trat zu der flachen Schüssel, die auf dem Tisch neben der Feuerschale stand. Er wusch sich die Hände, während er weiter zu Francisco hinüberblickte und redete. »Ich werde nun das brandige Fleisch wegschneiden. Wenn die üblen Säfte nicht zu tief eingedrungen und deine Organe noch nicht angegriffen sind, wirst du den Eingriff vielleicht überleben. Du wirst große Schmerzen erleiden. Sei stark und bleib bei Bewußtsein, wenn du kannst, denn wenn du die Augen schließt, dann ist es womöglich für immer. Wenn die Wunde gesäubert ist, werde ich sie mit einem glühenden Eisen ausbrennen. Nur so besteht Aussicht, daß dein Fleisch gesundet und eine Wundheilung eintritt.«

Francisco begriff. Das war also seine Buße. Die Strafe für sein Versagen. Aionar hatte ihn mit dem Makel der Krankheit gezeichnet, und nur seine eigene Stärke würde ihn läutern können.

»Ich werde bei dir sein«, erklang die sanfte Stimme Bernaldinos. Der princeps legte ihm behutsam die Hände aufs Haupt, als wolle er ihn segnen.

»Möchtest du ein Beißholz, Bruder?« fragte Andres.

»Nein.« Francisco war entschlossen, diese Prüfung zu bestehen. Er würde nicht schreien. Er war stark, und er hatte eine Bestrafung verdient! Es war das erste Mal, daß er gefehlt hatte.

Der collector starrte in die himmelblauen Augen seines Kirchenfürsten. Sein Körper spannte sich. Er preßte die Lippen zusammen und begann stumm das Lob des Heiligen Escobar zu beten, jenes Märtyrers, den die Heiden gefangen und hundert Tage lang gefoltert hatten, damit er dem Glauben an Aionar abschwöre. Escobar hatte dieser Prüfung standgehalten. Und so stark wie er wollte auch Francisco sein.

Schon der erste Schnitt schmerzte, als würde ihn der Fischspeer noch einmal durchbohren. Schlimmer noch war allerdings der Gestank, der sich ausbreitete, als Bruder Andres die Wunde öffnete. Es stank schlimmer als im Gerberviertel an einem Sommertag.

Fäulnis! Die Strafe Gottes. Er war schwach gewesen. Und nun verfaulte das Fleisch seines Körpers, das nicht stark genug gewesen war, den Willen Aionars durchzusetzen.

Francisco stellte sich vor, wie der Schmerz gleich einer Flamme den Eintrag des Versagens aus dem Buch seiner Schuld brennen würde.

Der collector hatte den Faden in seinem Lob des Heiligen Escobar verloren. Immer unerträglicher wurde der Schmerz. Sein Körper schien wie aus Stein, so sehr spannte er sich in den Lederfesseln. Warum war er nicht so wie die Heiligen? Ohne Fehl und stets Aionar ergeben. Doch er konnte nicht einmal ein Gebet zu Ende sprechen. Wütend knirschte er mit den Zähnen. Was das Gebet nicht vermochte, vermochte sein Zorn. Für wenige Herzschläge gelang es Francisco, den Schmerz zu verdrängen.

»Du wirst deine Zähne zerbrechen, Bruder, wenn du sie so fest zusammenbeißt. Willst du nicht doch das Holz?«

Francisco sah Andres durch einen Tränenschleier und schüttelte schwach den Kopf.

»Wie du meinst.« Der Ordensbruder holte eine flache Schale und stellte sie auf den Tisch. Seine Hände waren mit Blut und dunklem Wundsekret verschmiert.

Wieder schnitt er. Dann hörte Francisco ein leises Platschen. Ein neuer Schnitt und wieder das Platschen. Aus den Augenwinkeln sah der collector, wie Andres faulige Fleischstückchen in die Schale fallen ließ. Plötzlich spürte er seine Beine kaum noch. Eisige Kälte kroch seine Glieder entlang.

Wieder ein Platschen. Mehr als jeder Schmerz untergrub dieses Geräusch seine Kraft zum Widerstand. Als das vierte Fleischstück in die Schale fiel, begann Francisco zu schreien.

Der Wahrträumer

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