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6_Ludwigs erste Hundeführerkarriere
ОглавлениеLudwigs Mutter war es nur recht, wenn Ludwig sie zum Putzen in der Villa Strauss begleiten wollte. Er konnte ihr die Tasche tragen und dort dann schon einmal alle Papierkörbe runterbringen und ihr auch sonst zur Hand gehen.
An sich, fand Ludwig, an sich gab es bei Straussens ja genügend Personal, eine Köchin mit einer Gehilfin, ein Zimmermädchen und einen Gärtner, der auch allerlei Hausmeisterdienste mit versah, sodass man auf die Dienste seiner Mutter eigentlich nicht angewiesen gewesen wäre. Aber er hatte den Eindruck, dass das Personal, das ihm manchmal etwas hochnäsig vorkam und nicht nur ihn, sondern auch seine Mutter herumkommandierte, die gröberen Putzarbeiten gerne an seine Mutter abtrat. Die Mutter aber war froh, das wusste er, dass sie noch etwas dazuverdienen konnte. Auch sonst halfen sich die beiden Häuser Zabener und Strauss bei besonderen Anlässen gegenseitig mit Personal aus. Der Konsul Zabener und Dr. Strauss waren seit Langem befreundet, beide waren Kriegsfreiwillige gewesen und ‚Frontkämpfer vierzehn/achtzehn‘, wie sie betonten, beide ehemalige Reserveoffiziere. Dr. Strauss war einer der großen Rechtsanwälte in der Region, in einer Kanzlei mit mehreren Anwälten, unter denen er, der Wirtschaftsspezialist, der einzige Jude war.
Ludwig ging auch sonst im Haus von Dr. Strauss ein und aus, nicht nur, um ab und zu Bienchen zu besuchen, sie war ja etwas älter als er, sondern vor allem, um die beiden großen Hunde auszuführen. Das waren echte Alsatians, wie Dr. Strauss gern kundtat, die viel Auslauf brauchen, wobei man sich jedoch von diesem fremdländischen Rassenamen nicht blenden lassen sollte, denn dieser entsprang der Anglophilie von Dr. Strauss, die seine Frau seinen England-Spleen nannte. Alsatians sind nichts weiter als gewöhnliche Schäferhunde, deutsche noch dazu, nicht etwa elsässische, und das waren diese beiden auch, allerdings zwei wunderschöne Exemplare.
Das tägliche Ausführen dieser Tiere aber war allen im Haus im Laufe der Zeit zunehmend lästig geworden, besonders der Köchin, die es schmerzte, dass ihre Liebe von den Hunden überhaupt nicht erwidert wurde und auch ihre ständigen Bestechungsversuche – für sie als Köchin leicht zu bewerkstelligen – erfolglos geblieben waren. So war Ludwigs Bereitschaft einzuspringen allseits willkommen, umso mehr, als die Hunde beim Aufbruch zu den Spaziergängen Ludwig deutlich bevorzugten, denn dieser tobte mit ihnen herum, ließ sie unterwegs Stöcke apportieren, rannte auch einmal eine längere Strecke mit ihnen und ließ keine Abweichung vom bürgerlichen Fußweg, die sich bot, ungenutzt. Waren sie dann zurückgekommen, Ludwig gewöhnlich noch mehr außer Atem als die Hunde, dann war man schnell mit der Ermahnung bei der Hand, dass er es doch nicht allzu wild treiben möge. Aber Ludwig antwortete schnaufend, er spüre ganz deutlich, dass diese Hunde beschäftigt werden wollten und auch beschäftigt werden müssten. Und er wisse auch genau, wann es ausreichend sei oder gar zu viel würde. So etwas spüre er einfach.
Überhaupt war Ludwigs Verhältnis zu den Hunden, aber eben auch deren Verhältnis zu ihm, bemerkenswert eng. Schon wenn er kam, waren die Hunde, oft noch bevor er geläutet hatte, außer Rand und Band. Weiß der Teufel, wie sie sein Kommen bemerkten, jedenfalls sprangen sie auf, bellten, liefen aufgeregt hin und her und behielten die Tür, zu der er gleich eintreten würde, im Auge. War er dann da, so sprangen sie mit Lauten, die wie ein helles Stöhnen klangen, an ihm hoch, versuchten sein Gesicht abzulecken (was er duldete) und führten sich auf, als hätten sie schon den ganzen Tag nichts anderes getan, als auf ihn zu warten. Danach schleppten sie, wie zu seiner Huldigung, allerlei Gegenstände an, die sie in der Halle fanden – eine Kleiderbürste, einen Schal, einen schon lange vermissten Handschuh –, und legten sie mit einem hellen Jaulton vor Ludwig ab.
Wenn Ludwig mit den Hunden balgte und spielte, sah Dr. Strauss gerne zu, mit einem gütigen und manchmal auch etwas skeptischen Lächeln. Ludwig liebte das Warme in diesem Blick und diese sanften Augen, die sich von den grauen Augen seines Vaters, die fordernd waren und streng, so sehr unterschieden.
Als kürzlich die Maler den Lieferanteneingang mit einem Gerüst versperrt hatten, ging Ludwig, nicht ohne Beklemmung, durch den viel vornehmeren Besuchereingang von vorn in das Haus. Man ging da über eine breite Freitreppe vier Stufen hinauf bis zur Haustür, einer ebenso mächtigen wie düsteren Kassettenkonstruktion aus Eiche mit hochglanzpolierten Messingbeschlägen darauf. Dahinter kam erst noch eine kleine Vorhalle mit einer Stechpalme an der Seite und einem ebenfalls auf Hochglanz gebohnertem Terrazzoboden, auf dem groß in Schwarz auf weißem Grund SALVE zu lesen war, bevor es dann noch einmal zwei breite Stufen hinaufging zu einer mehrflügligen Eingangstür mit kunstvoll geätzten Glasscheiben im Jugendstil, die diese kleine Vorhalle zur großen Halle hin abtrennte.
Die Hunde waren Ludwig durch die Halle bis zu dieser Glasabtrennung entgegengestürmt und stellten sich nun, da sie nicht weiterkonnten, auf die Hinterbeine, um ihn besser sehen zu können, und drückten ihre nassen Schnauzen gegen die Scheiben, was zu garstigen dunklen Flecken in den weißgrau mattierten Ornamenten führte. Vom Gebell alarmiert, kam mit ärgerlicher Miene die Köchin an, um Ludwig zu öffnen, und ihr Schimpfen, dass er gefälligst den Lieferanteneingang zu benutzen habe, wurde noch heftiger, als sie die von den Hunden verschmierten Scheiben sah.
Ludwig, obwohl sonst kein großer Leser, hatte im Laufe der Zeit in der Bibliothek von Dr. Strauss die ganze Fachliteratur über Hunde nicht nur verschlungen, sondern sie regelrecht durchgearbeitet und sich bei Dr. Strauss in vielen Diskussionen, die auch dem Hausherrn Freude machten, als ein immer besserer und ihm allmählich sogar überlegener Kenner erwiesen. Hatte Strauss zu bestimmenden Hundewettbewerben Ludwig anfangs nur mitgenommen, so ließ er ihn neuerdings immer häufiger allein mit den Hunden zu solchen Veranstaltungen gehen und hatte sogar den Eindruck, dass die Hunde unter Ludwigs Führung in letzter Zeit noch besser abgeschnitten haben als früher. –
Das ging so mit den Hunden, bis sich eines Tages ein dummer Zwischenfall ereignete. Ludwig zog wieder einmal mit den Hunden los und hatte diese wie meistens bereits im Vorgarten an langer Leine, wiewohl die Köchin ihn immer wieder ermahnte, erst im Park die langen Leinen zu verwenden. Er gab ja zu, die Hunde waren während des Aufbruchs immer besonders aufgeregt, sie sprangen bellend kreuz und quer, und manchmal schien es fast, als zerrten und zögen sie in ihrem Ungestüm in alle Richtungen gleichzeitig. Da konnte es leicht geschehen, dass die langen Leinen schon im Vorgarten um irgendwelche Ecken liefen, zum Beispiel, weil einer der beiden nach Passieren irgendeines Busches plötzlich einen Haken geschlagen hatte. Ludwig verstand es aber, noch bevor es zu gefährlichen Verwicklungen kam, durch geschicktes Hochschleudern und seitliches Schwingen der Leinen diese schnellstens wieder freizubekommen, um, wenn Not am Mann war, sofort wieder einen mäßigenden Zug auf den einen oder den anderen, meistens auf beide zugleich, ausüben zu können.
Bei einem solchen Aufbruch war Ludwig dann eines Tages eine der Leinen beim Hochschwingen über die Motorhaube des Wagens von Dr. Strauss geraten, der vor dem Gartentor auf der Straße stand. Ludwig war klug genug, nicht einfach an der Leine zu ziehen, sonst wäre womöglich das Kühlwasserthermometer beschädigt oder gar abgerissen worden, das vorne auf dem Schraubverschluss für das Kühlwasser saß. Sondern er hob die Leine mit der Hand hoch und entdeckte dabei im Wegnehmen, dass das runde Schauglas, das das eigentliche Thermometer abdeckte, gesprungen war. Ludwig fuhr vorsichtig mit dem Finger darüber, um zu sehen, ob das Glas in seiner Fassung noch hielte, dann machte er sich mit den Hunden auf den Weg in den Park.
Sein Vater als Chauffeur und Fachmann hatte von Dr. Straussens Auto noch nie viel gehalten, das hatte Ludwig aus den Gesprächen der Erwachsenen herausgehört, und Ludwig teilte diese Auffassung, nicht nur wegen des komplizierten französischen Namens dieses Wagens, sondern überhaupt. Zum Beispiel gerade vorhin dieses Kühlwasserthermometer, das ist doch primitiv! Bei unseren Autos sind das richtige Uhren mit Zeigern und einem vernickelten Ring im Armaturenbrett, und nicht einfach Schaugläser draußen auf dem Kühler – wobei ihm einfiel, dass ihm sein Vater verboten hatte, von ‚unseren‘ Autos zu sprechen, das seien die Wagen des Herrn Konsul. Bei einem so kleinen Auto wie dem von Dr. Strauss musste man natürlich das Kühlwasser genau im Auge behalten, das sah er schon ein, vor allem bei längeren Bergaufstrecken konnte das Wasser leicht ins Kochen geraten, und es war gut, wenn man schon vorher zum Abkühlen anhielt.
Ludwig war mit den Hunden noch unterwegs, als Dr. Strauss aus dem Haus trat und mit seinem Wagen wegfahren wollte.
„Was ist denn das für ein Schmutz auf der Motorhaube?“, rief er dem Gärtner zu, „Sie haben den Wagen doch gerade gewaschen?“
„Dem kleinen Herkommer ist vorhin seine lange Hundeleine über das Auto geraten, es ist nichts weiter passiert. Ich mache es gleich weg.“
„Sagen Sie dem Ludwig, er soll mit den Hunden besser achtgeben und vor allem den Lack meines Wagens verschont lassen!“
Strauss liebte dieses Auto über alles, das er, im Gegensatz zum Konsul mit seinen drei großen Automobilen, nur für private Spazierfahrten verwendete, und er ließ ihm stets die beste Pflege angedeihen.
Als Ludwig zurückkam, wurde er, noch ziemlich außer Atem, vom Gärtner ins Gebet genommen und vor allem wegen des Autos ermahnt.
„Ist sonst noch etwas passiert?“
„Nein, nein“, beteuerte Ludwig guten Gewissens und machte sich auf den Weg nach Hause.
Bald danach kam auch Dr. Strauss mit dem Auto zurück und zeigte dem Gärtner einigermaßen aufgebracht das zersprungene Glas des Kühlwasserthermometers, was er während der Fahrt erst entdeckt hatte.
„Ich habe mir gerade vorhin den Ludwig noch einmal vorgeknöpft, er sagte, dass mit der Leine überhaupt nichts weiter passiert sei.“
„Überzeugend? Glaubwürdig?“
„Doch, schon.“
„Der Bursche muss heute Abend noch einmal vorgeladen werden!“
Am Abend in der Halle ließ sich dann Dr. Strauss von Ludwig den Hergang noch einmal in Ruhe schildern, was diesem keine Mühe machte, und auf die Frage nach dem beschädigten Kühlwasserthermometer antwortete Ludwig eher beiläufig: „Der Sprung war schon –“
Doch da platzte die Köchin hinter der Garderobe, von wo sie zugehört hatte, hervor und rief schrill dazwischen:
„Ich habe doch gesehen, wie die lange Hundeleine über den Kühler geflogen ist und er dann ganz erschrocken an dem Glas herumgefingert hat, Herr Doktor!“
„Nein, das war doch schon!“, begehrte Ludwig laut auf.
Dr. Strauss sah ihn nur traurig an. Hätte er ihn vorwurfsvoll angeblickt oder gar zornig, es wäre nicht so schlimm gewesen. Ein vorwurfsvoller oder ein zorniger Blick, das hätte sich bloß auf das lädierte Kühlwasserthermometer bezogen, aber dieser traurige Blick aus diesen Augen, das war endgültig. Ludwig begriff sofort, dass alles verloren war und er keine Aussicht hatte, das jemals richtigzustellen; mit Tränen in den Augen schlich er sich davon.
„Ich möchte diesen kleinen Lügner hier nicht mehr sehen“, hörte er Dr. Strauss noch sagen. Die Ungerechtigkeit war noch zu ertragen, die Demütigung war schlimmer.
Das war das Ende von Ludwigs erster Hundeführerkarriere. Ludwig trauerte den beiden Alsatians nach und diese vielleicht auch ihm. –