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5_Ludwig Herkommers Erkundungsauftrag in Berlin

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Herkommer war nun schon seit über einem Jahr als hauptamtlicher Mitarbeiter bei der SA beschäftigt und vorwiegend im Gebäude der Kreisleitung tätig. Die Welt hatte sich in dieser Zeit verändert, und auch bei Herkommer war in vielem ein Wandel eingetreten.

Wie damals schon bei der Oberfränkischen Eisenbahngesellschaft war es Eugen gewesen, dem er diesen Posten zu verdanken hatte. Offiziell hatte Eugen Saller als ein Beamter des mittleren oder bestenfalls gehobenen Dienstes zwar nur begrenzten Einfluss auf Personalfragen, aber er kannte, vor allem bei der Polizei und in der Partei, auf allen Ebenen wichtige Leute, und offenbar hörte man auf ihn. Erst viel später fand Herkommer heraus, dass er eine ganz entscheidende, wenn auch durchaus nicht offizielle Rolle innehatte bei dem immer enger werdenden Zusammenspiel von Polizei und Partei, wie es am deutlichsten zunächst bei der Gestapo, der Geheimen Staatspolizei, sichtbar geworden war. Schon gleich nach dem Umsturz war dieses verhängnisvolle Zusammenrücken zu beobachten gewesen, als bei der ersten Welle der Massenverhaftungen vor allem in Berlin die Polizei überfordert war und SA-Leute als Hilfspolizisten eingesetzt wurden, die sich freilich in keiner Weise ausreichend unter Kontrolle halten ließen und rasch wieder deaktiviert werden mussten. In der Tat gab es diese geheimnisvollen Verbindungsmänner zwischen Polizei und Partei in nahezu allen Großstädten. Auf dieser Schiene also war Ludwig Herkommer nach seinen Erfolgen als Polizeihundeführer bei der Oberfränkischen Eisenbahn gelandet und in der gleichen Weise war er von dort, nachdem er sich bei der Schirndinger Eisenbahnkatastrophe ausgezeichnet hatte, von der Partei als Führungsnachwuchs für die SA weggeholt worden.

Bei der SA allerdings war sein Start dann eher holprig gewesen, mindestens war er glanzlos verlaufen. Zwar war ihm der Ruf eines Wundermannes vorausgeeilt, der auch noch die schwierigsten und verfahrensten Situationen mit Bravour zu meistern vermag – ‚Das sieht man dem Bürschlein überhaupt nicht an‘, soll der Kreisleiter nach der ersten Begegnung geäußert haben –, aber Herkommer hatte in der ersten Zeit selbst gespürt, dass er zu solch selbstständigen Glanzleistungen, wie er sie als Polizeihundeführer oder dann als Eisenbahner vollbracht hatte, in der neuen Umgebung noch nicht wieder fähig gewesen wäre.

Es galt als durchaus ungewöhnlich, dass ein Nicht-Parteimitglied sogleich als ‚Hauptamtlicher‘ von der SA eingestellt wurde, aber an seinem ersten Arbeitstag war von irgendeiner besonderen Stellung nichts zu spüren gewesen. Ein mürrischer SA-Scharführer hatte ihn in Empfang genommen und ihm mitgeteilt, dass von der Partei außer ein paar Hilfskräften von der Kreisleitung im Augenblick niemand und von der SA nur er anwesend sei, und hatte ihm den Auftrag erteilt, fürs Erste einen tischhohen Stapel alter Zeitungen mit dem Messer in Klosettpapier zu verwandeln, wozu er die Doppelseite insgesamt viermal zu halbieren habe, was dann jeweils 16 Blatt in einer ausreichenden Größe ergebe. Herkommer erinnerte sich noch genau, wie enttäuscht er gewesen war. Das war ein allzu großer Gegensatz zum vorangegangenen Einstellungsgespräch – mit welchen Erwartungen war er doch hierhergekommen! Aber, er hatte es ja schon immer verstanden, seine Gefühle ganz im Hintergrund zu halten, und so war es ihm leicht gefallen, seine Enttäuschung zurückzudrängen und sie schließlich, als ihm die stumpfsinnige Arbeit dank konsequenter Schematisierung der einzelnen Handgriffe sogar Spaß zu machen begann, ganz auszuschalten.

Am Nachmittag waren dann unter großem Gepolter fünf oder sechs SA-Männer von irgendeinem Einsatz zurückgekehrt, die ihn, auf dessen Eintreffen sie offenbar vorbereitet waren, herzlich-derb begrüßt hatten. Er konnte sich deshalb noch so genau daran erinnern, weil das für ihn der Beginn einer tiefen und gänzlich neuartigen Erfahrung war, nämlich immer mehr einzutauchen in eine festgefügte Gruppe, von ihr aufgenommen zu werden und in ihr aufzugehen, aber dabei auch immer mehr von sich selbst zu Gunsten der Gruppe aufzugeben.

Herkommer hatte sich schon bald wohlgefühlt unter diesen Hauptamtlichen, ja er liebte die Gruppe, obwohl er eigentlich keinen dieser Leute als Einzelnen besonders mochte oder gar zum Freund hätte haben wollen – waren es doch im Grunde ziemlich trübe Gestalten, Versager, die sich von der schiefen Bahn in die SA hatten hinüberretten können, kleine Gauner auch ohne Aussichten, die sich nun neue Chancen mit neuem Rang und Ansehen ausrechneten. Solange sie Uniform trugen, schien es Herkommer damals, war ihre Vergangenheit neutralisiert und sie waren nichts als Teile einer tüchtigen Gruppe gewesen; sah man sie in Zivil, war man mindestens enttäuscht, wenn nicht gar bestürzt.

Einer von ihnen war erst am nächsten Tag nachgekommen, in Zivil, ein unscheinbares, schmächtiges Kerlchen, blass, lahm und nichtssagend in jeder Hinsicht, aber als er wieder in seine SA-Uniform geschlüpft war, weiß Gott kein besonders eindrucksvoller Aufzug, da war er plötzlich wer, da hatte er auf Herkommer, obwohl noch genau derselbe wie vorher, plötzlich vif gewirkt, fix, beweglich, pfiffig. – Oder ob er sich vielleich in Uniform dann doch etwas anders verhalten hatte?

Bei seiner eigenen Einkleidung am Tag darauf hatte Herkommer an sich selbst erlebt, wie sehr auch er diesem Uniformeffekt unterlag. Das war eigenartig gewesen: Im gleichen Augenblick, da er das Koppelschloss eingehakt hatte – mit diesem ‚Klick‘ war für ihn das Ankleiden beendet –, da gehörte er endgültig dazu – er war uniformiert. Und zugleich spürte er, er war jetzt nicht nur ein Teil dieser Gruppe, sondern – auch dieses viel verborgenere Gefühl stellte sich allmählich ein – auch die Gruppe ein Teil von ihm.

Das war anfangs ein äußerst angenehmer und behaglicher Zustand gewesen. Man fühlte sich wundervoll geborgen, wenn man sich nur genügend einordnete und sich bedingungslos den verschiedenen Führern fügte, nicht nur den niederrangigen, die die unmittelbaren waren, sondern auch den höheren und den hochrangigen gar, die immer wieder mit irgendwelchen Sonderaufgaben erschienen, weil diese Hauptamtlichen eine Stabseinheit bildeten, über die man rasch verfügen konnte.

Irgendwann war dann gar der Standartenführer dagewesen, hatte sie antreten lassen und ihnen am Ende einer längeren Ansprache in einem fast feierlichen Ton erklärt:

„Männer! Ihr seid die Keimzelle einer kasernierten SA! Und mehr noch: Ihr seid der Kern einer revolutionären Volksmiliz, nämlich eines riesigen Volksheeres, das in nicht allzu langer Zeit entstehen wird, und in dem die Reichswehr vollständig aufgehen soll. Aus euch, aus solchen kleinen ausgesuchten Kadern, wie sie jetzt an vielen Orten im Reich gebildet worden sind, soll unser Führungsnachwuchs entstehen. – Versteht ihr, was das heißt? – Versteht ihr, was das für euch bedeutet? – Was es bedeutet, schon im ersten Jahr des Tausendjährigen Reichs als Führungsnachwuchs ausgewählt worden zu sein? Das ist eure einmalige Chance, Leute!“

Beachtung finden, beachtet werden, das war für alle in der Gruppe ein wichtiges Thema, für manchen, der vor seiner SA-Zeit arg herumgestoßen worden war, ein Lebensthema geradezu. Entsprechend ernst genommen hatten sich die jungen Männer nach der Ansprache des Standartenführers gefühlt, und umso mehr war ihre Bereitschaft gewachsen, sich noch enger zusammenzuschließen und sich als eine Gruppe der Besonderen immer mehr abzuheben von allen anderen. Auch Herkommer hatte nicht ohne Stolz dieses weitere Erstarken ihrer Gruppe verspürt, zugleich aber war ihm dabei zum ersten Mal aufgegangen, wie eingefangen er in dieser Gruppe war. Von da an hatte ihn dieser Gedanke, dass er eben zugleich auch ein Gefangener der Gruppe sei, häufiger einmal bedrängt, und es wurde ihm allmählich immer klarer, dass sie alle miteinander in ihrer Gruppe gefangen waren, weil sie sich gegenseitig gefangen hielten. Der anfangs so willkommene Zustand, die Wärme der Gruppe und die Übereinstimmung zu genießen, begann, seine Anziehungskraft zu verlieren. Die Vorstellung, ein kleines, aber eben auch wichtiges Rädchen zu sein, das sich zwar niemals aus eigenem Antrieb bewegt, aber in seinen Bewegungen in stetem Gleichtakt mit seinen Nachbarrädchen steht, dieses Gefühl war allmählich gar nicht mehr so erstrebenswert.

Der kleine Blasse hatte ihm einmal sogar gesagt, dass das ja gerade das Schöne in einer solchen Gruppe sei, dass man nichts selbst entscheiden müsse, man habe nichts weiter zu tun, als die Anordnungen zu befolgen, da könne man nichts weiter falsch machen und keiner würde einen hinterher für irgendetwas zur Verantwortung ziehen. Er würde überhaupt nicht verstehen, was da manche mit ihrer ‚Selbstbestimmung‘ wollten, das seien doch nur disziplinlose Künstlertypen und so, die nie gelernt hätten, zu gehorchen und sich einzuordnen, um gemeinsam mit anderen eine große Sache zu tragen. Klare Anweisungen, und seien sie noch so streng, das sei ihm viel wichtiger als die ganze Selbstbestimmerei. Alle späteren Vaterlandsverräter hätten erst einmal mit dem Gerede über Mitbestimmung und Selbstbestimmung angefangen, aber nicht mit Einordnen und die Klappe halten gefälligst, das könnten die nämlich nicht.

Da hatte Herkommer dann doch sehr aufgemerkt. So verworren das alles auch war, was er da hatte anhören müssen, eines war ihm dabei aufgegangen: Je mehr er sich der Gruppe unterwarf, je besser er sich einfügte und alle Verantwortung abgab, umso mehr ließ er sich in ihr auch treiben und umso mehr verlor er seine Initiative. Worunter er aber noch mehr litt, das spürte er erst jetzt so recht: Ob er wollte oder nicht, Einordnung führte bei ihm stets – und viel stärker wohl als bei seinen Kameraden – zur Unterordnung, zu einer sehr tiefen Unterordnung noch dazu, nicht nur gegenüber den direkten Vorgesetzten, sondern auch gegenüber der Gruppe und damit auch gegenüber den einzelnen Kameraden. Er fügte sich dann allem und jedem, erledigte widerspruchslos alles, was auf ihn zukam, und wurde natürlich auch entsprechend ausgenutzt. Einordnung bestand bei ihm so sehr aus Unterordnung, dass sie, nicht nur gegenüber seinen Vorgesetzten, sondern auch gegenüber den Kameraden, stets zugleich auch etwas Beflissenes, manchmal direkt Unterwürfiges hatte. Und dass Einordnung eben stets Unterordnung zu sein hat, das war ihm schon als Kind eingebläut worden, da kam er nicht gegen an.

Wie er so darüber nachdachte, war er sich mit einem Mal sicher gewesen: Ich darf einfach nicht in der Gruppe aufgehen, jedenfalls nicht ganz, so schön das manchmal auch wäre. Ich muss einfach hin und wieder den anderen gegenüber Widerstand leisten und ihnen auch einmal widersprechen. Ich muss auch gegenüber den Vorgesetzten meine eigenen Vorschläge vertreten – ich muss mich einfach freimachen von diesen Fesseln der Gruppe, von dieser Unterjochung, erst dann kann ich meine Fähigkeiten richtig entfalten und wieder Initiative entwickeln. Was sonst soll Führungsnachwuchs denn heißen?

Wenn Violet ihn einmal als den willfährigen und servilen Gruppenkuli sehen würde, war ihm noch in den Sinn gekommen, ihn, der allen zu Gefallen war, sie würde das nicht für möglich halten, und er müsste sich schämen.

Diese neu gewonnenen Einsichten waren Herkommer nicht nur einmal durch den Kopf gegangen und dann wieder verschwunden, wie das häufig so ist, sondern er musste wohl geahnt haben, wie wichtig sie für ihn waren. Und so hatten sie sich in Vorsätze verwandelt, die er sich jeden Abend aufs Neue ins Gedächtnis gerufen hatte, um den vergangenen Tag zu untersuchen, ob er sich schon gebessert hatte und wo er noch entschiedener hätte auftreten müssen. Herkommer spürte, dass er viel eigenständiger und selbstbewusster werden müsste, wenn er vorankommen wollte.

So versuchte er immer häufiger einmal, sich bei diesem oder jenem seiner Kameraden durchzusetzen und sogar dem Scharführer seinen eigenen Standpunkt zu erläutern, wenn er sich seiner Sache sicher war. Auch war es durchaus möglich, dass er, ganz im Gegensatz zu früher, selbst dann mit seiner Auffassung nicht hinter dem Berge hielt, wenn er wusste, dass er mit seiner Meinung im Augenblick noch allein stand. Gelegentlich hatte er dann auch einmal eine Putzfrau angeschnauzt, was er früher nie gewagt hätte, oder einen Handwerksburschen im Haus herumkommandiert, wenn ihm das notwendig erschien.

Es hatte nicht lange gedauert, da war auch im Verhalten seiner Kameraden eine Veränderung zu spüren gewesen. Nicht dass er unbeliebt geworden wäre, im Gegenteil, man beachtete ihn, man bemühte sich um ihn, viel mehr als früher. Man fragte ihn und setzte nicht mehr sein Einverständnis als selbstverständlich voraus. Bald wurde er ‚Herko‘ genannt und so auch gerufen, was er als Anerkennung verstanden hatte, und vorbei war es gewesen mit dem Spruch ‚Der Herkommer soll mal herkommen!‘, über den er sich immer geärgert hatte, als ob er das Mädchen für alles sei.

Als förderlich für seine Selbstbefreiung aus der allzu engen Einbindung hatte sich auch sein Eintritt in die Partei erwiesen, die er auf energisches Drängen seines Beschützers Eugen gerade noch rechtzeitig beantragt hatte. Denn nach dem Umsturz war die Zahl der Aufnahmeanträge dermaßen angeschwollen, dass die Partei eine jahrelange Aufnahmesperre erließ, die auch für SA-Mitglieder, obwohl diese eigentlich von der Sperre ausgenommen waren, den Eintritt erheblich erschwerte. Er gehörte also, gerade noch, zu den Märzgefallenen, wie sie von den alten Parteigenossen spöttisch genannt wurden, aber der Kreisleiter, der ihn als neuen Parteigenossen in einer Art willkommen geheißen hatte, als ob er ihn vorher noch nie gesehen hätte, sagte ihm, man dürfe da nicht ungerecht sein, denn viele dieser „Märzgefallenen“ seien Beamte oder Staatsangestellte, denen vor der Machtübernahme jede Parteizugehörigkeit verwehrt gewesen sei.

Es war nicht zu übersehen, dass ihn der Kreisleiter seit seinem Parteieintritt höher schätzte, ihn jedenfalls gegenüber den anderen Hauptamtlichen der Gruppe bevorzugte, was auch bald schon auf die verschiedenen Unterführer der SA abfärbte. Wenn für irgendeine anspruchsvollere Aufgabe ein Einzelner aus der Gruppe gebraucht wurde, dann wurde meistens nach ihm verlangt. Das begann Herkommer zwar hin und wieder lästig zu werden, war ihm aber dennoch willkommen, denn es bestätigte ihm, dass er es geschafft hatte; dass er sich schon genügend befreit hatte von der nivellierenden Gruppe und gewappnet war, wieder wie früher schwierige Aufgaben in eigener Verantwortung und ganz auf sich allein gestellt zu übernehmen, die sich dann alsbald auch einstellten. –

„Ich habe dich zu mir rufen lassen, Herko, weil ich eine ganz besondere Aufgabe für dich habe“, empfing ihn der Kreisleiter, ein jugendlich wirkender Mann Ende 30, in ungewöhnlich ruhigem Ton, „und ich wüsste im Moment sonst keinen, dem ich sie übertragen könnte.“

Er liebte es, junge Untergebene, vor allem wenn er sie mochte, mit ‚Du‘ anzureden, wobei er manchmal allerdings in einem einzigen Gespräch mehrmals zwischen ‚Du‘ und ‚Sie‘ hin und her sprang. Erfahrene Mitarbeiter wussten schon aus der Anrede den Charakter oder, bei einem plötzlichen Wechsel, den weiteren Fortgang eines Gespräches, das gewöhnlich ziemlich einseitig verlief, richtig einzuschätzen. ‚Du‘, das war die Umarmung, das war das Zur-Brust-nehmen, zugleich aber auch die Vereinnahmung des Gesprächspartners als Gefolgsmann, der keine abweichenden Meinung mehr äußern, ja sie nicht einmal mehr haben durfte. Das Wechseln auf ‚Sie‘ dagegen, das war das Wegschieben auf Armeslänge bei einer Ermahnung oder Warnung, oder es war der Ausdruck einer gewissen Empörung über die Abweichung des Zuhörers von seiner Auffassung; oder es war gar, je nach Tonlage, das brüske Wegstoßen von sich, zum Beispiel bei einem Anpfiff oder wenn er jemandem ausführlicher den Marsch blasen wollte, aber davon konnte hier keine Rede sein.

„Ich spreche hier nicht in meiner Eigenschaft als Kreisleiter, sondern als SA-Führer – eine Doppelfunktion übrigens, die nicht sehr bekannt ist, aber gar nicht so selten vorkommt. Wir stehen vor einer überaus schwierigen Frage. Mit ‚wir‘ meine ich nicht uns hier von der Partei, nicht uns von der hiesigen Kreisleitung, sondern die SA und zwar nicht die örtliche, sondern die SA überhaupt, also reichsweit gesehen.“

An dieser Stelle unterbrach er sich und fuhr in einem deutlich verschärften Ton fort: „Alles, was du jetzt hörst, ist GKdos! Absolut GKdos!“

„Was ist Gee-Kaa-doss?“ fragte Herkommer vorsichtig.

„Eine Geheime Kommandosache. Unterliegt also strengster Geheimhaltung, nicht nur nach außen, sondern auch hier innerhalb des Hauses. Wenn du mit jemandem darüber reden willst, dann ausschließlich mit mir; ich stehe dir bis zur Abfahrt deines Zuges heute Abend jederzeit zur Verfügung, das weißt du. Deine Aufgabe wird darin bestehen, schleunigst nach Berlin zu fahren und die Baulichkeiten einer bestimmten Adresse, die ich dir mitgeben werde, auszukundschaften.“

‚Baulichkeiten‘ hat er gesagt, was er damit wohl meint, fragte sich Herkommer, aber der Kreisleiter fuhr bereits fort:

„Uns interessiert: die Zahl der Räume dort; die Größe der Räume; wenn möglich die ungefähre Grundfläche jedes Raumes, also zum Beispiel ‚circa 4 auf 7 Meter‘ oder so; ferner vorhandene Verbindungstüren zwischen den Räumen, also etwa: einfache Türen, zweiflüglige Türen, Schiebetüren und so weiter; dann auch die Breite der Treppen, mindestens der Treppe vom Parterre zum ersten Obergeschoss; ebenso die Breite des Eingangsportals – ist es etwa zweiflüglig? – und die Gestaltung der Freitreppe außen, falls vorhanden, und so weiter. Mit diesen Fragen geht es uns darum, ein Bild darüber zu gewinnen, ob das Gebäude für uns groß genug und vor allem genügend repräsentativ ist, verstehst du?

Ich will dir auch die Hintergründe erklären, Herkommer, dann siehst du, warum die Sache so streng geheim ist. Der Führer hat angeordnet, dass das Hauptquartier des Stabes der SA von München nach Berlin verlegt wird. Das ist sicherlich eine kluge Entscheidung, denn die SA ist inzwischen zu einem Millionenheer angewachsen, dagegen ist die Reichswehr mit ihren hunderttausend Männeken, so gut sie im Vergleich zur SA auch bewaffnet sein mag, nur ein winziges Häuflein. Auch wenn wir die gesamten Polizeikräfte noch dazurechnen, dann ist das immer noch ein verlorener Haufen, der beispielsweise eine auftrumpfende SA nicht in Schach halten könnte. Das ist der Grund, warum immer wieder diese blödsinnigen Gerüchte aufkommen, und die Heeresleitung, aber auch der Innenminister Frick immer wieder glauben, sich vor einer SA, die sich selbstständig machen könnte, fürchten zu müssen. Da kann es nur Vertrauen schaffen, wenn sich das Hauptquartier des SA-Stabes in nächster Nähe und damit direkt in der Hand des Führers befindet. Es wird immer wieder vergessen, dass kein anderer als der Führer selbst den Rang des ‚Obersten SA-Führers‘ innehat! – So, und für dieses SA-Hauptquartier ist nun von irgendeinem der Berliner Verwaltungsbonzen, wie wir unter der Hand erfahren haben, ein bestimmtes Objekt ausgeguckt worden, in das wir demnächst einziehen sollen. Den Stabschef Röhm interessiert es natürlich brennend, ob das Gebäude für unsere Zwecke überhaupt ausreichend ist und ob es unseren Bedürfnissen, aber vor allem auch unserer Bedeutung entspricht. Denn wenn wir uns querstellen wollen, kann das nicht früh genug geschehen.“

„Und ganz unter uns“, fuhr er leiser fort, „mich interessiert das auch persönlich, denn der Stabschef will mich mit nach Berlin nehmen – aber das ist natürlich auch streng vertraulich und weiß hier im Haus keiner! – Die ganze Angelegenheit ist deshalb so diffizil, weil die jetzigen Besitzer keinesfalls erfahren dürfen, dass sie das Gebäude räumen müssen, aber die fliegen in aller Kürze raus. Deshalb – und weil natürlich auch die Parteispitze in Berlin möglichst nicht erfahren soll, dass die SA schon heimlich Erkundigungen über dieses Objekt einholt –, deshalb wollten wir auch keinen aus dem Münchener Stab als Auskundschafter nach Berlin schicken – so etwas kann ja immer mal auffliegen –, sondern ich habe dem Obergruppenführer, der den ganzen Umzug leiten soll, vorgeschlagen, einen unserer Leute von hier zu nehmen, den in Berlin keiner kennt – und das bist du.

Wenn du also irgendwelche Probleme bekommst, wenn du irgendwo aussagen musst, was du da tust, dann überlege dir irgendetwas Vernünftiges, aber sag’ keinesfalls – hörst du: keinesfalls! –, dass du für die SA-Führung in München das Gebäude ausbaldowern sollst.

So, hier hast du die Adresse in Berlin, Herkommer. Und da quittierst du mir 100 Reichsmark in bar für die Bahnfahrt und den Aufenthalt in Berlin – hinterher genau abrechnen! Hier ist noch ein verschlossener Briefumschlag mit weiteren 100 Reichsmark für alle Fälle, den Klebestreifen mit dem Dienstsiegel nur im Notfall öffnen und alle Entnahmen auf dem Ausgabenzettel, der dabeiliegt, eintragen und die Belege und Quittungen dazulegen.“

Herkommer begann noch am gleichen Nachmittag damit, sich bis zur Abfahrt seines Zuges im Einschätzen der Quadratmeterzahl von Räumen zu üben; wer weiß, ob er in Berlin Gelegenheit haben würde, die Räume auszumessen. Das war ganz einfach, er musste nur das Schätzen kleinerer Strecken von vielleicht drei bis zehn Metern einigermaßen beherrschen, weshalb er den halben Nachmittag über einen Zollstock mit sich herumtrug. Er war erstaunt, wie rasch er sich mit seinen Schätzungen verbessern konnte. –

In Berlin Anhalter Bahnhof angekommen, studierte er in der Bahnhofshalle den am Ausgang angebrachten großen Stadtplan ‚Groß-Berlin‘ – meine Güte! – und dann den Plan ‚Berlin-Mitte‘ daneben. Die Adresse stand auf dem Zettel des Kreisleiters, ‚Voßstraße 1‘ hieß es da und war auf dem Stadtplan schnell gefunden. Er versuchte, sich den Weg dorthin einzuprägen und machte sich in sein Wachstuchheft, das er für das Aufmaß der Räume mitgenommen hatte, eine grobe Skizze.

Es war noch nicht einmal halb acht, so früh dürfte er auf keinen Fall dort erscheinen, die Leute dort schliefen noch, jedenfalls würden sie ihn wohl kaum in ihre Räume schauen lassen. So trank er im Bahnhofsrestaurant erst einmal einen Kaffee und schaute seine Skizze an.

„Voßstraße 1“, fragte er den Kellner, „ist das weit von hier?“

Der Kellner schüttelte den Kopf und stammelte etwas, was nicht recht zu verstehen war, offenbar ein Pole, aber da hörte er schon vom Nebentisch: „Da fahren Sie mit der U-Bahn bis zur Station Kaiserhof, da sind es dann nur noch ein paar Schritte.“

Aber er wollte zu Fuß gehen, es war ja noch so viel Zeit. Die Luft war frisch, der Tag begann klar, und trotz der frühen Stunde wehte schon ein böiger Wind. Er fröstelte ein wenig und schritt kräftig aus, es tat wohl, den Kopf nach der langen Bahnfahrt und dem vielen Rauch in den Abteilen auszulüften. Noch nie war er in einer so großen Stadt gewesen, doch schien er nicht im geringsten beeindruckt oder gar eingeschüchtert, im Gegenteil, er war gespannt auf seine Aufgabe, genoss seinen Marsch durch die erwachende Großstadt und spürte mit einem Mal, wie ihn ein Gefühl glücklicher Freiheit durchströmte. Das waren die Aufträge, wie er sie schätzte! Aufgaben, bei denen man auf sich allein gestellt ist; die man allein durchführen muss; bei denen man allein die Verantwortung trägt und alle Entscheidungen allein zu treffen hat; bei denen man aber dennoch weiß, dass man nicht ein verlorener Einzelgänger ist, sondern sich getragen fühlen kann von einer großen Zahl von entschlossenen Männer, die hinter einem stehen, die auf einen vertrauen und gespannt dem Erfolg der Mission entgegenblicken.

Da und dort fragte er kurz nach dem Weg, nicht weil er sich verlaufen hätte, sondern eher um sich zu vergewissern. Die Berliner waren freundlich und kannten sich aus. Möglicherweise sind sie doch etwas heller, dachte er, oder einfach wacher?

„Nach der Voßstraße 1 möchteste? Was willste denn dort, Kleener? Das ist das Borsig-Palais!“

Herkommer murmelte etwas von Heizung nachsehen.

„Geradeaus weiter, das ist dann direkt an der Ecke Wilhelmstraße-Voßstraße.“ –

Oh, die Voßstraße 1, das war ein statiöses Gebäude! Diese hohen Fenster und die Nischen in der Fassade des Obergeschosses mit diesen übermannshohen Statuen darin! So sieht kein Wohnhaus aus, das erkannte er gleich; auch kein gewöhnliches Bürogebäude, eher die Zentrale eines großen Unternehmens. Im Näherkommen sah er dann am Eingang ein großes in Bronze gegossenes Schild:

KANZLEI

DES STELLVERTRETENDEN

REICHSKANZLERS

Das hätten die mir ja gleich sagen können! Aber das wussten sie wohl selbst nicht. Etwas verdutzt ging er am Eingang vorbei und noch ein Stück weiter, um seinen Plan erst noch einmal zu überdenken, doch dann machte er entschlossen kehrt und ging mit flottem Schritt und ohne Zögern in das Gebäude hinein. Gleich rechter Hand gab es eine verglaste Portierloge, in der sich mehrere uniformierte Männer vom Wachpersonal aufhielten, bei denen er sich aber nicht darüber im Klaren war, ob es Wachleute oder Polizisten oder vielleicht auch nur Chauffeure waren.

„Morgen! Ich komme von der Firma Klaus Segebert Heizung, Gas und Wasser wegen der Erneuerung der Dampfheizung.“

„Ach ja“, antwortete der Pförtner, „ich hörte schon davon, da soll sich wohl was tun.“

„Ich müsste in alle Räume einmal kurz reinschauen, wenn das möglich wäre, bitte“, sagte Herkommer und tippte auf sein Wachstuchheft.

„Du“, wandte sich der Pförtner an einen seiner Kollegen, der im Hintergrund der Portierloge herumsaß, „geh doch mal mit dem jungen Mann durchs Haus und zeige ihm die Räume.“

„Was meinste, wie lange das dauert! Mehr als 40 Räume!“

„Klar, alle! – Nu mach’ schon!“

Das hätte ja nicht besser klappen können, dachte Herkommer und eilte dem Wachmann hinterher. An der Art und Weise, wie dieser an den einzelnen Türen anklopfte, konnte Herkommer erkennen, welcher Respekt dem gerade Besuchten entgegenzubringen war. Bei Räumen, bei denen der Wachmann sicher war, dass sich im Augenblick niemand darin aufhält, schlug er, um der Form Genüge getan zu haben, nur einmal kräftig mit den Knöcheln der geschlossenen Faust gegen die Tür und stieß diese, ohne eine Antwort abzuwarten, fast im gleichen Augenblick auf. Das Gleiche galt für alle Räume im Souterrain, in denen er technisches Hilfspersonal seines Ranges wusste – vielleicht, dass er in besonderen Fällen statt mit nur einem mit zwei kurzen Schlägen anklopfte und möglicherweise auch noch eine knappe Sekunde bis zum Öffnen dazwischenschob. Bei den höherrangigen Sachbearbeitern klopfte er nur mit dem Knöchel des gekrümmten Zeigefingers an, und zwar drei- oder viermal und vor allem wesentlich leiser und wartete dann etliche Sekunden, bevor er ein zweites Mal, diesmal aber schon deutlich stärker, anklopfte. Bei den Hochrangigen im Obergeschoss schließlich, obwohl sich bei diesen die Prozedur meistens nur an der Tür ihres Vorzimmers abspielte, wartete er nach dem ersten Anklopfen erheblich länger und zwar mit etwas vorgebeugtem Oberkörper und dem Ohr nah an der Tür, und falls ein zweites Anklopfen notwendig wurde, so erfolgte dieses hier nun keineswegs lauter als das erste. Wenn auch nach dem dritten Anklopfen kein ‚Herein!‘ zu vernehmen war, drückte er mit der einen Hand die Türklinke langsam nach unten, während er mit der anderen Hand nach hinten, auf Herkommer zu, eine abwehrende oder mindestens aufhaltende Gebärde machte, so als ob er befürchte, dass Herkommer versuchen könnte, an ihm vorbei in den Raum zu stürmen. War die Klinke dann ganz herabgedrückt, so öffnete er ebenso langsam die Tür, aber nur so weit, dass er gerade seinen Kopf hindurchstrecken konnte, wobei er vorsorglich schon vorher ein beschwichtigendes Lächeln aufsetzte.

Bei den allerhöchsten Würdenträgern des Hauses kam dann als letzte Steigerung noch hinzu, dass er im Augenblick des ‚Herein!‘ sich aus seiner lauschenden Haltung deutlich aufrichtete, um noch rasch seinen Rock zu straffen, indem er ihn mit beiden Händen in einem kurzen Ruck nach unten zog, was aber nicht zur geringsten Verzögerung des Eintretens führte.

Auch innerhalb des Raumes gab es im Verhalten des Wachmanns noch beträchtliche Unterschiede. Bei Respektspersonen blieb er gleich neben der Tür stehen, den Rücken fast an der Wand, bei weniger Hochrangigen trat er von vornherein ein ganzes Stück weiter in den Raum, und bei den Hilfskräften seiner Art, wie sie vorwiegend im Souterrain anzutreffen waren, ging er neugierig im Raum umher und schwätzte mit ihnen oder hielt sich beim Messen an Herkommers Seite.

Das Sprüchlein, das er nach dem Eintreten aufsagte, war stets das gleiche: „Da ist jemand von der Heizungsfirma wegen der neuen Anlage. Dürfte der gerade mal kurz in den Raum schauen?“

Meistens wurden sie erfreut begrüßt (‚Von der Heizungsfirma? Na, da wird’s ja Zeit!‘). Herkommer huschte dann mit seinem Zollstock gebückt am Boden entlang und maß Länge und Breite, wobei er auch größere Vorsprünge und Nischen berücksichtigte.

Der Bürovorsteher, der zusammen mit zwei Sekretärinnen im riesigen Vorzimmer des Vizekanzlers saß, eine sportliche Gestalt mit lockerem Auftreten, meinte: „Ahaa – das ist eine gute Nachricht! Das Reich hat die Bude ja erst kürzlich gekauft, hätte nicht gedacht, dass sich da so schnell etwas ereignen würde! Herr von Papen saß im Winter an manchen Tagen im Mantel am Schreibtisch! Sie werden gleich sehen, er hat ja auch mit Abstand den größten Raum. Schade, dass er heute nicht da ist – er wird sich freuen!“ Und leiser fügte er noch hinzu: „Unser Vize hat halt doch Einfluss!“

Irrigerweise sah er offenbar in dieser Fürsorge des Reiches auch ein gutes Zeichen für den Fortbestand der Kanzlei des Herrn von Papen.

Ein freundlicher Jurist machte sich bei Herkommers doch eher flüchtiger Vermessung sogar Gedanken: „Ist denn das genau genug, was Sie da machen? Lassen Sie sich ruhig Zeit, Sie stören hier nicht.“

„Es geht im Moment nur um die Circa-Kubikmeter“, beschwichtigte Herkommer, „wegen der richtigen Kesselgröße und der Anzahl und Größe der Radiatoren in den einzelnen Räumen.“ Und vom eigenen Erfolg seiner Schwindelei beschwingt, fügte er frech noch hinzu: „Was Sie hier haben, ist absolut unterdimensioniert!“

Der Jurist nickte zufrieden und drohte lächelnd mit dem Zeigefinger: „Verstehe. Also die Anlage bloß nicht zu knapp auslegen!“

Nur zwei der Besuchten, die sich gerade in einer heftigen Diskussion befanden und damit offenbar nicht richtig vorangekommen waren, reagierten gereizt und fauchten den Wachmann an: „Muss das denn ausgerechnet jetzt in der Dienstzeit sein?“ Und zu Herkommer gewandt: „Also los, Mann, aber machen Sie schnell!“

„Oh, wenn ihr wüsstet, was ich weiß“, dachte Herkommer schadenfroh beim Messen, „nächstens fliegt ihr ja doch alle hochkant hier raus. Nix ist’s mit einer neuen Heizung! – Oh, wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß.“

Dass dieser Rauswurf blutig verlaufen würde, konnte Herkommer nicht ahnen. –

Der Rundgang hatte über zwei Stunden gedauert. Wenn er jetzt noch die Breite der Treppe messen würde – und auch die Höhe der Stufen und die Tiefe der Trittflächen, denn deren Zahlenverhältnis war für die Vornehmheit dieser Treppe gewiss nicht ohne Bedeutung –, dann würde das mit dem Wachmann an seiner Seite schwierig werden, weil diese Messungen mit den Kubikmetern für die Heizung wahrhaftig nichts mehr zu tun hatten. So tat er einfach so, als messe er das Treppenhaus in seiner ganzen Breite, schrieb aber nur die Treppenbreite auf und begnügte sich bei den Stufen mit einer Schätzung ihres Verhältnisses von Stufenhöhe zu Trittfläche, mit einem befriedigenden Ergebnis übrigens: Die Treppe, alles massiver grauer Granit, war sehr flach, sehr herrschaftlich, sehr vornehm.

Wieder in der Portierloge angekommen, wandte sich Herkommer an den Pförtner.

„Jetzt müsste ich noch die Raumhöhen von Souterrain, Erdgeschoss und Obergeschoss wissen“, sagte Herkommer, obwohl ihn das in Wahrheit nicht weiter interessierte und er nur seine Schwindelei mit den Kubikmetern für die Heizung perfekt machen wollte.

„Oh weh, die Räume sind hoch, ich glaube über drei Meter fünfzig, und der große Festsaal hat natürlich die doppelte Höhe. Da müssen wir mit einer langen Leiter – aber halt, ich weiß, der Hausmeister hat doch da irgendwo noch alte Pläne!“

Die Pläne, die schließlich zum Vorschein kamen, arg vergilbt und verstoßen, stammten noch aus dem Jahre 1875, dem Jahr des Baubeginns. In den seither vergangenen sechzig Jahren seien mehrere Umbauten vorgenommen worden, sodass die Pläne nicht mehr ganz dem heutigen Stand entsprächen, doch seien sie allemal geeignet, um daraus die Raumhöhen zu entnehmen. Herkommer überredete den Hausmeister, ihm die ganzen Pläne für eine kurze Zeit zu überlassen.

„Es wird dann alles viel schneller gehen!“, sagte Herkommer. „Das erspart uns auch sonst bei der Planung enorm viel Arbeit!“, und er versprach dem Hausmeister in die Hand, ihm die Pläne in den nächsten Tagen zurückzuschicken. –

Schon am Tag darauf war Herkommer wieder in Nürnberg, befasste sich eine halbe Nacht lang damit, die Pläne mit Bleistift mehr oder weniger freihändig auf Transparentpapier durchzuzeichnen und wunderte sich über den enormen Bleistiftverbrauch auf diesem Papier. Am nächsten Morgen erschien er, nachdem er die Originale zur Post gebracht hatte, pünktlich zum Dienst. Der Kreisleiter zitierte ihn sogleich zu sich und kam sofort zur Sache.

„Legen Sie los! Ich bin außerordentlich gespannt!“

„Es handelt sich um das Borsig-Palais“, berichtete Herkommer nicht ohne Stolz, „erst kürzlich vom Reich erworben. Dort ist schon seit Juni vergangenen Jahres die Kanzlei des Stellvertretenden Reichskanzlers untergebracht, es ist also der Dienstsitz des Vizekanzlers.“

„Ja, das habe ich inzwischen auch gerüchtweise gehört.“

„Ich war in jedem Raum und konnte mir anschließend noch die alten Pläne des Gebäudes beschaffen. Die konnte ich natürlich nicht im Original mitbringen, aber ich habe sie freihand durchgezeichnet. Die Änderungen durch spätere Umbauten sind nicht allzu bedeutend. Ich habe die Änderungen, soweit ich sie erkennen konnte, eingezeichnet. Unsichere Bereiche halten sich ziemlich in Grenzen, ich habe sie durch eine ganz weite Schrägschraffur, die ich darübergelegt habe, kenntlich gemacht.“

Der Kreisleiter schien hochzufrieden, aber die Details, mit denen Herkommer fortfuhr, um den überaus repräsentativen Charakter des Gebäudes zu beschreiben, wollte er sich gar nicht mehr alle anhören.

„Eigentlich wäre meine Reise gar nicht notwendig gewesen“, sagte Herkommer schließlich.

„Aber wer hätte das denn vorher wissen können! Es hätte ja auch sein können, dass uns diese alten Säcke in Berlin reinlegen wollen, es gibt da doch erhebliche Spannungen zwischen der Partei – nicht etwa dem Führer! – und der SA. Und vor allem das Reichswehrministerium und speziell die Heeresleitung machen ihren Einfluss geltend und überwachen und behindern die SA, wo es nur geht; du glaubst nicht, was das für ein grenzenloses Durcheinander und Kompetenzgerangel in Berlin geworden ist. Aber es ist ja gut gegangen!“, rief er begeistert aus. „Etwas Geeigneteres jedenfalls kann es für uns überhaupt nicht geben! Von der prominenten Lage in der Mitte der Reichshauptstadt ganz abgesehen! Ich bin morgen in München und werde dem Obergruppenführer berichten.“ –

Als der Kreisleiter tags darauf zurückgekommen war, rief er Herkommer gleich wieder zu sich.

„Wir haben in München einen Volltreffer gelandet! Der Obergruppenführer hat im Auftrag des Stabschefs, der von deiner Arbeit ebenfalls recht angetan war, dem Liegenschaftsamt sofort unser Einverständnis übermittelt, und der Stabschef selber hat dem Führer in aller Form persönlich gedankt. Das will bei dem was heißen!“, lachte er. „Ich selbst werde mein Parteiamt hier niederlegen und als höherer SA-Führer mit dem Rang eines SA-Sturmbannführers in Berlin eine wichtige Position im Stab übernehmen. Außerdem: Der Obergruppenführer legt Wert darauf, dass du mitkommst. Ich übrigens auch. Es ist dir wohl klar, dass du den Münchnern dieses Angebot nicht ausschlagen kannst?“

Herkommer antwortete darauf nicht erst lange, sondern fragte nur: „Und wann wird das sein?“

„Irgendwann im Sommer.“ –

Milchbrüder, beide

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