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1_Ein Prolog

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Es regnete schon seit Tagen. In der Ferne, von der Rheinebene her, hörte man, wenn in der Nacht der Regen einmal nachließ, die Camions mit hochtourigem Wimmern sich die Straße heraufwinden, um Material für den Bau weiterer Bunker heranzuschaffen. Die Maginot-Linie war noch voller Lücken und schwächer als ihr Ruf, wenn man einmal absah von den unterirdischen Forts wie Simserhof südlich Pirmasens oder dem gewaltigen Fort Hackenberg in der Gegend von Thionville – das waren ganze Städte unter der Erde. Der gesamte Gürtel sollte ohne Aufsehen verstärkt werden und mehr Staffelung in die Tiefe erhalten, vor allem hier im südlichen Teil, wo man sich bisher doch eher auf den Rhein verlassen hatte.1

Die Tage waren düster, die Hütte verschwamm in den Wolken; im Aufenthaltsraum, der zugleich Schlafraum war, brannte schon früh am Abend ein trübes Licht. Gestern Nacht aber, als die Wolken plötzlich aufrissen und der Mond kalt und mit grellem Licht hervorbrach, da sah er zum ersten Mal den Hartmannsweilerkopf. Der war ganz nah, mit einem riesigen Kreuz an der höchsten Stelle, das aber so blass und fahl war, dass es fast verschwand. Dafür warf es im Mondlicht einen harten Schatten in den Altschnee auf dem Gipfel, der viel schärfer und schwärzer war als das Kreuz selbst. Er starrte auf das Schneefeld, lange, ohne Wimpernschlag. Wie umgestürzt und zerschmettert lag das schwarze Kreuz auf dem Schnee, kein schönes Bild. Schief und in die Länge gezogen, wellig und gezackt hing es kopfüber talwärts, als krieche es auf ihn zu.

Das war ihm schon als Kind aufgefallen, dass die Abbilder von den Dingen manchmal eindringlicher sein konnten als die Dinge selbst. Und hier war beides, Ding und Abbild, gleichzeitig zu sehen. Er blickte weg vom gnadenlos gezackten Schatten und empor am fahlen Kreuz, das ihm in seiner Ruhe gnädiger erschien und das im dunklen Nachthimmel vergehen wollte.

Dann hatte er mal hinter die Hütte treten müssen, und da hat es ihn überrascht, dass auch sein Strahl, obwohl doch durchsichtig und im Mondlicht fast unsichtbar, einen kräftigen Schatten auf den Restschnee warf, auf dem er stand, und wieder war das Abbild viel stärker als seine Ursache.

Mit einem Mal verlor der Schatten des Kreuzes seine unerbittliche Härte, wurde schwächlich und verschwand schließlich ebenso plötzlich wie der Mond. Das Kreuz selbst dagegen, obwohl kaum mehr sichtbar und nur noch zu ahnen, stand unverrückt. So wird es wohl immer stehen, dachte er, Jahr für Jahr, auch wenn niemand mehr nach ihm schauen würde, und auch dann noch, wer weiß, wenn es in Dunkelheit und Not verschwunden war.

Die grelle Mondnacht mit dem schwarzen Himmel, so kurz sie sich auch nur gezeigt hatte, schien ihm heller als der trübe Tag davor. Doch dann merkte er auf, war das, was er gesehen hatte, war das wieder eines dieser Zeichen? Ein Zeichen, das nur er sieht, das aber allen galt? Solche Zeichen waren ihm hin und wieder begegnet, und er war dann meistens ausgelacht worden. Er spürte, dass es nicht gut war für ihn, nachts allein auf Wache zu sein. Nur ein Zeichen konnte so eindringlich werden. Aber er verstand es nicht, so sehr er auch darüber nachdachte. –

Er war der Jüngste in der Gruppe. Serge, ein ungeschlachter Kerl, der früher zur See gefahren war, hatte ihn Moses getauft. So würden die Schiffsjungen heißen an Bord. Die anderen hatten das schnell übernommen, kaum einmal sagte noch einer Eugen zu ihm, höchstens Le Chef, der ihn ‚Öschähn‘ nannte oder ‚Öschänn‘, wenn er ihn rief. Ihm war das so unrecht nicht. Seit sie ihn Moses nannten, gehörte er dazu. Die meisten kannten sich von einem geheimnisvollen Algerieneinsatz, so viel hatte er herausgefunden. Wenn man der Jüngste ist, viel jünger als alle anderen, bekommt man nicht alle Antworten. Er hätte halt schon gern gewusst, warum Le Chef sonntags nicht mehr mit in die Kirche ging. Vielleicht dürfte er schon, aber er will wahrscheinlich nicht, weil er nicht mehr zur Kommunion gehen darf, wie zu hören war, und das sei halt jetzt so mit der Action française, aber eines Tages, da würde sie von allen verstanden werden.

Morgen oder übermorgen sollte es nachts hinunter nach Mulhouse gehen wegen irgendwelcher Plakate oder Spruchbänder, die dort hingen. Warum nachts? ‚Sauvez la rasse!‘ – ‚Rettet die Rasse!‘ – stünde darauf, das war wegen der Schwarzen oder der Juden, dachte er sich, aber keiner sagte, was mit den Plakaten geschehen soll, und mit direktem Nachfragen, ob abreißen oder weitere ankleben, hätte er sich arg blamieren können, das spürte er, und ausgelacht werden war die schlimmste aller Strafen. Moses zu sein, das war ein hartes Brot. Einige allerdings nahmen ihn in Schutz, das tat wohl. Aber der Hundewache, der lästigsten von allen, entging er nicht, und da geschah es dann oft, dass er ins Träumen geriet und arges Heimweh bekam. Hundewache, so hieß die letzte Wache in der Nacht, so wie heute, die nächste ging dann schon in den frühen Morgen über, das war dann bloß noch ein früheres Aufstehen, mehr nicht. Vielleicht würde er sich nachher noch einmal hinlegen können, aber an rechtes Schlafen war dann nicht mehr zu denken.

Serge schnarchte wie immer, lauter als alle anderen. Wenn Serge am Abend nach einer Weile mit dem Schnarchen einsetzte, und es blieb ruhig im Schlafraum, dann konnte er sicher sein, dass alle eingeschlafen waren. Fing Serge zu früh mit dem Schnarchen an, schon bevor alle schliefen, dann begannen die noch Wachgebliebenen sofort mit einem gleichmäßigen Pfeifen, und siehe da, es half. Serge hörte auf zu schnarchen, beileibe nicht für die ganze Nacht, aber gewöhnlich doch so lange, bis auch der letzte der Pfeifer eingeschlafen war, der dann alsbald selber mit in das allgemeine Schnarchkonzert einzufallen pflegte, das sich da unter Serges Leitung entwickelte.

Serges Lautstärken waren beträchtlich, über Stunden hinweg, und nur kurz für einige Atemzüge unterbrochen, wenn er sich einmal umdrehte. Dass der das überhaupt aushielt! Und dass die anderen von diesem Lärm nicht aufwachten? – Aber das waren Schlafgeräusche, und Schlafgeräusche sind harmlos seit alters her, während diese Pfeiftöne eben keine Schlafgeräusche waren und darum Serges Aufmerksamkeit selbst im Schlaf mindestens soweit erregten, dass er aufzuwachen begann; ein bisschen zwar nur, aber immerhin so viel, dass er, natürlich immer noch schlafend, das Schnarchen vorsichtshalber für ein Weilchen einstellte, bis ihm die allgemeine Sicherheit wieder auszureichen schien.

Sogar vor der Hütte war das Schnarchen noch zu hören. Er träumte hinüber zum Hartmannsweilerkopf, dem Schicksalsberg der Elsässer, der wieder ganz in den Wolken verschwunden war. Da ist damals, bald nach Kriegsausbruch, ein General mit sich selber zu Rate gegangen und hat beschlossen – aus eigener Machtvollkommenheit so einfach für sich beschlossen –, dass der Hartmannsweilerkopf ein strategisch wichtiger Punkt sei (was freilich spätere Militärhistoriker bezweifelten), und besetzte die Kuppe mit allem, was er auch nur irgendwie zur Verfügung hatte. Dabei hätte man es belassen sollen, und alles wäre gut gewesen.

Aber des einen Tat war des anderen Vorbild. Der andere, das war der Amtsbruder des Generals auf der Gegenseite, und obwohl grimmige Feinde, aber eben doch Brüder im Geiste, gelangten die beiden in wundersamer Übereinstimmung zum gleichen Ergebnis: Der andere General hielt den Hartmannsweilerkopf für einen mindestens ebenso wichtigen strategischen Punkt und griff seinerseits mit allen Kräften an, die er aufbieten konnte. Je verbissener der eine festhielt, desto mehr sah sich der andere in seiner Einschätzung bestätigt und desto wilder schlug er drauf; und je heftiger der andere anstürmte, desto besinnungsloser hielt der eine fest. Das ist das Grundschema aller Schlachten, von denen es heißt, sie seien erbittert gewesen, wenn es sich nicht gerade um Kesselschlachten handelt.

So zog sich das fast die ganzen vier Jahre des Krieges hin. Am Schluss waren dreißigtausend Franzosen tot, und Onkel Albert vermisst, und vielleicht sechzigtausend Soldaten im Ganzen, da war er sich, wie er da vor sich hinträumte, nicht so ganz sicher. In der Schule hatte man mehr von den Franzosen gesprochen, aber er wusste, zwar sind von unseren Leuten aus Munster damals die meisten von den Deutschen gleich an die Ostfront gesteckt worden, weil man ihnen gegen die Franzosen eben doch nicht so recht getraut hat, aber hier am Hartmannsweilerkopf mussten auf beiden Seiten welche von uns mit dabei gewesen sein, denn schon vor dem Krieg waren ein paar aus Munster auf die französische Seite geraten, Gott weiß wie, und eigentlich war es egal, auf welcher Seite es Onkel Albert erwischt hatte. –

Richard Castan, der Vater von Albert und Bertel Castan, war etliche Jahre vor der Jahrhundertwende von den Deutschen als höherer Verwaltungsbeamter von Kassel nach Straßburg versetzt worden. Er heiratete, obwohl Protestant, eine Elsässerin und wollte die alsbald geborenen Zwillinge aus einer kameralistischen Ordnungsmarotte heraus Albert und Bertal (Al-bert und Bert-al) taufen lassen, wobei aber ‚Bertal‘ mit ‚a‘ bei der Eintragung ins Kirchenbuch beim Pfarrer auf Bedenken stieß. Wäre nicht schon der Name Albert hineingeschrieben gewesen, hätte Richard Castan sicherlich nach zwei neuen Namen gesucht. So akzeptierte er den Vorschlag des Pfarrers, statt Bertal das Kind doch einfach Bertel zu nennen; zwar sei Bertel nicht nur eine Kurzform von Berthold, sondern auch von Albert, insofern unterschieden sich die beiden Namen nicht sehr voneinander, aber das träfe ja auch für diese beiden Buben zu, die doch kaum auseinanderzuhalten seien.

In der Tat waren die beiden Säuglinge schon häufig von der Kinderfrau und gelegentlich sogar von der Mutter verwechselt und so sicherlich schon mehrmals vertauscht worden, bis der Vater, der nichts höher schätzte als eine verlässliche Ordnung, ein Machtwort sprach und die inzwischen an den Handgelenken angebrachten verschiedenfarbenen Wollfäden kurzerhand abschnitt und einen der beiden Buben, dem fortan der Name Albert endgültig zugeordnet wurde, von einer robusten Femme Tatoueur in Colmar unverwechselbar kennzeichnen ließ, indem er sie anwies, an der Innenseite des rechten Oberarms ganz klein ein ‚A‘ für ‚Albert‘ anzubringen. Doch bei einer derartigen Ähnlichkeit, die schon einer völligen Gleichheit nahekam, konnte es, obwohl sachlich ausreichend, nicht bei der Markierung von nur einem der beiden Knaben bleiben. Bertel habe sogleich unüberhörbar aufgemuckt, hatte Vater Castan später immer wieder einmal erzählt, und obwohl Bertel mit seiner Unmutsäußerung einen anderen Grund gehabt haben mochte, hatte der Vater damals sogleich erkannt, dass selbstverständlich beide strikt gleichbehandelt werden mussten, und so hatte Bertel nur Minuten später ebenfalls seine Tätowierung, ein ‚B‘ für ‚Bertel‘, erhalten. Das kleine Aufmucken Bertels, das dazu führte, dass auch er tätowiert worden ist, wäre eine kaum berichtenswerte Belanglosigkeit geblieben, hätte es nicht letzten Endes, fast fünfzig Jahre später, Bertel das Leben gekostet. –

Einige Jahre nach dem Krieg ist man bei Aufräum- und Umbettungsarbeiten am Hartmannsweilerkopf auf eine gut erhaltene Erkennungsmarke gestoßen, die, wie sich rasch ermitteln ließ, die Erkennungsmarke von Albert Castan war. Erst damit konnte behördlicherseits die endgültige Tot-Erklärung erfolgen. Als dann Bertel, der bis dahin noch immer auf die Heimkehr Alberts gehofft hatte, die endgültige Nachricht vom Tod seines Zwillingsbruders durch einen Bediensteten der Mairie überbracht wurde, da hatte er, so erzählte man es sich in der Familie, ohne eine erkennbare Regung starr geradeaus geblickt, am Überbringer vorbei, mit dem gleichen leichten Lächeln, mit dem er den Boten empfangen hatte, so als habe er nichts verstanden, ja nicht einmal etwas gehört, und er behielt diese erstarrte Haltung auch noch bei, als der Überbringer mit seinen unbeholfen zurechtgelegten Sätzen längst zu Ende gekommen war. Der freilich hatte mit irgendeiner Antwort gerechnet, mit irgendeiner Äußerung wenigstens, man würde dann schon weitersehen, was noch zu sagen sei, und ein Wort würde das andere ergeben, und er würde sich dann bald wieder verabschieden, denn so gut kannte er den Herrn Castan ja nicht.

So aber hielt Bertel Castan die Zeit einfach an, indem er schwieg und geradeaus starrte. Mit jeder Sekunde der Erstarrung wurde es schwerer, das Schweigen aufzubrechen. Onkel Bertel, soviel war Eugen Saller klar, wenn er jetzt über diese angespannte Situation, von der ihm der Dorfbüttel erzählt hatte, so nachdachte, Onkel Bertel musste schon damals als ziemliche Respektsperson im Dorf gegolten haben. Das war gewiss auch dem Büttel gegenwärtig, der wie alle Hilfskräfte in einer untergeordneten Position, die sie über viele Jahre hinweg haben halten können, ein feines Gefühl dafür herausgebildet hatte, mit wie viel Respekt, Vorsicht und Zurückhaltung man einer Person, mit der man dienstlich zu tun hatte, begegnen musste, aber auch wie viel Mitgefühl oder Zustimmung oder Herzlichkeit ihr gegenüber aufzubringen schicklich war. Darum konnte er als ein gewöhnlicher Gemeindediener dem Herrn Castan jetzt doch nicht einfach ins Wort fallen – wiewohl dieser ja bis jetzt noch nicht ein Wort gesprochen hatte.

Wie beredsam war Bertel Castan doch gewesen, als er aus Chicago zurückgekommen war! Dort hatte er, jüngstes Mitglied einer Regierungskommission der Franzosen, die industrielle Fleischproduktion der Amerikaner studieren sollen, die der handwerklichen Metzgerei hierzulande – unhygienisch und mittelalterlich (‚plein de microbes et absolument moyenâgeux‘), wie er immer wieder betont hat – weit voraus war.

Bald danach hatte er den ehrenvollen Auftrag erhalten, einen vollmechanisierten Schlachthof nach amerikanischem Vorbild in Paris zu entwerfen. Eugen erinnerte sich noch an die Postkarten mit dem Eiffelturm drauf, die Onkel Bertel an Mutter geschrieben hatte. Der Schlachthof ist später zu einem Treffpunkt europäischer Schlachthofdirektoren geworden.

In einem modernen Schlachthof amerikanischer Art hatte Bertel Castan vor allem die Weiterverarbeitung in ihrer Sauberkeit und in ihrer Präzision fasziniert und die klare Vorhersehbarkeit der Abläufe, er hatte das leise Tak-tak-tak-tak der Gliederketten im Ohr, von denen die Tiere, in gleichen Abständen aufgereiht, herabhingen und sekundengenau zu den einzelnen Stationen transportiert wurden.

Umso mehr hatte er das Chaos, den Schmutz und das Blut auf den Schlachtfeldern gehasst, die Zufälligkeiten, die unvorhergesehenen Rückschläge und unverhofften plötzlichen Durchbrüche und den ungewissen Ausgang; wobei in den meisten Schlachten ja beide Seiten verloren – Bataillone, Geschütze, Schiffe, Flugzeuge –, die einen ein paar mehr, die anderen ein paar weniger, die hielten sich dann für die Sieger.

Schließlich hatte der unglückliche Überbringer der Todesnachricht dann doch noch seinen Mund aufgebracht, nur um etwas zu sagen, nur um der Stille zu entkommen, denn irgendwie musste das Gespräch weitergehen, irgendwie musste er herausfinden aus dieser Folter, die unerträglich war, obwohl sie aus nichts anderem als aus Schweigen bestand, und er stammelte, als ob das ein Trost sei für Bertel: „Es war in der letzten Schlacht am Hartmannsweillerkopf –“

Da fuhr Bertel hoch: „– geschlagen von Dilettanten, deren einzige Qualität die einfallslose Zähigkeit war, die sture Verbissenheit, sonst nichts, nichts! Reine Schlachtfelddirektoren und Tötungsingenieure, aber stümperhafte, die den Tod des einzelnen dem Zufall überließen!“

Der Tod des einzelnen, das erschien dem Büttel zu wenig tröstlich für Herrn Castan und wie zur Ergänzung fügte er an: „Über dreißigtausend Tote allein auf französischer Seite!“, damit Herr Castan sähe, wie wenig er allein war in seiner Trauer.

Um sich eine Vorstellung zu verschaffen, fing Bertel, in alter Gewohnheit und ohne es eigentlich zu wollen, damit an, im Kopf das Schlachtgewicht zu überschlagen und murmelte: „Das sind an die 2000 Tonnen Soldaten –“, und als ihn der Büttel bestürzt anblickte, da brüllte es aus ihm heraus: „Hab’ ich denn das grausige Wort Schlacht erfunden? Da sagst du nichts –“

Die heftigen Worte seien unvermittelt in ein ebenso lautes Schluchzen übergegangen, aber schon nach wenigen Augenblicken habe sich Bertel Castan wieder in der Hand gehabt. –

Ein Geräusch, nah hinter ihm, ließ Eugen Saller aufschrecken. Das musste Le Chef sein, der immer sehr früh aufstand, lange vor dem Wecken und meistens mit Gepolter. Da rief er ihn auch schon, stimmlos, weil noch alles schlief, und dennoch laut:

„Öschänn, Öschänn! Chumm schnall!“

„Buschur“, brummte Eugen und dachte, der bellt sogar dann noch wie ein Preuß, wenn er flüstert, und ging mit dem Chef ins Haus, wo sie im Schlafraum alle dicht nebeneinander lagen.

„Hör’ dir das an, Öschän“, kicherte Le Chef vergnügt, „die schnarchen wieder alle im gleichen Takt!“

Tatsächlich, so war es – nicht zu glauben! Eugen lauschte, ob sich nicht wenigstens ein einziger Abweichler fände, vergebens. Doch Serges Schnarchen schien ihm derart übertrieben – er setzte die Pausen nach dem Ausatmen so überdeutlich und variierte die Übergänge so kunstvoll –, dass Eugen im Halbdunkel leise zu Le Chef hinüberfragte: „Ob die Quatsch machen? Die wollen uns verarschen“, wobei ihm im selben Augenblick aufging, dass es vielleicht etwas dreist war dem Chef gegenüber, von ‚uns‘ zu sprechen, zumal ihm Zweifel kamen, ob nicht Le Chef selbst mit dahinterstecken könnte. Nichts fürchtete er mehr, als ausgelacht zu werden.

„Nein, nein“, rief Le Chef, nun überzeugend laut, „das gibt’s immer wieder mal, wahrscheinlich sogar ein paar Mal jede Nacht, nur hört es dann halt niemand.“

Wenn ich das daheim erzähle, das glaubt mir keiner, dachte Eugen.

„Bass uff, Öschän, ich studier’ das schon lang. Jeder ist mit jedem verbunden, mit dem einen enger, mit dem anderen nicht so fest. Jeder hört jeden, auch im Schlaf, den einen mehr, den anderen weniger, und jeder wird von jedem gehört, vom einen deutlicher, vom anderen schwächer – aber nur ein bisschen schwächer. Steigt ein Kleinschnarcher mal aus – weil er schlucken muss oder sich umdreht –, dann hält er das nicht lange durch. Er fasst, so schnell er kann, wieder Tritt, auch wenn er für sich allein vielleicht eine Spur schneller oder langsamer atmen würde. Gewöhnlich fängt er dann etwas leiser mit dem Schnarchen wieder an und erst, wenn er genau auf die anderen eingeschwungen ist, schnarcht er wieder voll mit. Die lauten Großschnarcher wie Serge, das sind die tonangebenden. Die können alles durcheinanderbringen. Wenn die aus dem Takt fallen, dann kann es lange dauern, bis alle wieder im Gleichtakt sind. Es wird dann viel leiser im Raum, so, als ob alle unsicher lauschten, wo die anderen sind und wo man sich am ehesten mit dranhängen kann und wem man im Traum am ehesten die Hand geben könnte, um nicht so allein zu sein in der Nacht.“

Und nach einer Pause: „Manchmal kann ich beim Zuhören fast spüren, wie es sich dann viel leichter atmet, wenn sie alle wieder beieinander sind und nicht jeder stolpernd seinen Platz suchen muss und dabei dauernd mit einem anderen zusammenstößt.“

Le Chef blickte ihn dabei nachdenklich an, und Eugen Saller wiederholte murmelnd, wie um zu zeigen, dass er alles verstanden habe: „Jeder ist irgendwie mit jedem verbunden, ohne dass er das merkt –“

„Aber“, sagte Le Chef, „so ist das auf der ganzen Welt – mit allem! Nur sieht man’s nicht so deutlich wie hier beim Schnarchen, wo sie alle so dicht beieinanderliegen.“

Trotzdem war sich Eugen Saller erst viele Jahre später sicher, dass das damals wirklich so war, wie es ihm Le Chef erklärt hatte, und ihm da nicht ein Theater vorgespielt worden ist. Aber so harmlos wie am Hartmannsweilerkopf, wo schlafend einer am anderen baumelte und es nur um das Schnarchen ging, war das dann gar nicht mehr. –

Milchbrüder, beide

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