Читать книгу Milchbrüder, beide - Bernt Spiegel - Страница 6
2_Ungleiche Rivalen
ОглавлениеViktor Zabener wartete in der Hitze schon eine ganze Weile. Um zu vermeiden, dass man sie zu Hause gemeinsam weggehen sah, hatten sie sich auf vier Uhr an der Kirche verabredet, und er war schon etwas früher gekommen, weil er sich vor Ludwig immer noch ein wenig fürchtete und nicht wollte, dass Ludwig auf ihn warten muss. Im Ablesen der Uhr fühlte er sich, eigentlich schon seit sie zur Schule gingen, recht sicher, aber je länger er so dastand und wartete, desto mehr zweifelte er, ob es tatsächlich vier Uhr war, denn die Uhr an der Kirche hatte an den Stellen, wo sonst die Zahlen stehen, nur unregelmäßige Striche. Doch dann begann vom Turm das Läuten zur vollen Stunde. Er merkte gespannt auf und zählte dann am Ende die tiefen, ruhigen Stundenschläge mit. Es waren vier, er war erleichtert.
Der dicke Zeiger, der kürzere der beiden, auf den man sich am ehesten verlassen konnte, war schon wieder ein Stückchen weitergewandert, als er in der Ferne Ludwig kommen sah. Ludwig schlenderte und hatte nicht die geringste Eile. Als er hersah, winkte ihm Viktor stürmisch zu, mit beiden Händen über dem Kopf. Ludwig ließ einen winzigen Augenblick verstreichen, bevor er zurückwinkte, und er hob dazu nur kurz die linke Hand und den Unterarm.
Viktor mochte Ludwig, er mochte ihn sehr, gerade weil er so ganz anders war als er, aber Viktor spürte auch, wie schwer es ihm Ludwig manchmal machte. Ludwig, dieser kleine Vierschrot, der einen halben Kopf kleiner war als er, nutzte mit einer Instinktschläue sondergleichen auch die geringste Möglichkeit, die sich bot, um sich Viktor untertan zu machen und immer neue Abhängigkeiten zu schaffen, um so stets und überall zum unumstrittenen Anführer zu werden. Schon damals am ersten Schultag hatte er sich vorgedrängt.
„Ah, da sind ja unsere beiden Milchbrüder“, hatte sie der Lehrer frohgelaunt begrüßt und ihn gefragt: „Wie ich gehört habe, Viktor, bist du also der Milchbruder vom Ludwig?“
Viktor hatte nicht verstanden und den Lehrer ausdruckslos angeblickt. Dann hatte er zu Ludwig hinübergeschaut, und der hatte ausgelassen gerufen: „Nein, nein, ich! – Ich bin der Milchbruder, ich! Meine Mama hat mir immer gesagt, ‚du bist der Milchbruder vom Viktor‘!“
Aber der Lehrer war damit nicht einverstanden: „Wer hat denn euch beide, als ihr ganz klein wart – wie soll ich sagen? – wer hat euch da – äh, aufgezogen?“
„Ich glaube – ich glaube, mich haben sie immer zu Frau Herkommer runtergebracht“, hatte Viktor gestottert, das Thema war ihm peinlich.
„Ja, ich sag’s doch!“, hatte sich der Lehrer gefreut und ihnen dann erklärt: „Es stimmt also doch, ihr seid Milchbrüder, beide, das ist ja auch schön so! Aber deine Mutter, Ludwig, wird nie sagen, ‚du bist der Milchbruder‘, sondern du bist ihr Sohn, und der Viktor, das ist der Milchbruder dazu. Und dein Milchbruder, Viktor, das ist der Ludwig – ihr seid Milchbrüder, beide.“
Viktor hatte sich geärgert, dass Ludwig daraufhin sogleich mit allzu betontem Stolz zu ihm herübergeblickt hatte, als ob er ‚Siehst du!‘ hatte sagen wollen.
Die Luft über der Straße flimmerte, doch Ludwig war jetzt schon genau zu erkennen und Viktor freute sich, dass Ludwig, so schlendernd er auch ging, gleich da sein würde. Aber Ludwig verschwand erst noch einmal in einem Garten, Viktor sah ihm hilflos nach. Nach einer Weile kam er mit einem Apfel in der Hand wieder zum Vorschein. Auch das letzte Stück bis zu Viktor legte er nicht einen Schritt schneller zurück.
„Willst du?“, fragte er Viktor auf den letzten Schritten und streckte ihm den Apfel entgegen, aber dann biss er erst einmal selber hinein.
„Hast du das Geld dabei?“, fragte er kauend.
Viktor nickte und nestelte aus seiner Hosentasche dreißig Pfennig hervor, die er hatte auftreiben sollen, weil sie am Neckar ein Ruderboot mieten wollten. Die dreißig Pfennig zu beschaffen, das war gar nicht einfach gewesen, aber Ludwig zeigte sich nicht so erfreut, wie Viktor gehofft hatte. Viktor hatte die paar Münzen in Papier gewickelt, damit sie zusammenblieben, und das Einwickeln der Münzen hatte ihn an die Musikanten erinnert, die mit ihren sehnsüchtigen Melodien hin und wieder bei ihnen in den Hof kamen, und denen die Köchin und die Zimmermädchen eingewickelte Münzen runterwarfen, damit sie weiterspielten und auch mal wiederkämen. –
Ludwig ruderte als Erster, Viktor saß am Heck. Wenn man sich nahe genug am Ufer hielt, kam man auch flussaufwärts gut voran. Zwei kleine Mädchen am Ufer wedelten mit ihren Taschentüchern zu ihnen herüber, Viktor winkte zurück.
„Dumme Spaltpisser“, wandte sich Ludwig verächtlich ab.
Sie glitten an der Bretterwand des schwimmenden Bootsverleihs vorbei, der am Ufer festgemacht war.
„Da sind Hunderte von Paddelbooten und Kajaks drin“, erläuterte Ludwig, „wenn man ein eigenes Boot hat, kann man es da unterstellen. Das ist genauso auf Schwimmern gebaut, wie drüben im Rhein das Herweck.“
„Was ist das Herweck?“
„Das ist dieses Flussbad am Stephanienufer, weißte?“
„Ach so, jaja, diese große Badeanstalt, die kenne ich.“
„Nur ist die vielleicht zehnmal so groß, mit einem Café drin und einem Restaurant und Umkleidekabinen und so. Aber verdammt teuer der Eintritt. Da müssen wir unbedingt auch mal irgendwie rein“, sagte Ludwig, „schon wegen der halbnackten Weiber, die es dort hat.“
Das hätte er nämlich genau gehört, neulich, in der Reparaturwerkstatt, als der Autoschlosser seinem Vater, dem Chauffeur Herkommer, von der Badeanstalt erzählt hat.
„Wie sollen wir da reinkommen, du kannst ja nicht richtig schwimmen!“
Die Bemerkung verdross Ludwig, Schwimmen war das einzige, worin ihn Viktor übertraf. Und nur schwimmend konnte man heimlich in die Badeanstalt gelangen, da hatte Viktor schon recht, denn an der Kasse gab es kein Vorbeikommen. Unter den Treibgutabweisern, die noch außerhalb lagen, musste man sogar drunter durchtauchen und gleich nach dem Auftauchen einen der Zwischenräume zwischen den mächtigen schwarzen Pontons treffen, die die Badeanstalt trugen. Viel Zeit blieb einem dazu nicht, die Strömung war gewaltig, anhalten oder umkehren gab es nicht. Zwischen den Pontons dann, die gerade genügend Platz ließen für einen Schwimmer dazwischen, wurde es finster und unheimlich, und die rauschende Strömung wurde noch reißender und gurgelte an den Kanten der Pontons. Bevor es dann wieder ins Helle ging, war es gut, wenn es gelang, sich an einem der stählernen Querträger über dem Kopf festzuhalten; dann konnte man, bevor man ins offene Becken hinausschwamm, erst Ausschau halten, ob der Bademeister in der Nähe war. War die Luft rein, ließ man sich los und durchschwamm das Becken mit der Strömung bis zum Ende und wurde auf der Holztreppe dort, die über die ganze Breite des Beckens ging, in Rückenlage und mit den Füßen voraus von der Strömung noch ein paar Stufen hinaufgetragen. Damit war man zu einem ganz normalen Badegast geworden.
Aus der Badeanstalt wieder herauszukommen, war fast noch schwieriger. Sich ohne Kleider, nur in der Badehose, an der Kasse vorbeizuschleichen, war viel zu auffällig und gefährlich. Man musste sich, und zwar schon ziemlich am Anfang des Beckens, das ja eigentlich gar kein richtiges geschlossenes Becken war, am Rand an der seitlichen Haltestange festklammern, die knapp über dem Wasserspiegel verlief, diese an der richtigen Stelle untertauchen und sich dann zwischen zwei hintereinanderliegenden Pontons, die dort eine kleine Lücke ließen, hindurchhangeln, was nicht einfach war, denn wenn die Hände den festen Griff an den Trägern verloren, konnte man unter den Ponton gedrückt werden – so seien schon welche ertrunken, hieß es. Danach war man wieder in einem schmalen, dunklen Kanal zwischen zwei Pontonreihen und schoss an dessen Ende mit beträchtlichem Tempo wieder hinaus in den offenen Fluss.
Beide waren sie sich sicher, irgendwann würden sie es versuchen. Bei den Großen in der siebten oder achten Klasse seien neulich vervielfältigte Blätter konfisziert worden, in denen, sogar mit Skizzen, genau beschrieben war, welchen Weg man schwimmen musste und wo man sich festhalten konnte, um abzuwarten oder um sich zur Seite zu hangeln. Da müsste man doch drankommen, meinte Ludwig.
„Wenn die vom Rektor eingezogen worden sind?“, zweifelte Viktor.
„Ach was, die erwischen nie alle Zettel! Wenn da wirklich welche eingezogen worden sind, gibt’s unter Garantie irgendwo noch mehr davon. Lass mich mal machen!“
„Lern lieber erst mal anständig schwimmen! Eigentlich ist auch das Rudern viel zu gefährlich für dich. Jetzt lass endlich mich mal ran!“
Ludwig dachte nicht daran. Als er schließlich dann doch Viktor nach vorn auf die Bank ließ, hatten sie höchstens noch zehn Minuten. Viktor wollte die Zeit nutzen und zog gleich kraftvoll durch, aber durch eine Ungeschicklichkeit – es mochte auch ein Schwanken des Bootes gewesen sein – tauchte das Ruderblatt nicht recht ein und beförderte eine kräftige Ladung Wasser genau auf Ludwig, der im Heck saß. Viktor erschrak und blickte ängstlich und entschuldigend zu Ludwig hin, aber der atmete nur wie erschöpft aus, bewegungslos und ohne eine Miene zu verziehen und mit einem Blick, als wollte er sagen ‚Ich habe es ja gleich gewusst, nicht einmal rudern kann er‘.
Viktor gestand sich ein, Ludwig konnte tatsächlich besser rudern als er, wenn er auch nicht so gut schwimmen konnte, und im Radfahren war Ludwig auch geschickter. Damals hatte die Köchin Viktor ihr Rad gegeben, ein Damenrad, mit dem er unter der sachten Mithilfe des Zimmermädchens schließlich ganz gut zurechtgekommen war, obwohl er in den Pedalen hatte stehen müssen, weil der Sattel viel zu hoch für ihn war.
Ludwig aber, kleiner als er, hatte damals das Herrenrad seines Vaters genommen, aber Viktor hatte sogleich gesehen, dass Ludwig, auch wenn er sich nicht auf den Sattel setzen würde, wegen des Oberrohrs unmöglich bis zu den Pedalen reichen würde. Doch Ludwig, was tat der? Er setzte seinen rechten Fuß auf das rechte Pedal, stieß sich mit dem linken zwei, drei Mal ab, wie das auch die Erwachsenen manchmal beim Aufsteigen tun, und streckte dann das linke Bein unter dem Oberrohr durch den Rahmen hindurch, um mit dem Fuß das Pedal auf der linken Seite zu erreichen. Das ergab freilich eine äußerst verquere Haltung, denn er saß – oder besser, er stand – nicht über dem Fahrrad, sondern er hing seitlich daneben, aber er fuhr, wenngleich es ein fast schon artistisches Geschick erforderte, so die Balance zu halten. –
Nach dem Rudern hatten sie noch Zeit. Sie setzten sich ins Gras und überlegten, was man noch unternehmen könnte. Plötzlich stand Ludwig auf: „Wir gehen vor zur Eisenbahnbrücke; viel zu gefährlich, oben drüberzugehen, aber da weiß ich was.“
Ohne Viktors Antwort abzuwarten, stürmte er los. Wie er auf einmal geschwind draufloslaufen kann, dachte Viktor und eilte hinterher. Ludwig ging unten auf der Uferwiese, nah am Wasser, bis er unter der Brücke stand, und blickte nach oben.
„Siehst du den Spalt?“, rief er Viktor zu, „da schlüpfen wir rein.“ Sie stiegen die Böschung hoch, aber je weiter sie nach oben kamen, umso mehr Abfall lag herum und umso ekelhafter stank es, und Viktor wollte umkehren.
„Du bleibst da!“
An der Unterseite des mächtigen Längsträgers, genau über ihnen, sah man tatsächlich einen Spalt, der bis ans jenseitige Ende der Brücke ging. „Der ist breit genug, da kann man reinkriechen. Das sind nämlich zwei riesige Doppel-T-Träger“, machte sich Ludwig wichtig, wer weiß, wo er das herhatte, aber es stimmte, „die ziemlich nah nebeneinanderliegen, aber noch Luft haben. Drinnen kann man stehen, den einen Fuß auf dem linken Träger, den anderen auf dem rechten, und in der Mitte, musst du dir vorstellen, genau unter dir, der Spalt. So kann man dann auch vorwärtsgehen, ein bisschen breitbeinig, klar, aber so kommen wir bis zur anderen Seite rüber! Man muss halt gut schwindelfrei sein, aber passieren kann nichts.“
Ludwig stotterte vor atemloser Begeisterung.
Sie kletterten die Böschung noch ein Stück weiter hinauf, bis sie nur noch geduckt unter der Brücke kauern konnten. Der Spalt war immerhin knappe zwei Handspannen breit – das sollte reichen! –, allerdings war er auf die ersten Meter mit ein paar schlampig angeschweißten Flacheisen versperrt worden; aber das fand Ludwig gerade gut, weil man sich an ihnen wie an Quersprossen bequem vorhangeln könnte und dann genügend Platz hätte, um tüchtig Schwung zu holen, wie ein Turner am Reck, was er auch sogleich tat, und – schwuppdiwupp! – schon war er mit den Beinen voraus in der Brücke verschwunden.
Viktor musste drei Mal ansetzen, – „Du musst den Kopf in den Nacken werfen, wenn du die Beine hochschwingst!“, rief Ludwig – dann gelang ihm der Aufschwung endlich. Ludwig war bis über die Quersprossen zurückgetreten, sodass Viktor nun vor ihm stand und vorangehen musste. Schon nach wenigen Schritten fühlte Viktor, wie sehr ihm der Rückweg abgeschnitten war. Er ging vorsichtig, in langsamen und kurzen Schritten, und spürte, wie Ludwig ungestüm nachdrängte. Selbst wenn man stolpern und hinfallen würde, beruhigte er sich, konnte man eigentlich nicht durchfallen, man musste sich nur immer so breit wie möglich machen.
Der enge Gang war düster, und sein Ende, der rettende Ausgang, war in der Ferne kaum zu erkennen. Licht kam nur von unten herein, von der Uferwiese, die jetzt viel heller zu sein schien als vorher, da sie darauf herumgelaufen waren, und dieses Licht genau von unten, das war ungewohnt und ergab ganz fremdartige Bilder. Er solle nicht dauernd so direkt nach unten schauen, rief Ludwig von hinten, und dann sah er, weiter vorne, wie sich in der Wasserfläche, die sie gleich erreichen würden, die Unterseite der Brücke spiegelte, fast schwarz im hellen Himmel. Aber vielleicht sollte er gar nicht so sehr auf das Licht von drunten achten, sagte sich Viktor, denn dann fällt einem erst so richtig auf, wie tief die Uferwiese unter einem lag – Ludwig hatte recht, man musste schon gut schwindelfrei sein. Und passieren könnte ja nichts, hatte er noch hinzugefügt.
Sie kamen gut voran, und nach einer Weile war ein fernes Sirren zu vernehmen, das sich allmählich in ein leichtes Vibrieren verwandelte und nur sanft zunahm. Aber dann setzte mit der Plötzlichkeit eines Kanonenschlags, aber eines Kanonenschlags, der nicht enden wollte, ein donnerndes Dröhnen ein, übertönt noch durch ein tausendfaches Poltern aus allen Richtungen, und als Viktor die Arme mit höchster Kraft zur Seite gestemmt hatte, um sich festzuklemmen, und glaubte, dass nun das Tosen und Dröhnen nicht mehr stärker werden könnte, nahm es mit einem Sprung noch einmal zu, und Viktor spürte, wie die Brücke rüttelte und schwankte, und er fürchtete, aus ihr herausgeschüttelt zu werden. Mit weit aufgerissenen Augen sah er sich entsetzt zu Ludwig um – jetzt nur nicht den Körper zur Seite drehen, sonst falle ich durch! –, und Ludwig hatte ein so zusammengekniffenes Gesicht, wie er es noch nie bei ihm gesehen hatte, und versuchte zu lächeln, als er merkte, dass Viktor hersah.
Ebenso unvermittelt trat dann wieder Ruhe ein, nur das schwächer werdende leise Vibrieren spürte man noch eine Weile, und das sich entfernende Sirren war noch zu hören.
Ludwig sagte gepresst in die plötzliche Stille hinein: „Das war der Express nach Paris.“
Viktor zitterte und konnte nicht mehr weitergehen und überlegte, wie er sich am sichersten umdrehen könnte, wenn sie jetzt hoffentlich wieder zurückgehen würden.
„Wenn ich allein gewesen wäre“, sagte Ludwig auf dem Heimweg, „wäre ich bis ans andere Ufer gegangen.“
Das war keine Angeberei, und Viktor war froh darüber, dass Ludwig nicht weitergegangen war und ihn nicht im Stich gelassen hatte. Er wusste, so etwas würde Ludwig niemals tun, so eklig er manchmal zu ihm auch war. Neulich, beim Klassenausflug, als er gar nicht wissen konnte, dass Viktor zuhörte, hatte er sich bei der Aufgabenverteilung für das Geländespiel lautstark für ihn eingesetzt und wie ein Löwe für ihn gekämpft. Ludwig hielt zu ihm, und es stimmte schon, Ludwig war der Mutigere von beiden, unerschrocken und ungerührt, sobald es darauf ankam. Er dagegen dachte zu viel nach, und der Lehrer hatte gesagt, er überlege überhaupt bei allem viel zu lange.
Als sie noch kleine Buben waren, hatte Viktors Kindermädchen gelegentlich auch Ludwig zum Spaziergang in den Schlossgarten mitgenommen, und schon damals war zu sehen gewesen, dass Ludwig der Mutigere von den beiden war. „Viktor, du bist ein Hasenfuß“, so lautete der Ausruf des enttäuschten Kindermädchens stets, wenn der Draufgänger Ludwig ihren zögernden Viktor wieder einmal mit seiner wilden Entschlossenheit übertroffen hatte.
Der Spazierweg führte damals gewöhnlich über das Viadukt in der Nähe des Bahnhofs, was für die Kinder ein Hauptspaß war, weil die Rangierlokomotiven, die darunter durchfuhren, dichte Dampfwolken ausstießen, die den darüberliegenden Teil des Viadukts für ein paar Augenblicke in undurchdringlichen Nebel hüllten, in dem man nicht einen Meter weit sehen konnte. Schon bald stellte sich Ludwig, wenn er eine Lokomotive kommen sah, gegen alle Warnungen des Kindermädchens genau über das Gleis, auf dem die Lokomotive nahte, hielt sich am Geländer fest, schaute nach unten und wartete verzückt, bis ihn die Lokomotive einhüllte. Oder er rannte in vollem Lauf in eine Dampfwolke hinein, die wie eine feste Wand vor ihm stand, mit den Armen wild rudernd, als ob er die weiße Watte vor sich teilen müsse.
Es hatte lange gedauert, bis auch Viktor das riskierte. Er fing ganz vorsichtig an, indem er sich nicht genau über das Gleis stellte, sondern ein wenig seitlich versetzt, und nahm anfangs schon bei den ersten Dampfschwaden, die ihn berührten, Reißaus. Erst allmählich wurde er mutiger, und man sah, wie er es genoss, das Gruselige und Furchteinflößende immer leichter zu überwinden. Anfangs hielt er die Luft noch an, später sog er den weißen Dampf vorsichtig ein, er war warm und roch nach Abenteuer, nach Öl und heißen Maschinenteilen, durchmischt mit dem Kohlenqualm des Kesselfeuers.
Einmal allerdings, auf dem Heimweg, war Ludwig in vollem Lauf mit einem entgegenkommenden riesenhaften Hund zusammengeprallt, der von seinem Herrn an kurzer Leine gerade durch eine solche Wolke hindurchgezerrt wurde. Ludwig fiel durch den Aufprall zu Boden, spürte über sich das mächtige Tier mehr, als dass er es gesehen hätte, und er erschrak so entsetzlich, wie er noch nie in seinem Leben erschrocken war, und der Hund, mindestens ebenso erschrocken wie er, stieß seine Panik in einem anhaltenden, grauenhaften Schrei heraus, bevor dann sein Brüllen in ein wütendes Gebell überging, das noch lange anhielt. Viktor, obwohl selbst gar nicht betroffen, hatte vor sich hingeheult, bis sie zu Hause waren, Ludwig dagegen, obwohl nun viel ernster als sonst, war still geblieben.
Wie er so an diese Szenen von früher dachte, kam Viktor ein Ausspruch von Pfarrer Liedel neulich in den Sinn, als Ludwig bei einer verwegenen Flanke über einen Zaun bei der Landung in knietiefen Morast geraten war; ein Ausspruch, bei dem es um Dummheit und Mut ging, das wusste er noch, der ihm aber, solange er auch mit den Worten herumprobierte, nicht mehr vollständig einfallen wollte, bis er ihn dann am Abend vor dem Einschlafen plötzlich ganz deutlich mit der Stimme des Pfarrers wieder im Ohr hatte: ‚Die Grenze zwischen Mut und Dummheit‘, so hatte es der Pfarrer formuliert, ‚ist nicht zu ziehen.‘ –