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9_Alte Regimentskameraden
Оглавление„Mein lieber Zabener“, begrüßte Dr. Strauss den Konsul herzlich, „das freut mich aber, dass es jetzt endlich geklappt hat mit uns beiden!“
„Wurde auch höchste Zeit, Strauss!“, sagte Zabener und schüttelte Dr. Strauss lange die Hand und klopfte ihm dabei mit der Linken auf die Schulter. Waren es alte Gepflogenheiten aus einer studentischen Korporation, waren es Überreste aus gemeinsamer Militärzeit, Zabener und Strauss duzten sich jedenfalls und redeten sich zugleich mit dem Familiennamen an.
Strauss hatte den Konsul zum Abendessen eingeladen und einen runden Tisch für zwei Personen decken lassen.
Es war noch hell, und so schlenderten sie erst noch ein wenig durch den Garten. Als sie dann am Tisch einander gegenüber Platz genommen hatten, saßen sie doch ziemlich weit entfernt voneinander, und Zabener gestand nach vorn gebeugt und, nachdem er mehrmals ‚bitte?‘, ‚bitte sehr?‘ und ‚wie bitte?‘ hatte zurückfragen müssen, ein, dass er in letzter Zeit eben doch gewisse Probleme mit den Ohren hätte.
„Nein, nein, nicht dass ich schlecht hörte, Strauss, im Gegenteil, ich höre sogar ausgezeichnet, ich verstehe nur nicht so gut, vor allem, wenn die Räume etwas hallig sind.“
Und ob es denn nicht vielleicht möglich sei, dass sie ein bisschen näher zusammenrückten, was zu bitten ihm allerdings fast peinlich sei, da der wirklich wunderschön gedeckte Tisch umgeräumt werden müsse. Strauss zögerte keinen Augenblick und ließ sein Gedeck mit den ganzen Gläsern, Schälchen und Extrabestecken näher an den Platz von Zabener heranrücken, für das geübte Personal eine Sache von Augenblicken, und schon saßen sie fast nebeneinander. Es war Strauss in letzter Zeit schon öfter aufgefallen, wie konzentriert ihn Zabener beim Zuhören ansah, und so achtete er jetzt genauer darauf, und tatsächlich, wenn er etwas sagte, blickte ihm Zabener sofort aufmerksam auf den Mund.
„Gut sehen kann ich schlecht“, scherzte der Konsul und putzte seine schwere Brille, „aber schlecht hören kann ich gut.“
„Vielleicht eine Kriegsfolge, Zabener?“
„Und ob! La Boiselle, Somme-Schlacht 1916. Ich habe tagelang fast überhaupt nichts mehr gehört!“
„Jetzt sind wir doch wieder beim Krieg gelandet!“, lachte Strauss, „wir haben uns doch geschworen, diesmal von was anderem zu reden.“
„Wenn das nur so leicht wäre, Strauss.“
„Wir sind doch alle vom Krieg verdorben und versaut bis ins letzte Glied! Erst das August-Erlebnis zu Kriegsbeginn – gewiss, es war trügerisch, aber als Erlebnis war es einzigartig, ich habe weder vorher noch nachher je eine derartige Begeisterung erlebt, die alle durchdrang, großartig – noch nie waren sich die Deutschen so einig! Und dann dieser Absturz – nein, nicht Absturz, Zabener, sondern diese Enttäuschung, die sich ganz allmählich, aber unaufhaltsam einschlich. August 1914, das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich die Hoffnung hatte – eigentlich mehr als eine Hoffnung, ich war mir damals sogar ganz sicher –, dass das das Ende des Antisemitismus in Deutschland war.“
„Ich hatte da zwei jüdische Kameraden im Regiment“, erinnerte sich Zabener, „beide Zugführer und Leutnant der Reserve – der eine war ein merkwürdig blasierter Mensch, ich konnte so gar nicht mit ihm –, aber die beiden haben gekämpft wie die Löwen. Wann immer Freiwillige für eine heikle Aufgabe gebraucht wurden, die zwei waren zur Stelle.“
„Eben, Zabener! Die jüdischen Frontkämpfer, Kriegsfreiwillige fast durch die Bank, waren nicht nur Patrioten, sondern sie sahen in ihrem Fronteinsatz und ihrer Bewährung die große Chance für die Juden in Deutschland“, ereiferte sich Strauss. „Sie kämpften nicht nur für das Reich, Zabener, sondern auch für die Stellung der Juden in Deutschland. Ich war auch nicht frei davon.“
„Aber ich glaube, das war nur am Anfang des Krieges so. Die Enttäuschung blieb doch nicht aus.“
„Ja, sie kam schon bald. Und dann die Judenzählung Herbst 1916, da, Zabener, war alles endgültig vorbei.5 Als die 1918 den Bund der Frontsoldaten, diesen Stahlhelm, gründeten, blieben Juden ausgeschlossen. Frontkämpfer, Zabener, Frontkämpfer mit hohen Auszeichnungen! Ich hätte auch nicht die geringste Lust verspürt, mich denen anzuschließen. Da waren mir viel zu viele Scharfmacher und Säbelrassler dabei. Nur deshalb kam es ja dann zu unserem Reichsbund jüdischer Frontsoldaten. Und die waren die eigentlichen Kämpfer für die Weimarer Republik!“, rief Strauss, aber dann schwieg er bekümmert, und das Feuer erlosch.
Als Zabener sah, wie verzweifelt Strauss dreinschaute, versuchte er, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken und nutzte die kurze Pause, die durch Straussens Schweigen entstanden war, um sich nach der Familie zu erkundigen.
„Was macht Sabine?“
„Oh, Bienchen geht es gut“, antwortete Strauss, und seine Stimme wirkte wie erleichtert, als ob er dankbar wäre für das neue Terrain ihres Gesprächs. „Sie macht auf der Violine große Fortschritte. Auch in der Schule – alles in Ordnung. Sie ist natürlich viel allein, aber sie weiß sich zu beschäftigen. Ich glaube manchmal, dass sie ganz gern allein ist. Trotzdem fehlt ihr jetzt wohl gelegentlich ihr Spielkamerad Viktor. Wenn ich auf Reisen bin, muss ich keine Sorge haben, das Personal kümmert sich genügend um Bienchen, und der Haushalt klappt so einigermaßen – freilich manchmal eher schlecht als recht. Ein großer Haushalt funktioniert eben nicht ohne Weiteres ohne Hausherrin, und Bienchen ist da noch viel zu klein, obwohl sie sich rührend Mühe gibt.“
„Mir steht das jetzt wohl noch bevor. Du weißt ja, Agnes ist in ihr Elternhaus zurückgekehrt, wie sie es genannt hat; bis auf weiteres. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als Viktor in ein Internat zu geben, zum Glück mit einer besonders guten persönlichen Betreuung. Viktor ist in einem schwierigen Alter.“
„Bienchen hatte sich seinerzeit mit Händen und Füßen gegen ein Internat gesträubt.“
„Nein – Viktor nicht. Er war überrascht, natürlich, aber irgendwie auch neugierig. Er suchte ja auch hier ständig nach neuen Herausforderungen, das machte mir zunehmend Sorge. Es waren die allerverwegensten Streiche, die er mit seinem Kumpan, dem kleinen Herkommer, ausgeheckt hat. Einer versuchte, den anderen zu übertreffen, zwischen den beiden herrscht ja ständige Rivalität! Von der jüngsten Missetat habe ich überhaupt erst über die Staatsanwaltschaft erfahren; zum Glück kennt man dort so einige Leute. Haben diese Burschen doch versucht – was heißt versucht, sie haben es getan –, sie sind auf der Breiten Straße mit dem Fahrrad zwischen zwei Straßenbahnen, die sich begegneten, hindurchgefahren! Das Ganze bei Dunkelheit, damit die Wagenführer sie nicht sehen. Aber der kleine Herkommer ist von einem der Schaffner erkannt worden, und so ist die ganze Geschichte ins Rollen gekommen.“
Der Konsul erinnerte sich noch allzu genau. „Ist halb so wild“, hatte Viktor ihn damals zu beschwichtigen versucht, „das sieht bloß so gefährlich aus. Das haben wir vorher alles genauestens geklärt. Du musst nur ebenso schnell fahren wie die Straßenbahn rechts neben dir – die fahren in der Innenstadt nicht so schnell –, dann kannst du, wenn der Gegenzug kommt, dich mit dem Ellenbogen sogar ganz leicht rechts abstützen und hast links von der Lenkstange noch gut zwei Handbreit Platz, das ist alles.“ – Aber da hatte er ihm aufgebracht entgegnet: „Was heißt hier ‚Du musst nur‘? Was heißt da ‚du‘? Willst du mir womöglich beibringen, wie ich mich mit dem Fahrrad zwischen zwei sich begegnenden Straßenbahnzügen hindurchzwängen kann? Eine ausgesprochen dämliche Mutprobe, Viktor! Eine Mutprobe nach gegenseitigem Aufschaukeln war das!“ – Er konnte sich noch an jedes Wort erinnern.
„Und das, Strauss, hatte den letzten Anstoß für das Internat gegeben.“
Vor sich hinmurmelnd setzte er noch nach: „Jetzt ist er fort.“ Aber nach einer kurzen Pause fuhr er laut fort: „Er ist bestimmt dort gut – er ist bestimmt dort besser aufgehoben als hier.“
„Bienchen jedenfalls hat Viktors plötzliche Abreise sehr überrascht. Als sie nach Hause kam und hörte, dass Viktor vorbeigeschaut hat, um sich von ihr zu verabschieden, war sie richtig traurig und hat dem Kanarienvogel den Trauermarsch von Mahler vorgespielt – rührend!“
„Auf der Violine?“, fragte der Konsul zerstreut.
„Ja. Auswendig, natürlich nur einige Passagen, aber immerhin, und diese dafür mehrmals nacheinander und jedes Mal trauriger – herrlich! – und schließlich sogar geradezu schluchzend mit entsetzlich übertreibenden Klagetönen. Wobei sie allerdings am Schluss selbst lachen musste und sagte, dass das Letzte – aber nur das Letzte! – bloß ein Scherz gewesen sei.“
„Erstaunlich, wie sie mit ihrer Geige schon umgeht!“
„Ich habe ihr aber gleich gesagt, dass jeder Scherz im Leben einen ernsten Ursprung hat. Jeder Scherz, der irgendwo auf der Welt gemacht wird – oder gemacht worden ist oder gemacht werden wird –, überall und ausnahmslos, hat im Hintergrund einen ernsthaften Ursprung, man kann auch sagen: einen durchaus ernstgemeinten Kern, und sei er noch so klein. Sonst wäre es zu diesem Scherz nämlich überhaupt nicht gekommen. Und Sabine, die ein kluges Kind ist, hat sichtbar nachgedacht und ernst dazu genickt.“
„Ja, sie ist ein kluges und nachdenkliches Kind.“
„Ihre große Hoffnung ist es, einmal auf der Guarneri spielen zu dürfen. Das ist ihr allergrößter Wunsch, dem sie alles andere unterordnet. Deshalb übt sie auch so besessen und hofft, mich eines Tages überreden zu können. Das Instrument ist zwar auf Jahre hinaus ausgeliehen, aber das schlaue Bienchen hat sich mit meiner Sekretärin angefreundet und weiß so wenigstens, wo sich die geliebte Violine befindet und zu welchen Konzerten in der Welt sie demnächst reist.“
„Warum bist du da so streng, Strauss? Eine in Aussicht gestellte Belohnung hilft manchmal mehr als alles andere. Versprich ihr doch, dass sie darauf spielen darf, wenn die Guarneri wieder einmal im Hause ist, bevor sie dann wieder ein anderer Geiger bekommt. Oder fürchtest du, dass Bienchen etwas kaputtmachen könnte? Es soll doch sogar gut sein für den Klang, wenn solche Instrumente viel gespielt werden – stimmt das? Oder gilt das nur, wenn ein Virtuose darauf spielt?“
„Nein, nein, ich befürchte etwas ganz anderes. Wenn Bienchen auch nur ein einziges Mal auf diesem Instrument gespielt hat, schon nach den ersten Tönen, wird sie womöglich nicht mehr auf ihrer eigenen Violine spielen wollen. Mindestens hat sie dann nicht mehr diese Freude daran. Du machst dir ja keinen Begriff, Zabener, welch unglaublicher Unterschied zwischen einer alltäglichen Violine und dieser Guarneri besteht – dabei hat Bienchen keineswegs ein geringes Instrument! Ich bin ja nur ein kleiner Stümper auf der Violine, im Gegensatz zu meinem Vater. Wenn der einmal das gleiche Stück auf der Guarneri und dann auf der Violine meiner Mutter spielte, hörte sogar ich den Unterschied. Meine Mutter lachte nur dazu und sagte, das sei die Ausstrahlung der Guarneri, und deshalb spiele er auf ihr einfach besser. Da ist natürlich etwas dran! Wann immer ich es einmal selbst versuchte – mit einem eher schlechten Gewissen, denn bei meinen bescheidenen Fertigkeiten schien mir das fast ein Sakrileg –, wann immer ich es also einmal selbst versuchte, klang alles viel vollkommener, für mich selbst manchmal sogar geradezu hinreißend, wenigstens für ein paar Takte. Alles ging auch viel müheloser, du musst wissen, ein solches Instrument spricht tatsächlich auch viel leichter an und ist sofort voll da! Wenn es gut läuft, dann hast du das Gefühl, noch bevor du den Bogen aufsetzt –“, Strauss stockte und suchte nach einer passenden Formulierung, „– manchmal glaubst du, die Saite fange bereits an zu schwingen einen winzigen Augenblick, bevor du sie berührst“, schwärmte Strauss, „und genau im richtigen Ton, in der richtigen Stärke, in der richtigen Modulation! Ein solches Instrument hat ja ein verborgenes Leben und eine Seele und darum auch ein Gedächtnis und es weiß auf eine geheimnisvolle Weise, wie das Stück weitergeht. Je besser der Ton, den du anstreichst, mit jenem übereinstimmt, den das Instrument kennt – da gibt es ja unendlich viele Nuancen und Möglichkeiten der Variation –, umso vollendeter dann der Klang. Und das nicht bei einem einzigen Ton, sondern bei einer ganzen Folge von Tönen, bei einem ganzen Satz, bei einem ganzen Konzert! Das ist wohl der Grund, warum ein solches Instrument, von Könnern gespielt, im Laufe der Jahrzehnte sich selbst immer mehr veredelt. Es ist, als ob das Instrument im Laufe der Jahrzehnte mit immer größerer Gewissheit ahne, wie die nächsten Töne klingen könnten.“
Zabener nickte: „Es hat ein Gedächtnis –“
„Das weiß jeder Virtuose“, sagte Strauss, „und es lernt dazu! Aber man spricht nicht weiter darüber, das ist alles zu wenig beweisbar. Aber absolut gesichert ist, dass auch ein Virtuose, ja gerade der Virtuose, eine Violine, und sei sie noch so berühmt, erst einspielen muss – das ist genau dieser Vorgang, und der kann manchmal Monate dauern.“
„Wobei aber die Frage ist, ob der Geiger tatsächlich die Geige einspielt oder ob er sich nicht umgekehrt allmählich selber auf der Geige einspielt.“
„Auf jeden Fall ein Anpassungsprozess, wahrscheinlich ein beidseitiger“, räumte Strauss ein.
Strauss war gegen Ende seiner langen Rede leiser geworden und verstummte jetzt ganz, denn er fürchtete, dem Freund schon zu viel von seinen Violinengeheimnissen offenbart zu haben, doch Zabener schmunzelte nur über Straussens Überschwang. –
So sprachen sie über dieses und jenes, lange über das Abendessen hinaus. Doch mitten in dieser gelösten Stimmung wurde der Konsul zunehmend unruhig und fing an, sich unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her zu bewegen.
„Strauss, ich muss da doch noch einmal auf die unselige Politik zurückkommen“, und beide spürten sie, als er fortfuhr, dass sie wieder bei ihrem eigentlichen Thema, das sie beherrschte und unter dem sie litten, angelangt waren. „Ich hatte anfangs auch, genau wie du, viel Sympathie für Weimar und habe große Hoffnungen in die neue Republik gesetzt, ganz im Gegensatz zu vielen meiner Kriegskameraden und auch im Gegensatz zu den meisten in meiner alten Breslauer Verbindung. Ich habe überall in meinem Bekanntenkreis für die junge Republik geworben und gekämpft. Aber nach Versailles fühlte ich mich doch – wie die meisten, die für Weimar waren –, richtig im Stich gelassen und musste, spätestens mit der Besetzung des Ruhrgebiets6, allmählich einsehen“, und dabei setzte er sich aufrecht, „dass eine nationale Gesinnung es einfach erfordert, sich stärker auf die alten Werte zurückzubesinnen.“
„Na ja –“, setzte Strauss an, entschied sich dann aber doch, den Blick noch einmal auf die Vergangenheit zu richten, „gerade unsereiner, Zabener, hat sich ja kolossal verändert in diesen vier, fünf Jahren des Krieges! Erst diese überschäumende Begeisterung, dann die Ernüchterung – und bei mir noch diese tiefe Kränkung durch die Judenzählung –, dann, noch im Krieg, der immer schärfer werdende Blick für einen hohlen Militarismus und zugleich das wachsende Verständnis für die Arbeiterschaft. Die haben wir ja vorher überhaupt nicht gekannt! Und dann nach Kriegsende, nachdem die närrisch gewordenen Soldatenräte abgeschüttelt waren und wir einer Rätediktatur entgangen sind, bei allem Durcheinander und aller Not plötzlich die Aussicht – zum Greifen nah! – auf etwas gänzlich Neues, was es noch nie so recht gegeben hat in Deutschland: eine Demokratie! Dafür hat ja schon, wie du mir erzählt hast, dein Großvater 1849 in Rastatt gekämpft. Stell dir vor: eine Demokratie in Deutschland! Eine Republik, die Weimarer Republik! Mensch, Zabener, etwas, das die ganzen alten Verkrustungen aufsprengen würde! Lammfromm und zahm waren wir 1914 doch alle noch, sauber aus- und abgerichtet auf Militär und Kaiser und den ganzen Wilhelminismus. Aber dann sind wir, sofern den Schlachtfeldern entronnen, als ganz anderen Menschen aus diesem Krieg herausgekommen.“
„Nicht alle als ganz anderen Menschen, nicht alle – es waren eigentlich nur wenige. Es waren zu wenige. Und wir wurden allmählich noch weniger. Keiner mag heute mehr für die gute Sache kämpfen, ich sehe es ja an mir selbst. Das war der Versailles-Effekt. Da musste man sich doch verraten fühlen. Nicht nur durch die Maßlosigkeit der Forderungen – man kann ruhig auch sagen: durch die betonte Einseitigkeit des Vertrages –, sondern vor allem auch durch die ganzen entwürdigenden Umstände, durch diese beabsichtigte Kränkung des besiegten Gegners. Aber die anderen bei uns, die Verächter und die Feinde der Republik, die fühlten sich durch Versailles ja keineswegs verraten, sondern im Gegenteil nur bestätigt. Die triumphierten doch geradezu! Die eigentlich Betroffenen waren doch wir! Rantzaus Rücktritt als Außenminister war der Anfang der Resignation und war seine Antwort auf den Versailler Vertrag. ‚Ein Verbrechen an Deutschland‘, so hat er den Vertrag genannt, du weißt das ja alles –. Brockdorff-Rantzau kam zwar aus einer ganz konservativen Ecke –“
„Wie du eigentlich auch“, lachte Strauss dazwischen.
„– ein steifbeiniger Aristokrat bis zum Letzten und ein selten harter Knochen noch dazu, aber er hat sich dann doch noch zu einem Mann entwickelt, der an die junge Demokratie glaubte. Der hat doch konsequent demokratische Positionen vertreten, auch später als Botschafter in Moskau, da war er doch um ein gutes Verhältnis zu Russland bemüht, aber die geheime militärische Zusammenarbeit lehnte er strikt ab. Der lag deshalb ein paar Mal mit dem Truppenamt ganz schön über Kreuz – jetzt ist er tot.“
„Was ist das, ‚Truppenamt‘?“, fragte Strauss, „eine Art Nachfolge des Kriegsministeriums?“
„Das ist die Tarnbezeichnung für den verbotenen Generalstab, mein Lieber“, brummte Zabener, „auf dass sie es bald wieder krachen lassen können!“
„Meinst du wirklich?“
„Ich fürchte, ja, Strauss. Seit der Inflation ist es zwar, wenn auch langsam und mühsam, wieder bergauf gegangen. Die Währung wieder geordnet, die Wirtschaft erholt sich mit den Dawes-Krediten, das Ansehen in der Welt nahm wieder zu, Stresemann und Briand erreichten sogar eine erste Annäherung, alles schön und gut – aber spätestens seit der Wirtschaftskrise sieht es doch schon wieder bedrohlich aus. Unsere Demokratie hat einfach keine Wurzeln!“
Lauter fuhr Zabener fort: „Wo gibt es denn das sonst noch in der Welt, „zwei Flaggen gleichzeitig! Unsere Auslandsmissionen zeigen die demokratische Reichsflagge Schwarz-Rot-Gold und hissen gleichzeitig noch als Handelsflagge die schwarz-weiß-rote Flagge des Kaiserreichs! Nirgends kannst du besser sehen, wie wackelig unsere Republik ist!“
Beide schwiegen sie eine Weile verdrossen. Dann wurde Zabener immer ärgerlicher: „Im Grunde genommen interessiert mich ja dieser ganze politische Mist überhaupt nicht mehr! Das sind diese Journalisten – und natürlich auch die Parteien, die Politiker, die Parlamentarier –, die da ein künstliches Interesse bei der Bevölkerung erzeugen und aufrechterhalten wollen. Diese Zeitungsleute! Gleich auf der ersten Seite geht es damit los, als ob die Politik das Wichtigste sei im Leben! Das setzen die einfach voraus und schreiben drauflos, mit der Zeit wird es dann tatsächlich so! Wirtschaftsnachrichten und auch Kultur, Theater, interessante Veranstaltungen, Reisen, technische Fortschritte, das würde mich alles viel mehr interessieren.“
Der Konsul war richtig zornig geworden. Strauss versuchte, ihn zu beschwichtigen:
„Du hast ja nicht ganz unrecht, Zabener, aber man muss wissen, was geschieht in der Welt!“
„Ach was, nichts muss man wissen! Wir haben ja doch keinen Einfluss! Nicht den geringsten Einfluss haben wir!“
„Aber es ist doch nicht zu bestreiten, Zabener, dass heutzutage, wo die Unruhe immer größer wird, sich weite Kreise tatsächlich für das politische Geschehen zu interessieren beginnen und dafür, wie es weitergeht. Das ist gut so!“
„Das sind doch die Journalisten selbst, die das alles so hochspielen! Und die sich dann auch noch frech als Kontrollinstanz gebärden und Lob und Tadel verteilen, diese ewigen Besserwisser!“
„Den Politikern natürlich kann es nur recht sein, wenn sie in der Presse genügend Beachtung finden“, gab Strauss zu bedenken. „Ein Abgeordneter der Deutschnationalen, an sich ein kluger Mann, sagte mir kürzlich, dass eine bloße Erwähnung in der Presse fast ebenso wichtig sei wie eine zustimmende Erwähnung, weshalb ihm sogar eine ablehnende Erwähnung immer noch lieber sei als überhaupt keine. Es käme eben nur darauf an, dass man nicht gleich sämtliche Blätter von links nach rechts unisono gegen sich habe – einige wenige zustimmende Äußerungen, von den richtigen Leuten in den richtigen Blättern, das reiche schon vollständig aus.“
„Ach, geh mir fort, Strauss! Diese schlauen Taktiker! Die Politiker, so sollte man doch meinen, entscheiden im Parlament aufgrund ihrer Gesinnung, stattdessen sind das alles Interessenvertreter, und ihre oberste Richtschnur ist die eigene Karriere! Das sind zum großen Teil doch reine Wichtigtuer, denen es vor allem darum geht, dass sie an der Macht bleiben, dass sie wiedergewählt werden! Leute mit zweifelhafter Berufsausbildung und von ungewisser Herkunft, die da Morgenluft wittern!“
Inzwischen war, trotz der späten Stunde, der Chauffeur Herkommer vorsichtig eingetreten, um ein verschnürtes Aktenbündel beim Konsul abzuliefern, das er in einer Baseler Kanzlei hatte abholen sollen. Er blieb, solange der Konsul sprach, an der Tür stehen, ganz wohlerzogener Chauffeur, mit unbewegtem, aber aufmerksamem Gesicht, das Aktenbündel in der einen, die abgenommene Dienstmütze in der anderen Hand.
„Ah, Herkommer, guten Abend! Sie sind schon wieder zurück? Ganz schöne Strecke! Hat alles gut geklappt?“, sagte Zabener in einen plötzlich ungleich freundlicheren Ton und nahm die Akten entgegen. „Das hätte auch bis morgen früh noch Zeit gehabt. Sie hätten nach der langen Fahrt nicht erst noch zu Dr. Strauss herüberzukommen brauchen! Aber es ist vielleicht doch besser, wenn ich die Akten jetzt schon bekomme. Vielen Dank, Herkommer, gut gemacht!“
Und weil sie schließlich Kriegskameraden waren, fügte er noch hinzu: „Komm, setzen Sie sich noch auf ein Gläschen zu uns!“
Als Herkommer merkte, dass ihm Lob und Anerkennung begegneten, machte er ein pfiffiges Gesicht, wie er es immer tat, wenn er glaubte, zu einer Unterhaltung etwas beitragen zu sollen. Kaum saß er richtig, ergänzte er die Kanonade des Konsuls auch schon mit seiner ersten Bemerkung, bei der bereits der Ton, in dem er sie vortrug, erkennen ließ, dass das sein endgültig abschließendes Urteil zum Thema Politikerqualifikation sein würde.
„Politiker, das ist der einzige Beruf außer Hausfrau, den man nicht vorher erlernen muss.“
„Überhaupt“, fuhr er nach einer kurzen Pause, in der er die Wirkung seiner Worte prüfte, fort, „was machen die schon im Parlament? Die quasseln und disputieren ununterbrochen. Anstatt was zu tun! Und was das alles kostet! Die, wo die größte Klappe haben, haben den größten Erfolg, das ist ja immer so. Aber mit bloßem Rumquatschen kommen wir weiss Gott nicht voran!“
Er nahm einen Schluck, und man konnte fast sehen, wie ihm im gleichen Augenblick Weiteres zum Thema einfiel, sodass er das Glas rasch wieder abstellte und ohne Zögern fortfuhr.
„Wenn’s nur beim Gequatsche bliebe! Aber die reden ja nur gegeneinander und zanken ununterbrochen und werfen sich die übelsten Schimpfwörter an den Kopf. Da kann nie etwas Gescheites herauskommen. Von meinem Kussäng, der schafft in Berlin bei Grieneisen, hab ich erzählt gekriegt, dass da manchmal im Parlament sogar richtige Prügeleien vorkommen! Das glaubst du nicht, hat er gesagt, wie sich diese Leute, die uns doch regieren sollen, in Wirklichkeit benehmen. Nee, das brauchen wir nicht.“
Herkommer, der sonst seine Unterordnung stets zu erkennen gab und dem Konsul manchmal fast zu devot auftrat, hatte jede Scheu verloren und war nicht mehr aufzuhalten. Dass die Herren offenbar nicht mitreden wollten, beflügelte ihn nur noch.
„Das hatte gerade noch gefehlt, dass wir zu allem auch noch die Regierungsform dieser Siegesstaaten auf die Dauer übernehmen! Oder? – Demokratie heißt immer auch Unordnung und Durcheinander!“
Zabener war es plötzlich peinlich, sich vorhin in Herkommers Gegenwart so unbeherrscht über die Politik geäußert zu haben. Man hätte Herkommer doch nicht in das Gespräch mit einbeziehen dürfen, denn was er jetzt, offenbar nicht ohne Behagen, von sich gab, das waren Stammtischparolen von irgendwelchen ominösen Parteitreffen in Hinterzimmern. Vielleicht würde man noch heraushören können von welchen.
Herkommer ließ sich dann noch lang und breit über die Rheinlandbesetzung und die Ruhrinvasion aus, wie er das nannte, durch die Franzosen und Belgier, kam ausführlich auf den Zerfall aller Ordnung (‚wo du auch hinschaust!‘) zu sprechen, wobei unter Ordnung, wie er betonte, auch Anstand und Sitte zu verstehen sei. ‚Da war ich doch neulich mit meinem Kussäng in Berlin ganz zufällig abends in die Kleiststraße gekommen, in der Nähe vom Nollendorfplatz, da ist auch das Kleist-Kasino und so – au Backe, kann man da nur sagen! Mein lieber Mann!‘ und er nickte dazu bedeutungsschwer; und schließlich nahm er sich zum Schluss noch ausführlich die ehemaligen deutschen Kolonien vor (‚die hätte man niemals aus der Hand geben dürfen‘) – alles, was er sagte, war zwar mit bemerkenswerten Details versehen, doch alles in der einseitigen Verzerrung einer Stammtischperspektive und natürlich stets vorgebracht in einem Ton höchster Gewissheit. –
Später dann, als Herkommer wieder abgezogen war, fragte Strauss, etwas erschöpft von dessen langem Monolog: „Was hat er wohl mit seiner Hand gemacht? Das ist mir noch nie aufgefallen, ich bin im ersten Moment beinah erschrocken, als er nach seinem Glas griff!“
„Verwundung im Krieg. Ihm fehlen drei Finger fast in ihrer ganzen Länge, er hat nur noch den Daumen und den kleinen Finger. Für ihn war das der Heimatschuss. Ich habe ihn dann erst ein paar Jahre nach dem Krieg zufällig wieder getroffen und sofort als Chauffeur eingestellt, er war im Krieg einer meiner besten Leute.“
„Und wie ist das passiert?“
„Herkommer war unser Spezialist, wenn es darum ging, in der Nacht vor einem geplanten Sturmangriff den Stacheldrahtverhau vor den feindlichen Gräben an bestimmten Stellen passierbar zu machen. Dazu musste er eine möglichst unauffällige Schneise schneiden, was aber ohne jedes Licht und absolut lautlos zu geschehen hatte, denn man befand sich nicht mehr weit von den feindlichen Gräben entfernt. Eine Sache von Stunden mit ganz langsamen Bewegungen – keine leichte Aufgabe! Die gingen immer zu zweit raus, als Werkzeug hatten sie einen großen Bolzenschneider von den Pionieren dabei, das ist so etwas wie eine übergroße Hebelzange, die der zweite Mann mit beiden Händen betätigte, während Herkommer – alles nur mit dem Tastsinn! – den Stacheldraht erfasste und in das geöffnete Maul des Bolzenschneiders schob. Dabei musste er auch während des Schnittes noch den Draht auf beiden Seiten des Bolzenschneiders gut festhalten, nur so lässt sich ein lautloser Schnitt erzielen und vermeiden, dass beim Abzwicken der ganze Drahtverhau zu sirren anfängt. Durch irgendein Missverständnis, sie waren schon fast fertig, ist dann das Unglück passiert: Herkommer hatte seine Hand, mit der er den Draht führte, noch nicht zur Seite genommen und die Finger waren ab.“
„Meine Güte, entsetzlich!“
„Aber was das Bemerkenswerte dabei war, Herkommer hat nicht den geringsten Laut von sich gegeben, sonst wären die beiden augenblicklich erledigt gewesen. Sie sind genauso lautlos wieder zurückgekrochen, wie sie hingekrochen waren.“
„Dieser Herkommer!“, sagte Strauss nicht ohne Respekt.
„Der Durchbruch an eben dieser Stelle ist uns übrigens dann im Morgengrauen gelungen“, fügte Zabener nicht ohne Stolz hinzu. „Heute lachen wir nur noch über die grauenhafte Geschichte. Herkommer hat nämlich zum Entsetzen meiner Frau die Angewohnheit, manchmal während der Fahrt in Gedanken eines seiner Nasenlöcher mit dem Stummel seines Zeigefingers zuzuhalten und zum anderen Nasenloch einen leichten Luftstoß herauszublasen. Wenn er dabei zufällig den Kopf zur Seite dreht, haben die Passagiere im Fond des Wagens der Eindruck, als sei er mit der Fingerspitze bis ins Gehirn hinaufgefahren.“
„Herkommer schien mir vorhin merkwürdig aggressiv“, meinte Strauss.
„Ja! Und auch so radikal in seinen Ansichten! So etwas kenne ich gar nicht an ihm.“
„Ich bin sicher, das hat man ihm irgendwo eingetrichtert. Der ist scharf gemacht worden!“
„Meine Frau hat früher manchmal bestimmte Herkommer-Ansichten, über die ich mich vielleicht etwas mokiert habe, beschwichtigend kommentiert, das sei eben die Stimme des Volkes. Da hatte sie nicht unrecht – was wissen wir denn schon, was in den Köpfen der Leute vor sich geht. Aber da war er eben immer viel besonnener als heute Abend.“
„Entweder haben ihn die Linken oder die ganz Rechten geimpft. Genau da sitzen doch die Verächter des Parlaments und die Republikfeinde!“
„Eher die Rechten, wahrscheinlich die Hakenkreuzler, wenn ich daran denke, was er zu den Kolonien gesagt hat. Mich interessierten übrigens früher bei seinen Reden während der Fahrt gar nicht so sehr die Meinungen, die in der Bevölkerung herrschen und die ja zum Teil äußerst gegensätzlich sind. Sondern mir ging es vor allem darum, etwas über die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung zu hören; die ist ja viel einheitlicher.“
„Ja, das begreife ich. Das ist richtig, die herrschende Stimmung ist fast noch wichtiger als die einzelnen Meinungen. Die sind immer kontrovers“, sagte Strauss.
„Herkommer verstand es dann auch immer sehr schön, klar zwischen seiner eigenen Gestimmtheit und der allgemeinen Grundstimmung in der Bevölkerung zu unterscheiden. Das finde ich bemerkenswert für einen Chauffeur! Natürlich wollte er mir dabei auch schmeicheln, wenn er betonte, dass es ihm bei uns ja nicht schlecht gehe und er deshalb gut lachen habe, aber die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung sehe halt doch anders aus.“
„Und wie sah er sie?“, sagte Strauss etwas ungeduldig.
„Bemerkenswert beständig war sie, ziemlich unverändert über all die Jahre hinweg. Diese Grundstimmung, das ist wie ein Teich, wie ein See ohne rechten Zufluss und Abfluss. Nur besondere Ereignisse, die es ja wahrhaftig zur Genüge gab, wühlen ihn auf. Denk’ nur an solche Katastrophen wie die Ermordung Rathenaus! Für kurze Zeit herrschte auf breiter Linie und über fast alle Parteien hinweg Empörung, aber die Geschlossenheit der Demokraten hielt nicht an. Ich habe oben noch das Extrablatt von der Vossischen Zeitung, man sollte es einrahmen lassen. – Wie bin ich jetzt gleich auf Rathenau gekommen? Ach ja, die besonderen Ereignisse. Die stürzen dann wie Steine oder Felsen in diesen See und wühlen das Wasser auf, aber immer nur für kurze Zeit. Dann stellt sich der alte Zustand wieder ein.“
„Aber nun sag’ endlich, was war denn der alte Zustand?“
„Die Grundstimmung – das, was sich über alle Lager hinweg ziemlich gleichmäßig ausbreitete –, das war in den Nachkriegsjahren die bis heute noch spürbare Aussichtslosigkeit und politische Hoffnungslosigkeit. Nach außen wurde das sichtbar als ein gewisser Trotz – vom ‚Nachkriegstrotz‘ sprachen ja auch manche. Das hat Herkommer freilich nicht so ausgedrückt, aber so interpretiere ich seine Worte in all den Jahren. Immer wieder, wenn wir auf längeren Fahrten einmal über Politisches sprachen, fiel mir dieser unheimliche, dieser verstockte Trotz auf, nicht einmal so sehr sein eigener, sondern vor allem der Trotz derer, von denen er sprach. Dieser Trotz richtete sich – je nach Zugehörigkeit zu dieser oder zu jener Gruppe in der Bevölkerung – gegen den tatsächlichen oder vermeintlichen Feind der Gruppe. Aber der Feind war da mehr oder weniger auswechselbar.“
„Und was nannte er an Feinden?“
„Oh, alles Mögliche, da gab’s keinen Mangel! Das waren mal die Siegermächte, die ja in der Tat mit den unerfüllbaren Forderungen des Versailler Vertrags alle Hoffnung zerstört haben und dazu noch die deutsche Delegation tief demütigten; dann wieder die Demokraten, die die alten gottgegebenen Ordnungen auflösen wollten; und halt immer wieder die Franzosen und Belgier, die das Ruhrgebiet besetzt und niedergeknebelt gehalten hätten; und die ostelbischen Junker, die Schlotbarone, die ganz Rechten, die Linken, das Zentrum, die Bischöfe und kreuz und quer –“
„– und die Juden“, setzte Strauss die Reihe fort, „die im Niedergang schon immer als Sündenböcke taugten.“
„Ja, gewiss, die Juden, die hat er natürlich auch immer wieder genannt.“
„Ich weiß durch einen tragischen Vorfall in meiner Schulzeit“, erinnerte sich Strauss, „ein versteckter Trotz, der sich nicht allmählich wieder auflöst, Trotz, der im Verborgenen andauert, kann eines Tages gefährlich werden.“
„Vor allem, wenn er weit verbreitet ist, wenn er als Massenphänomen auftritt. Da ballt sich dann eine unheimliche Kraft zusammen!“
„Und wenn die sich dann eines Tages alle darüber einig sein sollten, wer der Feind ist es – da bricht was los!“
„Jajaa –“, sagte Zabener, „es ist wie immer, starke Feinde machen einig, und je bedrohlicher ein Demagoge den Feind darstellt – verstehst du? –, desto enger schließen sich seine Anhänger zusammen.“
Zabener und Strauss beschäftigten sich in ihrem Gespräch noch eine Weile mit Herkommer. Es ging ihnen dabei nicht einmal so sehr um seine Person, es war vor allem die Art seiner politischen Bemerkungen, die ihnen zuwiderlief. Aber je mehr sie gewisse Ansichten von ihm verwerfen wollten, desto eindringlicher spürten sie, dass die mit ihren eigenen Ansichten im Grunde mehr übereinstimmten, als sie wahrhaben wollten.
„Eigentlich hat er nicht einmal ganz unrecht“, sagte Zabener, „Herkommer fallen natürlich als Erstes die Verbalinjurien und der Krawall im Parlament auf, aber wohin das führt, dieses dauernde Herabwürdigen des Gegners, jahraus jahrein, das beunruhigt mich viel mehr. Da beklagen die doch dauernd ihr geringes Ansehen in der Bevölkerung und rufen ‚Weimar wird nicht akzeptiert‘ – ja, da sind die doch selber schuld!“
„Diese Pöbeleien haben seit dem Einzug der Nationalsozialisten ins Parlament immer mehr zugenommen.“
„Das sind die Schlimmsten. Aber ich dreh’ da die Hand nicht um!“
„Allen voran dieser fanatische Schreihals Göbl oder Göbele oder wie er heißt.“
„Goebbels heißt er, Joseph Goebbels, promovierter Germanist – gefährlich, dieser Bursche!“
„Er ist es nicht allein. Als Einzelner hätte er sich im Parlament wahrscheinlich bald selbst isoliert. Wenn da aber nur einige mitmachen, breitet sich so etwas rapide aus und wird zum allgemeinen politischen Stil. Es müssen gar nicht alle mittun. Die in der Mitte, die vielleicht den Anstand wahren und ihre Gegner eben nicht verächtlich machen, fallen gar nicht weiter auf.“
„Ihr Juristen sprecht ja zum Beispiel bei Prozessen ganz klar vom Gegner, wie du gerade auch, aber dieses Wort kennen die nicht, Strauss, die kennen nur Feinde. Hat man einen Gegner, dann bekämpft man dessen Meinungen, dessen Vorschläge, dessen Ideen und setzt die eigenen dagegen. Sieht man im politischen Gegner aber einen Feind, dann bekämpft man eben diesen, und das geschieht am besten dadurch, dass man ihn erst einmal tüchtig herabsetzt und verächtlich macht, sich über seine Moral entrüstet und ihn mit Verdächtigungen oder gar Verwünschungen überzieht. Herkommer regt sich natürlich vor allem über die Ausdrücke aus der Gosse auf – welche hat er genannt? – verkommene Schweine, hinterhältige Gangster, hätten sie sich beschimpft, Lumpen, Heuchler, Lügner, Halunken und so weiter. Aber sie nennen sich gegenseitig halt auch – und das ist wahrscheinlich noch viel schlimmer für das Ansehen des Parlaments – Giftmischer, Fallensteller, Intriganten, Brunnenvergifter, Betrüger, Fälscher. Und wie oft fiel das Wort Vaterlandsverräter!“
Strauss nickte: „Da geht es tatsächlich nur noch um Personen und nicht mehr um die Verhandlungsgegenstände!“
„Am krassesten bei den Verwünschungen: Die Hände sollen ihm abfaulen, die Augen sollen ihm aus dem Kopf fallen, die Zunge ihm im Munde verdorren. Alles im Reichstag so schon zu hören gewesen!“
„Manchmal ist es eben doch gut, wenn die Presse dabei ist, Zabener, sonst würde man so etwas nie erfahren.“
„Aber damit erfährt es natürlich alle Welt.“
„Was ja der Zweck der Sache ist.“
„Jedenfalls schadet solches Verhalten dem Ansehen des Parlaments und damit der Demokratie – und daran wird die Republik eines Tages scheitern! Wenn ich da an die Verhältnisse in England denke – gewiss, da gibt es auch unschöne Auseinandersetzungen, aber doch niemals in dieser Form und vor allem auch niemals mit so viel Applaus der eigenen Anhänger. Regelverstöße im Umgang miteinander mögen zwar in der Hitze des Gefechts vorkommen, aber sie sind verpönt, und auf jeden Fall wird hinterher die gegenseitige Achtung wieder hergestellt. Das ist der Unterschied.“
„Das sind eben diese alten klassischen Demokratien. Wir haben das leider nie gelernt.“
„Es ist zum Verzweifeln!“, Zabener kam mit rotem Kopf schon wieder in Fahrt, „Kein Wunder, dass die Bevölkerung nichts von der parlamentarischen Demokratie wissen will! Da sollte man einmal richtig durchgreifen!“
„Was heißt durchgreifen?“, fragte Strauss, leicht verstört von diesem erneuten Zornesausbruch.
„Dazwischenfahren! Alle rausschmeißen! Die Wortführer einsperren! Die Bude zumachen, den ganzen Verein auflösen!“ Und leiser fügte er hinzu: „Die schaden uns doch nur.“
„Jetzt redest du daher wie diese Hakenkreuzler“, sagte Strauss, und Zabener wusste sofort, wie recht Strauss damit hatte.
„Ich weiß ja, Strauss, und ich ärgere mich selbst am meisten darüber. Je zorniger ich werde, desto mehr verlasse ich meine demokratischen Positionen, für die ich nach dem Krieg so leidenschaftlich eingetreten bin. Ich bin eben doch kein echter Demokrat! Ich will einer sein, meistens jedenfalls, und ich bin es manchmal auch, aber ich bin zu aufbrausend und zu ungeduldig und falle dann in meine früheren Einstellungen zurück. Die habe ich, so sehr ich das auch hoffte, eben doch nicht aufgegeben. Sie sind nicht ausgelöscht, sondern von diesen erst später gewonnenen Überzeugungen nur überlagert oder nur vorübergehend außer Funktion gesetzt. In Bedrängnis, in der Verzweiflung oder im Zorn, oder gar in der Panik, brechen sie machtvoll wieder hervor. Als ob ich nicht selbst Herr darüber wäre.“
Zabener atmete schwer unter der Last dieser Einsicht.
„Nein, nein, ich weiß“, sagte er nur, „ich bin nicht Herr über meine Gesinnung!“
„Keiner ist Herr über seine Gesinnung!“, beschwichtigte Strauss, und Zabener zog daraus die Konsequenz: „Wir sind eben nicht wirklich frei!“
Zabener war inzwischen wieder ruhiger geworden, und Strauss, der spürte, wie sehr er mit seiner Bemerkung den Freund getroffen hatte, versuchte, den bitterbösen Vergleich mit den Hitlerleuten etwas abzumildern und sagte mit einer betont harmlos und heiter klingenden Stimme: „Aber vor Hitler brauchen wir uns am allerwenigsten zu fürchten, der wird mit seinen Nationalsozialisten genauso verschwinden wie die ganzen anderen neu aufgekommenen Parteien auch.“
„Aber vergiss nicht, Strauss, er verspricht etwas, was in keinem Land der Welt größeren Anklang findet als bei den Deutschen und wonach sie sich seit dem Chaos des Zusammenbruchs und dem Irrsinn der Inflation immer mehr sehnen, er verspricht endlich Ordnung und damit Überschaubarkeit.“
„Das klang ja vorhin schon bei Herkommer an, als er meinte, Demokratie sei immer auch Unordnung und Durcheinander oder so ähnlich.“
„Und außerdem, nicht zu vergessen, verfügt Hitler wahrscheinlich über nicht unerhebliche finanzielle Mittel aus der Schwerindustrie und auch aus der chemischen Industrie. Ich vermute das, weil sein Büro über einen Mittelsmann auch bei uns hat vorfühlen lassen. Wir haben natürlich abgewinkt, aber dabei wurde mit einigen klangvollen Spendernamen geprahlt, bei denen ich zwar meine Zweifel habe, die aber selbst dann, wenn sie nicht alle zutreffen, doch einigermaßen beunruhigend sind.“
„Aus der Schwerindustrie?“, wunderte sich Strauss, „tatsächlich?“
„Ich war auch mehr als überrascht. Wie konnte Hitler überhaupt an die maßgebenden Personen herankommen? Doch alles andere als ein Herr! Im Krieg hat er es bis zum Gefreiten gebracht, na ja. Der kann sich doch in diesen Kreisen überhaupt nicht bewegen!“
„Schon wie er eine Teetasse hält“, amüsierte sich Strauss, „da spreizt er den kerzengerade ausgestreckten kleinen Finger ab, in der Berliner Illustrirten habe ich gerade ein Bild gesehen.“
„Habe ich auch gesehen. Etwas Ähnliches sieht man zwar auch in England in gewissen Kreisen, aber nicht so extrem abgespreizt freilich, aber du hast schon recht, er kommt aus einer ganz kleinen Kiste! Hitler ist ungebildet und –“
„Ich würde sagen, Zabener, er ist der klassische Halbgebildete.“
„– was noch schlimmer ist!“, bellte Zabener plötzlich. „Und nicht nur von geringer Herkunft, sondern auch mit ziemlich trüben Stellen in seinem Lebenslauf. Ich kann mir nicht denken, dass die Deutschen je einen solchen Mann an die Spitze stellen wollen. Deutschland ist noch immer ein Klassenstaat, Strauss, und noch nie ist ein Mann geringen Standes in ein hohes Staatsamt aufgestiegen. Denke doch nur an Bismarck oder noch früher an den Freiherrn vom Stein. Oder an Bethmann Hollweg oder Bülow. Man mag zu ihnen stehen, wie man will – es waren Herren!“
„Und wie ist das mit Ebert? Der stammte aus kleinen Verhältnissen“, warf Strauss ein.
„Das war ein Sonderfall, er ist in den Wirren des Kriegsendes zum Kanzler ernannt worden, wie übrigens alle seine Vorgänger auch ernannt worden sind, er war der Vorsitzende der damals größten Partei; zum Reichspräsidenten allerdings wurde er dann gewählt. Im Übrigen, der Mann hat große Verdienste. Und er hatte Anstand!“
„Oh ja, das ist mir bekannt, Zabener. Er hat auf seine manchmal etwas unbesonnene Partei über viele Jahre hinweg einen äußerst günstigen Einfluss genommen.“
„Diesem Hitler seine Partei dagegen ist ein wilder Proletenhaufen, Strauss, mit vielen verkrachten Existenzen darunter. Schon diese grauenhaften Klamotten in diesem scheußlichen Braun, SA-Uniform nennen sie das. Hast du schon einmal eine Uniform gesehen ohne Rock? Ich nicht! Die laufen doch buchstäblich im Hemd herum, übrigens auch Hitler selbst.“
„Na ja, Zabener, das muss halt alles billig sein, die Kerle müssen das aus eigener Tasche bezahlen!“
„Und hast du gesehen, Strauss, die Anführer mit ihren meistens viel zu kurz gebundenen Krawatten, hahaha. Das sieht vielleicht aus!“
„Und erst recht dieser alberne Hitlergruß, Zabener! Meine englischen Freunde haben nur geschmunzelt und meinten, das sehe ja aus wie Freiübungen; ‚free-standing exercises‘ haben sie gespottet. Glauben die Hitlerleute denn im Ernst, dass man eine solche Marotte gegen eine jahrhundertealte Kultur des Grüßens und Sich-Begrüßens einfach so anordnen könnte? So einfach par ordre du mufti? So etwas wird sich niemals durchsetzen lassen, Zabener. Niemals!“
„Höchstens bei diesen Proleten, die ohnehin nie gelernt haben, richtig zu grüßen!“
„Wenn ich dagegen bedenke, welch vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten ohne jedes Überlegen mir zur Verfügung stehen, wenn ich meinen Hut lüfte! Ein kultivierter Mensch wird das doch niemals preisgeben. Ich hatte schon beim militärischen Gruß, obwohl mir der nie lästig geworden ist, hin und wieder gespürt, dass ich da im Korsett einer ganz automatischen Bewegung steckte mit nur geringen Spielräumen für eine Abstufung.“ –
Erst nach Mitternacht, nach stundenlangem Diskutieren und ernsten Gesprächen über Gott und die Welt, mit viel freundschaftlichen Streitereien und immer wieder sich einstellendem Einvernehmen, trennten sie sich wohlgelaunt. Dr. Strauss hatte Lydia, die nach dem Essen immer wieder einmal hereingeschaut hatte, um mit einer Stimme, die von Mal zu Mal leiser wurde, zu fragen, ob noch etwas gewünscht würde, längst zu Bett geschickt.
Strauss begleitete Zabener noch bis zum schmiedeisernen Gartentor. Dabei war er zu seinem Schrecken im Halbdunkel unter dem lauten Gelächter des Konsuls in ein weiches Beet getreten. Sie plauderten am Tor noch eine Weile, scherzten und lachten und schüttelten sich dann lange die Hände, glücklich über so viel Übereinstimmung, und versprachen einander, bis zu ihrem nächsten Treffen nicht wieder so viel Zeit verstreichen zu lassen. Strauss machte noch ein paar gutmütige Späßchen mit jüdischen Redensarten, und Zabener fiel mit den Worten ein:
„Ein wunderbares Abendessen, Strauss, – und längst nicht so fett wie sonst in jüdischen Häusern.“
Beide freuten sich, wie unbefangen sie mit dem heiklen Thema umgehen konnten, und Strauss fuhr fort:
„Und erst dieser erlesene 21er Siran Margaux, Zabener, den du mir mitgebracht hast! Natürlich –“, und an dieser Stelle setzte er sein Lob per Sie fort, und seine Stimme bekam etwas übertrieben Beschwichtigendes, „natürlich weit über Ihre Verhältnisse!“
Sie lachten, wie man nur lachen kann, wenn man sich gemeinsam in eine so richtige Lachstimmung gebracht hat, und kein Außenstehender mehr den Grund für solche Heiterkeit hätte begreifen können. –