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3_Spielplatz Autogarage
ОглавлениеIhr liebster Ort zum Spielen, obwohl das nicht gern gesehen wurde, war die Garage, jedenfalls bei Regenwetter. Das Gebäude war seinerzeit als noble Remise für die Kutschen und wohl auch für die Pferde errichtet worden, eine geräumige Halle mit großen Oberlichtern und drei weiten Flügeltoren zur Straßenseite hin. Der Boden war mit geriffelten beigen Steinzeugplatten gefliest, und jede Wagenbox war mit einem Wasseranschluss versehen, von dem aus flache Rinnen zum zentralen Bodenablauf führten.
Es war ihnen strikt verboten, in der Garage Ball zu spielen oder gar in die Automobile einzusteigen. Das Ballspielverbot einzuhalten, fiel Viktor nicht weiter schwer, war er doch da ohnehin kein großer Held. Vor allem Fußball mochte er gar nicht, im Gegensatz zu Ludwig, dem die Namen der berühmten Spieler und auch die der wichtigsten Vereine geläufig waren. Viktor fielen da, wenn ihn Ludwig streng abhörte, höchstens zwei oder drei Namen ein, und auch bei denen war er sich nicht sicher. Die Automobile interessierten ihn da schon wesentlich mehr, und so hätte er gegen das Einsteigeverbot gewiss hin und wieder einmal verstoßen, wenn ihn nicht Ludwig immer wieder daran gehindert hätte. Es war eigenartig, sobald sie beim Spielen die Garage betraten, tat Ludwig so, als ob er der eigentlich Verantwortliche sei. Dabei waren das doch die Automobile seines Vaters, sagte sich Viktor, also war das auch die Garage seines Vaters. Doch Ludwigs Vater, der Chauffeur Herkommer, war eben der Chef der Garage, das war Viktor schon klar. Aber daraus schien Ludwig seine besondere Zuständigkeit abzuleiten und machte ihn auf das Einsteigeverbot auch dann vorsorglich aufmerksam, wenn er gar nicht vorhatte, in einen Wagen einzusteigen.
Dabei verstand er ja von Autos viel mehr als Ludwig, nicht nur, weil er von seinem Vater häufig mitgenommen wurde, sondern weil sein Vater viel schöner und viel interessanter zu erklären wusste als Ludwigs Vater, der Chauffeur, der der Auffassung war, dass das alles viel zu schwierig und außerdem allein seine Sache sei und die Buben sowieso nichts anzugehen habe; war es doch schon lästig genug, dass sich der Konsul, besonders bei privaten Ausfahrten, immer wieder einmal als Herrenfahrer versuchte und seinen Chauffeur auf den Beifahrerplatz verwies oder ihn, fast schlimmer noch, ganz zu Hause ließ.
Zu den höchsten Vergnügungen Viktors gehörte es, sich in einem der Wagen ans Steuer zu setzen und zu fahren, freilich nur im Stand, am liebsten in dem großen Reisewagen, der ihm mit seiner gewaltigen Motorhaube und dem Kühler vorkam wie ein mächtiges Schlachtschiff. Die Gelegenheit dazu ergab sich nur selten in der Garage, weil er befürchten musste, von Ludwig belästigt zu werden, was er zu vermeiden suchte, vor allem wegen Ludwigs frecher Amtsanmaßung dabei. Aber wenn er seinen Vater begleiten durfte, dann war seine Stunde gekommen, und er blieb, wenn sein Vater ausstieg, um irgendwo etwas zu erledigen, gern im Wagen zurück, um den Platz am Lenkrad einzunehmen. Er setzte sich dann ganz vorn auf die Kante des Polsters, so konnte er das Lenkrad, das viel größer war als seine Schultern breit, gut erreichen, und wenn er sich streckte, kam er, ganz im Gegensatz zu Ludwig, bis zum Kupplungsund zum Bremspedal hinunter und sogar bis zum Gashebel, von dem sein Vater sagte, dass das eigentlich kein Hebel, sondern ebenfalls ein Pedal sei, das er manchmal altmodisch auch den ‚Akzelerator‘ nannte. So hätte das in der Vorkriegszeit geheißen.
Sodann begann die eigentliche Arbeit. Als Erstes musste der Motor gestartet werden, er wählte meistens den schwierigeren Kaltstart. Dazu waren ganz bestimmte Vorbereitungen zu treffen, das hatte er genau beobachtet. Wenn man dabei einen Fehler machte oder eine der Einstellungen ganz vergaß, sprang der Motor nicht an. Das war schlimm, denn wenn er nicht gleich angesprungen war, dann konnte es lange dauern, bis man ihn in Gang brachte, und wenn man Pech hatte, waren vorher die beiden Akkumulatoren, die vorn auf den Trittbrettern draußen saßen, erschöpft.
Zunächst war am rechten der drei Flügelhebel, die in der Mitte auf dem Lenkrad saßen, die Zündung auf spät zu stellen. Als Nächstes musste sodann für einen ordentlichen Leerlauf am zweiten Flügelhebel, der nach unten zeigte, das Standgas ein wenig erhöht werden; und schließlich durfte man auch nicht vergessen, links, mit dem dritten Hebel, das Gemisch von ‚normal‘ auf ‚fett‘ zu stellen. Ein kleiner silberner Knopf direkt neben dem Zündschloss auf der Schalttafel, zu dem ihm aber der Schlüssel fehlte, war für den Anlasser zuständig. Er konnte ihn bei seinen Übungen unbesorgt betätigen, also richtig draufdrücken, denn ohne den Zündschlüssel sagte der Anlasser kein Wort. Trotzdem spürte er immer wieder eine gewisse Spannung dabei und zögerte stets erst einen Augenblick, bevor er dann vorsichtig, als ob vielleicht doch etwas Unerwartetes passieren könnte, auf den Knopf drückte. Er ahmte das Geräusch des elektrischen Anlassers nach, wie er den Motor mühsam durchdrehte und wie dieser dann ansprang, nahm sogleich Spätzündung, Gemisch und Standgas wieder ein wenig zurück, was er natürlich auch bei der Nachahmung des Motorgeräuschs berücksichtigte. Nach einer gewissen Zeit des Warmlaufens durfte man dann den Leerlauf und das Gemisch auf normal stellen, während man wegen der niederen Tourenzahl die Zündung noch auf genügend spät stehen lassen sollte.
Gar nicht einfach war sodann das Anfahren. Dazu musste er, so gut es ging, auf der Sitzkante noch weiter nach vorne rutschen und dann mit dem linken Fuß das Kupplungspedal, das arg schwer ging, möglichst bis zum Bodenbrett durchtreten und den ersten Gang einlegen. Sodann war höchste Aufmerksamkeit geboten: Mit dem rechten Fuß musste er nach Öffnen der Handbremse vorsichtig etwas Gas geben, um die Tourenzahl zu steigern, und gleichzeitig mit dem linken Fuß ganz langsam das Kupplungspedal auslassen. Beim Ganghebel wäre es ihm sehr willkommen gewesen, wenn auf dem Knauf oben angegeben gewesen wäre, wo die einzelnen Gänge liegen, wie er das bei kleineren Autos schon öfter einmal gesehen hatte, aber er wusste, dass sein Vater, mit dem er darüber gesprochen hatte, in einer solchen Markierung eher eine Konzession an stümperhafte Fahrer sah, die beim Schalten erst geschwind einen kurzen Blick auf den Ganghebel werfen mussten.
Er hoffte ja, dass sein Vater irgendwann einmal den Zündschlüssel stecken lassen würde, dann würde er den Motor tatsächlich anlassen, wenn auch selbstverständlich nicht mit dem Wagen losfahren, wiewohl er nicht im Geringsten daran zweifelte, dass er in der Lage sein würde, diesen Wagen, den er, wenn auch nur im Stand, bei allen Geschwindigkeiten und in allen Gängen schon fast perfekt in der Hand hatte, auch im fahrenden Zustand zu beherrschen.
Noch nicht ganz im Klaren war sich Viktor über jenen Flügelhebel, an dem ‚Gemisch‘ stand und was bei ihrem Buick ‚Mixture‘ hieß. Man konnte ihn von ‚normal‘ nach ‚fett‘ oder über eine Raste hinweg auch nach ‚mager‘ verschieben, und das bedeutete, wie ihm sein Vater erklärt hatte, es kommt im Vergaser mehr oder weniger viel Benzin zur angesaugten Luft. Dass dieser Hebel beim Anlassen des Motors auf ‚fett‘ zu stellen war, leuchtete Viktor ja noch ein; auch dass er dann auf ‚normal‘ verschoben werden musste, sobald der Motor mit dem dann nicht mehr so fetten Gemisch ohne zu stottern auskam, auch das war einleuchtend, zumal man das, auch wenn man nur danebensaß, sofort spürte, weil der Motor plötzlich besser zog. Aber wozu konnte man den Hebel dann über ‚normal‘ hinaus noch ein ganzes Stück auf ‚mager‘ zubewegen? Sein Vater, den er danach fragte, sprach davon, dass der Motor dann allerdings zu heiß werden könnte, und den Herrn Herkommer scheute er sich zu fragen, weil er genau gespürt hatte, dass sein Vater bei seiner Antwort nicht ganz sicher gewesen war und sich herausstellen könnte, dass der Chauffeur womöglich besser Bescheid wusste als sein Vater. Als er ihn schließlich dann doch einmal fragte, setzte Herkommer eine pfiffige und, wie es Viktor schien, allzu besserwisserische Miene auf und sagte:
„Mit diesem Hebel hat dein Herr Papa im letzten Sommer, als wir von Verona zurückfuhren, am St. Gotthard beinahe den großen Achtzylinder ruiniert. Das war sehr gefährlich! Raufwärts bin ich gefahren, da lief alles wie am Schnürchen, nicht ein einziges Mal haben wir mit kochendem Kühler anhalten müssen! Aber runterwärts, da wollte der Herr Konsul absolut selber fahren, und da hat er dann vergessen, den Gemischhebel, der oben in der dünnen Luft ziemlich auf ‚mager‘ gestellt war, allmählich wieder auf ‚normal‘ zu stellen, und deshalb wurde dann drunten, auf Altdorf zu, als man wieder ein bisschen länger richtig Gas geben musste, der Motor viel zu heiß, und der Kühler fing an zu kochen, und als wir anhielten, blieb der Motor sogar ganz stehen! Und gestunken hat er! Und gequalmt, oh jeh! Bei mir hat er bei der stundenlangen Bergauffahrt – das geht ja schon hinter Biasca los! – nicht ein einziges Mal gekocht!“
Herkommer hatte sich schon wieder an die Arbeit machen wollen, da kam er noch einmal zu Viktor zurück – das Thema schien ihn doch sehr zu beschäftigen.
„Dabei hatte sich der Herr Konsul diese erweiterte Gemischregulierung in Untertürkheim für ein Heidengeld noch selber einbauen lassen! Da kann man jetzt nämlich nicht nur von normal auf fetter gehen, sondern auch auf magerer als normal. Damit läuft das Auto in der dünneren Luft oben in zweitausend Metern Höhe wie der Teufel, auch bergauf, aber man muss halt auch etwas von der Sache verstehen!“
Und dann kam noch hinterher, worüber sich Viktor besonders ärgerte: „Mit Geld allein ist es nicht getan!“
Der Umgang mit diesem Gemischhebel jedenfalls schien Viktor eine Kunst für sich zu sein. Aber sonst kannte er sich mit diesen Flügelhebeln gut aus, und er war sogar noch stolz darauf, dass ihn seine elegante Mama neulich bei einer Fahrt mit dem Buick angefaucht hatte, weil er ihr einen unerbetenen, aber eben zutreffenden Hinweis gegeben hatte.
„Spätzündung!“, so hatte er ihr zugerufen, als sie an der Tankstelle langsam zur Zapfsäule hinrollten, denn er hörte das sofort am harten Klang des Motors.
„Wenn du da hinten nicht gleich den Mund hältst, kehren wir um, und ich lade dich zu Hause wieder aus!“, hatte seine Mutter geantwortet, die mit dem Fahren ohnehin schon mehr als genug zu tun hatte. –
Auch sonst war die Garage ein wunderbarer Ort. Schon beim Eintreten konnte man den Duft von Gummi, Öl und Benzin schnuppern und sich, wenn draußen schlechtes Wetter war, zum Spielen und Erzählen auf die breiten Trittbretter setzen, die ja nicht nur beim Einsteigen, sondern auch während der Fahrt, vor allem bei Dunkelheit, von Nutzen sein konnten. Denn immer wieder in diesen frühen Jahren des Automobilverkehrs kam es vor, dass am Abend Feldhasen in die Scheinwerferkegel gerieten, in panischem Zickzack geblendet hin- und herrannten und dann doch, obwohl sie leicht ins Grüne zurück hätten fliehen können, vom Auto erfasst wurden. Herkommer pflegte dann anzuhalten und legte den blutigen toten Hasen draußen auf das Trittbrett.
Viktor war überrascht, als ihm einmal Ludwigs Mutter, die sich darauf verstand, die Hasen in eine besondere Beize einzulegen und zu schmoren, nach einer solchen abendlichen Fahrt am nächsten Tag das abgezogene graubraune Hasenfell zeigte. Hatte er doch immer geglaubt, dass Hasen weiß seien, denn im gleißenden Licht der Scheinwerfer waren sie immer hell weiß aufgeschienen.
Viktor mochte von diesen Hasenbraten, die von allen im Hause gelobt wurden, nichts essen, er musste immer an die toten Hasen denken, wie sie blutig auf den Trittbrettern lagen; dem Ludwig dagegen, der meistens sogar beim Ausnehmen und Abziehen half, machte das nichts aus. Nur der Konsul, dem man stets anstandshalber ein schönes Stück nach oben brachte, gab zu bedenken, dass man da doch leicht einmal auf Knochensplitter beißen könnte, dem aber Herkommer stets entgegenhielt, dass man die gesplitterten Knochen und auch die kleineren Splitter gut aus den Beinen habe herauslösen können, was sich von den bleiernen Schrotkugeln der herkömmlichen Hasenjagd gewiss nicht sagen lasse, aber man habe jedenfalls für den Herrn Konsul ein Stück vom Rücken, der ohnehin das Beste am Hasen sei, ausgewählt.
Eines Tages kamen sie in der Garage auf die Idee, in den Ablaufrinnen, die vom Wasserhahn in jeder Box bis zum Bodenrost des zentralen Abflusses verliefen, Papierschiffchen schwimmen zu lassen. Wenn man alle Hähne aufdrehte, entstand eine sanfte Strömung durch die ganze Halle bis hin zum zentralen Bodenablauf. Allerdings verschwanden die kleinen Schiffchen am Ende ihrer kurzen Reise allzu leicht zwischen den Stäben des Abflussgitters, und falteten sie sich größere, so blieben diese im doch recht flachen Wasser schon an den geringsten Untiefen hängen. Als auch das volle Öffnen der Wasserhähne zwar Besserung, aber noch nicht die entscheidende Abhilfe brachte, holte Viktor den Wasserschlauch, und stets, wenn irgendwo ein Schiffchen aufzulaufen drohte oder gar schon festsaß, erhöhte er mit einem wohlgezielten Wasserstrahl in einem großen Bogen quer durch die Wagenhalle den örtlichen Wasserstand hinter dem Schiffchen, das so in wenigen Sekunden wieder freikam.
Plötzlich aber stürzte Vater Herkommer, der das Rauschen der weit geöffneten Wasserhähne gehört haben musste, in die Halle.
„Seid ihr verrückt geworden?“, brüllte er noch unter der Tür, riss Viktor den Schlauch aus der Hand und drehte fluchend einen Wasserhahn nach dem anderen zu.
„Die frisch gewaschenen Wagen total eingesaut!“, schimpfte er, „stundenlang poliert und alles für die Katz! Habt ihr denn überhaupt keinen Verstand? Der Teufel soll euch holen!“
Dann verstummte er plötzlich und jeglicher Zorn verschwand aus seinem Gesicht. Er zitierte Ludwig mit einer Handbewegung an seine Seite und ging mit ihm gemessenen Schritts und in einem fast schon feierlichen Ernst zur Werkzeugkammer. An der Tür angekommen, ließ er Ludwig, der mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern, folgsam und stumm wie ein Lamm auf dem Weg zur Schlachtbank, neben seinem Vater hergegangen war, vorangehen.
Viktor horchte beklommen zur Werkzeugkammer hinüber. Es geschah nichts. Er trat langsam näher und lauschte. Nichts, kein Wort. Ab und zu ein paar unregelmäßige Schritte von Herkommer, hin und her, als ob er irgendwelche Vorbereitungen träfe.
Viktors Verhältnis zum Chauffeur Herkommer war schon immer merkwürdig gespalten. Gewiss, Herkommer, der ja mit Ludwig einen Sohn gleichen Alters hatte, bemühte sich meistens recht freundlich und mit hilfsbereiter Zuwendung um Viktor, gewiss wohl auch deshalb, weil er damit seinem Ansehen bei Viktors Vater, dem Konsul, aufzuhelfen hoffte; und Viktor erwiderte diese Freundlichkeiten durchaus, aber er blieb dennoch immer ein wenig auf Distanz, weil er Herkommer, ob er wollte oder nicht, stets mit einem Hauch von Misstrauen begegnete. Er wusste selbst nicht recht warum.
Der Grund war eine lächerliche Geschichte, die schon Jahre zurücklag und an die sich Viktor nur noch dunkel erinnern konnte. Herkommer war damals im Grünen Baum bei der Versammlung irgendeiner dieser Proletenparteien, wie Viktors Mutter das nannte, als Redner aufgetreten, nicht als der Hauptredner zwar, aber gesprochen hätte er eben doch länger, vielleicht hatte er sich auch nur zu Wort gemeldet, jedenfalls sei das alles ziemlich aufrührerisch gewesen und war seiner Mutter über die Hausschneiderin, die selbst empört schien, überbracht worden. Frau Zabener war beunruhigt gewesen und hatte ihrem Mann, dem Konsul, bei Tisch davon berichtet.
„Ach, dieser Herkommer, mach’ dir da mal keine Sorgen, das ist ein ordentlicher Kerl! Er war im Krieg einer meiner zuverlässigsten Unteroffiziere.“
„Aber wenn er auf die schiefe Bahn gekommen ist, ich meine politisch, und da aufwieglerische Reden führt? Das ist gefährlich, auch für uns!“
„Ach, auf den hört doch niemand“, hatte der Konsul abgewinkt, „der Herkommer, das ist doch ein ganz Kleiner!“
Das war der einzige Satz, den Viktor verstanden und noch lange behalten hatte. Was mochte das wohl bedeuten, ein ganz Kleiner zu sein? Herkommer war doch ein großer, kräftiger Mann, den sein Vater aber, der eher etwas zierlicher war, als einen ‚ganz Kleinen‘ bezeichnet hatte. Das musste etwas anderes bedeuten. Was ist das, ein Kleiner?
Der rätselhafte Satz war in einer Zeit gefallen, in der Viktor gerade zu lesen begonnen hatte; Schilder, Zeitungsüberschriften, noch keine ganzen Sätze; vor allem Großbuchstaben hatten es ihm angetan. Da war ihm auf der Rückseite der Zeitung, in der sein Vater gerade gelesen hatte, eine ganze Seite mit lauter Inseraten aufgefallen, und über die ganze Seitenbreite stand darüber in großen Versalien und so für ihn leicht zu entziffern:
K L E I N EA N Z E I G E N !
Nun, dass Leute, die Unrechtes getan haben, also Diebe, Räuber und Einbrecher, angezeigt gehören, das hatte er während der Spaziergänge vom Kindermädchen und auch auf Autofahrten von seinem Vater schon oft gehört. Aber nicht nur diese sollte man anzeigen, sondern eben auch die Kleinen, das hatte er von nun an gewusst. Auch von den Kleinen konnte also eine Gefahr ausgehen.
So hatte der Metteur, der diese Zeitungsseite eingerichtet hatte, durch seinen sorglosen Umgang mit dem Ausrufezeichen, das Viktor von gelegentlichen Fahrten mit der Eisenbahn (‚Nicht hinauslehnen!‘) ja auch schon kannte, dafür gesorgt, dass Viktor in dieser Überschrift eine Aufforderung sah, einen öffentlichen Befehl gewissermaßen, und so hatte der Metteur damit ungewollt den Chauffeur Herkommer auf Jahre hinaus bei Viktor ins Zwielicht gerückt und Viktors Verhältnis zu ihm auf lange Zeit getrübt. Eine solche Trübung, die man fast schon eine verborgene Vergiftung nennen kann, ist desto beständiger, je weniger sich der Betroffene an Ursprung und Herkunft erinnern kann.
Offenbar war es eben aus irgendeinem Grunde verwerflich, hatte Viktor damals gedacht, ein Kleiner zu sein, und wahrscheinlich war es sogar gänzlich verboten, sich als Kleiner zu betätigen. So musste es wohl sein. Seinen Vater, der doch mindestens ein Mitwisser gewesen zu sein schien, hatte er damals nicht fragen mögen und diese Geschichte inzwischen so gut wie vergessen.
Dann endlich hörte Viktor aus der Werkzeugkammer die klatschenden Schläge eines Lederriemens auf Ludwig niedersausen. Doch es waren nicht Schläge in dichter Folge, sondern lauter einzelne, wenn auch mächtige Peitschenhiebe, zwischen denen immer wieder Pausen lagen, weil Herkommer zu jedem Schlag einen langsam gesprochenen und fast feierlichen Kommentar abgab, den Viktor draußen gut verstehen konnte.
Das war nicht heißer Zorn, das war kalte Grausamkeit. Viktor spürte sofort, schon nach dem zweiten oder dritten Schlag: Diese Pausen, das war die eigentliche Qual. Von Ludwig dagegen war nichts, nicht einmal ein Stöhnen oder auch nur ein Schnaufen zu hören. Herkommer zählte laut mit:
„V i e r ! – Bei dir ist es schade um jeden Schlag, der danebengeht!“
„F ü n f ! – Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie!“
„S e c h s ! – Mir tun diese Schläge mehr weh als dir! Aber ich werde jedes Opfer bringen, um aus dir einen anständigen Menschen zu machen.“
„S i e b e n ! – Es ist meine Pflicht, das zu tun! Ich muss mich aufopfern dafür, aber dieses Opfer bringe ich gern.“
„A c h t ! – Du musst für deine Taten einstehen wie ein Mann! Jeder muss das!“
„N e u n ! – Und du musst einstehen auch für die Taten anderer.
Du hast die Verantwortung. Der Viktor hielt den Schlauch in der Hand – aber ihn kann ich nicht bestrafen.“
„Z e h n ! – Du wirst dich herrlich frei fühlen hinterher. Denn Sühne macht frei!“
Dann war nichts mehr zu hören, auch keiner dieser entsetzlichen Rechtfertigungskommentare mehr. Oh, wie grausam Ludwigs Vater doch sein konnte! Wie unbarmherzig und kalt! Dieser sonst so freundliche und hilfsbereite Mann, der seinen Vater jeden Morgen mit der Schirmmütze in der Hand und einer Verbeugung begrüßte; der ihm zum Einsteigen auf das Höflichste die Wagentür öffnete und sie wieder schloss, um sich dann im Eilschritt zur Fahrertür zu begeben; der Viktors Mutter, wenn sie einmal mitfuhr, beim Einladen und Einsteigen geradezu umschwänzelte.
Uns gegenüber – Viktor schlug sich plötzlich ganz auf die Seite seines Vaters – uns gegenüber ist er immer der aufmerksame, dienstbereite Mann, der sich stets unterordnet – Vater ahnte ja nicht, was für ein Tyrann sein Chauffeur sein konnte!
Nach einer Weile hörte Viktor, wie Herkommer seinen Sohn zu trösten begann. Er sprach jetzt in einem ungleich freundlicheren Ton, aber es war kein aufrichtiger Trost. Später ging dann, ohne ihn auch nur einen Augenblick anzusehen, Ludwig an ihm vorbei, mit einem Gesicht perfekter Verschlossenheit, in dem kein Bedauern oder gar Reue, kein Schmerz und erst recht keine Verzweiflung abzulesen war. Unnahbar kam er Viktor plötzlich vor, und als er sich beim Verlassen der Halle noch einmal zur Werkzeugkammer umwandte, war das nur noch ein kalter Blick voller Hass und Verachtung. Viktor erschrak vor diesem Blick, wie er schon manchmal vor Ludwig erschrocken war, und zugleich bewunderte er Ludwig fast. –
Mit der Anmeldung zum Gymnasium wurde Ludwigs Bindung an seinen Vater endgültig zerstört. Sein Vater war anfangs ganz gegen das Gymnasium gewesen und sagte etwas von einem ordentlichen Beruf, den er erlernen sollte. Bei Viktor sei das etwas anderes, tat er Ludwigs Einwände ab. Dabei war Ludwig doch in allen Fächern so gut wie Viktor und im Turnen sogar besser. Der alte Herkommer aber war störrisch und ließ sich nur zögernd von seiner Frau überreden. Letzten Ausschlag gab dann ein Wort des Konsuls, der dabei freilich auch daran dachte, dass es ganz nützlich sein könnte, wenn Viktor im Gymnasium seinen Milchbruder mit dabeihätte.
Also schnitt Herkommer schließlich dann doch von Ludwigs altem Schulranzen brummend die beiden Schultergurte ab und ließ vom Schuster oben einen Griff aus Kernleder drannähen, damit Ludwig eine Aktenmappe hätte.
„Das reicht so bis zur Quinta oder Quarta. Wer weiß, ob du es bis dahin überhaupt schaffst!“
Von mir aus bis zur Tertia, dachte Ludwig, der umgebaute Schulranzen machte ihm nichts aus. Hauptsache, man ließ ihn zusammen mit Viktor aufs Gymnasium gehen. Aber der verächtliche Zweifel seines Vaters und die geringen Aussichten, die er ihm gab, hatten ihn gekränkt und ihm seinen Vater mehr entfremdet als alle Prügel, die er bis dahin sich eingefangen hatte.
Als nach den Ferien das Gymnasium dann begann, wurde er jeden Tag aufs Neue an diese Bemerkung seines Vaters erinnert. Denn jeden Morgen, wenn er das Klassenzimmer betrat, schlug ihm schon an der Tür der Duft des Leders der neuen Aktentaschen entgegen – so riechen nur die Klassenzimmer der Sextaner. Er blickte dann manchmal trotzig zu seinem abgescheuerten Schulranzen hinunter. ‚Dem Alten werde ich es erst noch zeigen. In spätestens zwei Jahren werde ich mich mit Viktor über Dinge unterhalten, von denen er keinen blassen Schimmer hat.‘ –
Viktor zögerte einen Augenblick an der Tür zum Herrenzimmer, dann klopfte er vorsichtig an, denn er fürchtete zu stören. Aber sogleich hörte er die Rückfrage seines Vaters und ohne Pause dazwischen auch gleich seine Antwort darauf:
„Ja? – Bitte!“
Der Konsul faltete in seinem Lesesessel die Zeitung zusammen, lächelte Viktor aufmunternd zu und klopfte mit der Hand auf seine Knie und Oberschenkel, die Aufforderung für Viktor, sich da hinzusetzen. Da war er schon als kleines Kind bei den ersten Zwiegesprächen mit seinem Vater gesessen, und der Konsul wusste, wenn Viktor bei ihm im Herrenzimmer erschien, was nur noch gelegentlich geschah, dann beschäftigte ihn etwas Besonderes.
„Bald wirst du mir zu schwer sein, Viktor!“
„Bitte um eine nur kurze Audienz!“, tat Viktor überkorrekt. „Stell dir vor, der Ludwig hat ein Koppel mit Schulterriemen!“
Der Konsul zog aufmerksam die Augenbrauen hoch, und Viktor erzählte ihm, wie er vor zwei Tagen, zusammen mit Bienchen, unten im Souterrain bei Frau Herkommer gewesen sei, um für die Köchin den großen Einwecktopf heraufzuschaffen. Herkommers hätten ja keine richtige Garderobe, gleich hinter dem Abschluss aber gäbe es einige Kleiderhaken an der Wand, und da habe Bienchen überrascht auf das Koppel gedeutet, das dort hing, und ihn dabei fragend angesehen.
Viktor hatte sofort gespürt, dass es sich bei diesem Koppel nicht um etwas Belangloses handelte und dass er das unbedingt aufklären musste. Bienchen mochte da schon etwas mehr geahnt haben. Ohne Bienchen wäre er ja achtlos daran vobeigegangen.
„Ein Koppel?“, fragte sein Vater. „Noch aus dem Krieg? Schau, dieser Herkommer! – Aber wieso mit einem Schulterriemen?“
„Nein, nein, das war nicht von seinem Vater. Es ist viel zu klein, das passt nur Ludwig.“
Ludwig, überlegte der Konsul, ist der nicht noch zu jung für diese SA-Jugend? Hitlers Jugend oder Hitlerjugend nennen sie sich.2 Vielleicht haben die Eltern ihm das Koppel geschenkt? Und um sicherzugehen, fragte er: „Wie sah denn das Koppelschloss aus? Wenn da ‚Gott mit uns‘ draufstand, ist es noch aus dem Krieg.“
„Nein, da war wie so ein dicker Blitz drauf.“
„Hm“, meinte der Konsul nachdenklich, „das sind in der Hitlerbewegung diese merkwürdigen Runenzeichen.“
„Die Hitler?“, horchte Viktor auf. „Sind das die mit den Trommeln nachts gewesen?“
Viktor erinnerte sich mit Grauen. Das war neulich eine fürchterliche Nacht gewesen. Aus dem ersten Tiefschlaf hatte ihn ein ferner Lärm, der drohend aus der Innenstadt herübergedrungen war, aufgeschreckt. Dumpfe Geräusche, wie er sie noch nie gehört hatte, die ihn aber doch nicht ganz aus dem Schlaf gerissen, sondern nur zur Hälfte wach gemacht hatten – wach genug, um das Unheil mit tödlicher Angst zu spüren, doch nicht wach genug, den Spuk abzuschütteln, ans Fenster zu treten und mit klarem Kopf nachzuforschen, was das sein könnte.
Das hatte er noch nie erlebt: nur Angst, nichts anderes als Angst. Sie hatte alles überflutet und durchtränkt, jeden Gedanken, jede Hoffnung. Nur noch aus Angst hatte er bestanden. Ob da ein riesiges unterirdisches Ungeheuer emporgebrochen ist und jetzt die Stadt erobert? Ob so der Weltuntergang beginnt? Nach dem machtvollen rhythmischen Dröhnen und Hallen dann immer wieder minutenlang dieses hundertstimmige zischende Rasseln. Dass die sich wandelnden Geräusche allmählich näher kamen, spürte er mehr, als dass er es hörte. So lag er erstarrt, aber doch zitternd im Bett, regungslos festgehalten von seiner eigenen Angst.
Es hatte lange gedauert, bis er sich endlich, ohne Licht zu machen und barfuß schleichend, mit flachem Atem ins Schlafzimmer seiner Eltern hinüberretten konnte, wo er dann – obwohl viel zu groß schon, um wie ein Kind zu weinen – hilflos in ein lautes Heulen der Verzweiflung ausgebrochen war.
Auch die Eltern waren längst wach geworden, seine Mutter war aufrecht im Bett gesessen, etwas verstört, oder nur vom Licht geblendet? Sein Vater dagegen hatte ihn damals mit seiner sonoren Stimme, die keinen Platz mehr ließ für die geringste Angst, bald beruhigt. Das seien die Nationalsozialisten, die Braunen, die Hitlerleute, und zwar diese Trommler von der SA, die da durch die Straßen zögen, um alle einzuschüchtern mit ihren dumpfen Landsknechtstrommeln und den rasselnden Marschtrommeln dazu, allerdings ohne die Pfeifer, die bei einer anständigen Militärmusik eigentlich mit dazugehörten, dann klinge das alles viel frischer und auch nicht so drohend – „aber die Nazis3 haben ja keine Ahnung!“ –
Ordnung im Kopf fängt immer mit neuen Zusammenhängen an, die aufscheinen. Ludwigs Koppel gehörte also zur Hitlerbewegung, ging Viktor auf, und es war ein Teil der Hitleruniform, und von diesen Hakenkreuzlern war seine Schreckensnacht inszeniert worden. Diese Schreckensnacht war bis dahin für Viktor, so intensiv er sie erlebt hatte, abstrakt im Ungewissen geblieben, weil er noch nie auch nur das Geringste von ihren Urhebern gesehen, sondern nur ihren bedrohlichen Lärm gehört hatte. Doch mit Ludwigs elendem Koppel hatte diese grauenvolle Nacht mitsamt der ganzen Hitlerbewegung plötzlich einen Ankergrund gefunden.
In den folgenden Tagen prahlte Ludwig immer wieder einmal mit seinem neuen Koppel auf dem Hof herum, vermied dabei aber, seinem Vater zu begegnen. Er übte den Hitlergruß im Gehen und im Stehen, schlug die Hacken zusammen und presste dabei die linke Hand an die Hosennaht. Mutter Herkommer sah ihm mit nachsichtigem Lächeln zu, ein wenig Stolz war auch dabei.
Schon der Klang des Wortes ‚Koppel‘ imponierte Ludwig. Koppeln, Ankoppeln, da hörte man die beiden Teile präzis ineinander klacken. Koppel, nicht Gürtel – pah, was ist schon ‚Gürtel‘? – oder Gurt oder gar Riemen – Leibriemen womöglich? – nein, K-o-p-p-e-l, basta! Und nicht mit irgendeiner windigen Schnalle dran, sondern mit einem Schloss. Mit einem Koppelschloss!
Als Ludwig Viktor in den Hof kommen sah, klopfte er mit der flachen Hand ein paar Mal lachend auf das Koppelschloss. Dann schlug er erneut die Hacken zusammen, riss den rechten Arm hoch und rief: „Unsere Fahne ist die neue Zeit4! Die neue Zeit, Viktor, verstehst du?“
Das war bestimmt nicht auf seinem Mist gewachsen. Was Ludwig offenbar so begeisterte, das Koppel mit dem Koppelschloss und dem Zeichen darauf, das war für Viktor die zum Gegenstand verdichtete nächtliche Bedrohung, das Konzentrat des Bösen, das die Weite einer ganze Nacht hatte ausfüllen und vielleicht die ganze Welt hätte überfluten können.
„Soll ich dir mein Koppel mal ausleihen?“, fragte Ludwig gutgelaunt. Viktor prallte fast zurück; nicht einmal anfassen hätte er es mögen nach dieser Nacht neulich. –