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5_Viktors Katharsis

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Die Luft war lind, es gab ein einfaches Abendbrot auf der Terrasse unter dem Kastanienbaum. Der Konsul kam etwas später, aber er ließ es sich nicht nehmen, Viktor mit erhobenem Glas ein zweites Mal zu begrüßen und ihn, ein wenig gespielt steif, im häuslichen Kreise willkommen zu heißen und ihm zugleich alles Gute zu wünschen für die am Montag wieder beginnende Schule und so weiter.

Solche kleine Ansprachen beherrschte er wie kein anderer, perfekt formuliert, herzlich vorgetragen und mit einem Hauch von Ironie versehen, der gerade ausreichend war, um jeden Anflug von Pathos auf der Stelle wegzuwischen. Viktor genoss die ungewohnte Aufmerksamkeit, die er da fand, und war plötzlich gerührt ob der freundlichen Fürsorglichkeit seines Vaters.

Rührung, das war ein Gefühl, das er gar nicht kannte – doch, das er schon kannte, aber das er schon lange nicht mehr und eigentlich nur ein einziges Mal erlebt hatte. Das war, als er vor ein paar Jahren als kleiner Junge allein mit seinem Vater durch München gegangen war und dieser ihn besorgt gefragt hatte, ob er Hunger habe und einen Wecken wolle oder eine Wurst. Da hatte ihn dieses seltsame Gefühl zum ersten Mal gepackt und ihn so überwältigend von hinten angesprungen, dass ihm die Tränen in die Augen getreten waren, wohl weil ihm sein Vater bis dahin noch nie eine so fürsorgliche Frage gestellt hatte und sie so unerwartet kam; und wohl auch deshalb, weil sein Vater diese sehr praktische Frage mit soviel vornehmer Unbeholfenheit angegangen war – ‚einen Wecken‘ hatte er gesagt. Für solche alltäglichen Dinge war stets seine Mutter zuständig gewesen oder das Kindermädchen oder vielleicht auch die Köchin – er konnte sich nicht erinnern, seinen Vater zu Hause jemals in der Küche gesehen zu haben.

Viktor lächelte am Ende der Ansprache dankbar und lehnte sich behaglich ein wenig zurück, bevor er zugriff, aber er hatte kaum das erste Stückchen Brot zu sich genommen, als ihn sein Vater in scharfem Ton anfuhr und ihn mit einer Vehemenz vom Tisch jagte, wie er das auch bei seinen schlimmsten Übeltaten noch nicht erlebt hatte. Viktor rannte laut heulend die Treppe hinauf in sein Zimmer und warf sich auf sein Bett.

Es dauerte nicht lange, da sah er den Kopf seiner Mutter über sich. Sie schaute ihnen sanft, wenn auch nicht ohne Vorwurf an.

„Du hast aber auch wirklich scheußlich gegessen, Viktor! Mit dem Messer in den Mund!“

Viktor weinte wieder lauter. Es war alles so ungerecht. Wenn sie nicht im Freien gegessen hätten, wäre ihm das nicht passiert. Bei Onkel Xaver auf dem Hof war das ganz anders. Jetzt im Heulen fiel ihm plötzlich vieles aus diesen Tagen dort wieder ein. Die Mahlzeiten am gescheuerten Küchentisch, mit dem kurzen Tischgebet vor Beginn, sie hatten Viktor, der ja an eine weiß gedeckte Tafel mit Personal gewöhnt war, anfangs schon überrascht, aber mehr noch hatten ihn die Vesperpausen unter freiem Himmel beschäftigt. Sie hatten da nicht nur das zügige Trinken aus der Flasche geübt, sondern es wurde ihnen unter genauer Anleitung und mit viel Probieren auch beigebracht, wie man ein Klappmesser als Essbesteck verwendet, was noch wesentlich schwieriger als das Trinken aus der Flasche ist, darin waren sich Viktor und Ludwig sogleich einig gewesen.

„Man isst net mit de Finger, Viktor!“, hatte ihn Bodo ermahnt, der gleichzeitig auch Ilse, die jüngste der Mägde, unterwies. Aber dass man mit dem Messer essen darf, das hatte Viktor bis dahin auch noch nicht gehört. Ludwig war da großzügiger gewesen.

„Am besten“, hatte Bodo gesagt, „nimmste das Messer erstmal ganz normal in die Faust – nein, andersrum, die Klinge muss auf der Daumenseite herausschauen. So. Wenn du jetzt den Daumen seitlich an die Klinge legst, musste bis fast zur Spitze kommen, dann ist es richtig.“

Dann hatte Bodo ein Stück Käse abgeschnitten, das er mit dem Daumen leicht an die Klinge gedrückt hat, die er dann, mit der Schneide deutlich nach unten gedreht, an den Mund führte.

„So, das muss jetzt geübt werden!“

Bald war Viktor so weit gewesen, dass er, wenn er dabei gut achtgegeben hat, ein Stück Käse zusammen mit einem Stück Brot zum Mund führen konnte, wie das Bodo immer machte.

Als sie beim Holztransport die Waldarbeiter getroffen hatten und nach dem Aufladen von acht Ster Buche sich mit den Arbeitern gemeinsam zum Vespern niedersetzten, hatte Viktor gesehen, dass die alle auf diese Weise aßen, und zwar genau so, wie es Bodo ihnen gezeigt hatte. Es schien auch hier auf dem Lande, bei den Bauern, Knechten und Waldarbeitern, ganz bestimmte feste Regeln wie zu Hause zu geben, nur eben andere. Viktor war nicht entgangen, dass der Vorarbeiter ihm auf die Hand geblickt hatte, als er sich mit seinem Messer der Wurst genähert hat, und er war sich danach sicher gewesen, dass der Vorarbeiter mit ihm einverstanden war.

Je mehr von seinem Kummer Viktor aus sich herausheulte, desto deutlicher stiegen die verlorengegangenen Bilder und Szenen aus den Sommerferien wieder auf. Das war wie bei der fotografischen Entwicklung in der Dunkelkammer, bei der er neulich hatte zusehen dürfen. Er hätte gerne noch weitergeheult und gab sich Mühe zu schluchzen, denn das Weinen gab ihm Trost. Doch schließlich funktionierte das Schluchzen nicht mehr, er war erschöpft, sein Unglück und sein Kummer waren vom langen Weinen fast aufgebraucht.

Aber nicht nur die Bilder vom Vespern unter freiem Himmel waren in ihm wieder aufgestiegen – nach seinem langen Weinen hatte er zum ersten Mal auch wieder die beiden kleinen Katzen deutlich vor sich. Wie ausgelöscht gewesen war diese Stelle in seinem Gedächtnis. Er hatte nur noch gewusst, dass da irgendetwas war, dass da irgendetwas Bedrohliches gewesen sein musste. Jetzt kamen wenigstens einzelne Bilder wieder zum Vorschein, noch keine Abläufe, aber immerhin Bilder, die wie Inseln aus dem Vergessenen herausragten.

Dann erschien, wie er so verheult mit geschlossenen Augen dalag, mit einem Mal der ganze Film wieder: Da hatte es eines Morgens gleich nach dem Aufstehen ein großes Hallo gegeben; Bobette – das war die einzige Katze auf dem Hof, die das Vorrecht genoss, mit ins Haus zu dürfen, ein stilles und freundliches Tier – hatte in der Nacht drei Junge bekommen. Schorschett führte die Kinder zum Katzennest, einem stattlichen Wäschekorb mit vielen warmen Wolltüchern und Stoffresten darin, und blickte immer wieder wie in mütterlichem Stolz von den kleinen Katzen zu den Kindern hin, um deren Überraschung zu sehen. Viktor freute sich, dass die strenge Schorschett so mütterlich sein konnte, obwohl sie selbst ja keine Kinder hatte.

„Sie schlafen noch“, stellte Ludwig fest.

„Nein nein, sie sind noch blind“, wusste Bienchen.

„Ihr dürft sie jedenfalls nicht anfassen, solange sie die Augen noch nicht offen haben und noch nicht laufen können, sonst kann es sein, dass die Alte sie nicht mehr annimmt.“

„Nicht einmal bisschen streicheln?“, jammerte Viktor.

„Oh, die können ja schon schnurren!“ jubelte Bienchen.

„So, raus jetzt!“ rief Tante Georgette.

Es dauerte nur ein paar Tage, und schon fingen die kleinen Katzen an, mit kerzengerade aufgestelltem Schwanz vorsichtig hin- und her zu tapsen. Sie erkundeten die Korblandschaft und versuchten sogar, über den hohen Rand hinweg aus dem Korb heraus zu gelangen. An einer Seite war der Korb etwas schadhaft. Ludwig brach heimlich im Geflecht noch ein paar Stückchen von den Weidenzweigen ab, um das Loch etwas zu vergrößern, und räumte drinnen an der entstandenen Öffnung die Tücher und Lappen noch ein bisschen zur Seite und – schaut nur! – es dauerte nicht lange, bis das erste der Kätzchen vorsichtig seinen Kopf herausstreckte und gleich danach mit allen Vieren draußen stand, die beiden vorderen Pfötchen dicht nebeneinandergesetzt.

„Wir müssen ihnen unbedingt Namen geben, das sind jetzt schon richtige Menschen geworden“, sagte Ludwig, worauf ihn Bienchen lauthals auslachte. Es waren aber nur Kosenamen wie Schnurri, Sternchen und Samtpfötchen, die die beiden Buben mit wachsendem Eifer vorschlugen, oder Namen, die sich eher für Spielzeugtiere eigneten, wie Foxi, Jolli oder Mausi.

„Bist du verrückt?“ rief Viktor, „Mausi geht doch nicht bei einer Katze!“

So ging das hin und her, bis Bienchen schließlich dazwischenrief:

„Halt, so wird das nichts! Erst müsst ihr einmal wissen, ob das Männchen oder Weibchen sind!“

„Bist du ein Weibchen, Bienchen?“ fragte Ludwig und grinste hinterhältig, „wo kann man das sehen?“

Sie kamen tagelang zu keinem Ergebnis, kaum hatten zwei von ihnen einen Namen gefunden, schon wurde er vom Dritten wieder verworfen, wobei freilich erschwerend dazukam, dass sich die drei Kätzchen, alle schneeweiß mit rosigen Schnäuzchen und ebensolchen Ohren, die dazu noch durchscheinend waren, äußerst ähnlich sahen.

Bienchen glaubte, eine vorläufige Lösung gefunden zu haben und häkelte in Windeseile – ‚Stricken dauert doch viel zu lange!‘ – drei winzige Katzenpullover in drei verschiedenen Farben, die sie den Tierchen dann aber gar nicht so leicht anziehen konnten. Alle waren sie am nächsten Morgen überrascht, dass Bobette, die Katzenmutter, die drei Pullover den Kleinen wieder ausgezogen hatte – mit der gebotenen Vorsicht offenbar, denn sie lagen unbeschädigt vor dem Nest.

Viktor wog die Kätzchen täglich auf der Briefwaage von Onkel Xaver und trug die Ergebnisse in eine Liste ein. Stolz verkündete er die rapiden Gewichtszunahmen, wobei er allerdings wegen der Verwechselbarkeit Probleme mit der Zuordnung hatte. Onkel Xaver empfahl, von einem Durchschnittsgewicht auszugehen, was aber Viktor noch weniger zufriedenstellte, weil dieses Gewicht dann wahrscheinlich bei keinem der drei Kätzchen wirklich genau zutreffen würde.

Eines Tages fehlte beim morgendlichen Wiegen eines der drei Kätzchen. Viktor durchsuchte den ganzen Weidenkorb und schüttelte vorsichtig sämtliche Tücher und Decken aus. Dann suchten sie alle im ganzen Haus, in allen Räumen, draußen auf dem Hof und mit immer geringer werdender Hoffnung auch in den Scheunen und auf den Speichern. Nummer drei war verschwunden. Am gelassensten blieb Bobette.

Die Kinder aber wandten sich umso liebevoller den beiden verbliebenen Kätzchen zu und zogen mit ihnen, je tüchtiger diese wurden, durch Hof und Garten zu immer neuen Abenteuern.

Dann tauchte in Viktor diese trostlose Szene wieder auf, die er noch immer nicht recht verstand. Sie tauchte ebenso plötzlich auf, wie sie sich damals auf dem Hof abgespielt hatte: Bodo erläuterte gerade den beiden Buben, dass alle junge Katzen Flöhe hätten, dadurch würden sie dazu erzogen, ihr Fell fleißig zu pflegen, und gerade als Ludwig, am Boden kauernd, daraufhin begann, im Fell des einen der beiden noch immer namenlosen Kätzchen nach Flöhen zu suchen, trat Tante Georgette mit starrem Gesicht aus dem Haus und ging mit entschlossenen Schritten auf die kleine Gruppe zu. Dort fasste sie die Kätzchen an den Hinterbeinen und schlug sie, weit ausholend, mit dem Kopf mehrmals gegen das Hauseck.

Bodo blickte zu Boden und schlurfte mit hängenden Schultern davon, Ludwig und Viktor starrten Schorschett für einen Moment mit weit aufgerissenen Augen an, aus den rosaroten Katzennäschen tropfte Blut. Dann rollte sich Ludwig, der noch am Boden hockte, wie ein Igel zusammen, als wollte er am liebsten ganz verschwinden, während Viktor verzweifelt losheulte. Ludwig hätte gewiss auch zu weinen begonnen, was vielleicht besser gewesen wäre für ihn – wer weiß? –, aber daran hinderte ihn ein großes Lob, das er in diesem Augenblick von Schorschett bekam, weil er sich im Gegensatz zu Viktor, diesem Muttersöhnchen, tapfer und wie ein Mann verhalten habe, der jeder Aufgabe gewachsen sei.

Wie in einer stillen Absprache wechselten Viktor und Ludwig danach kein Wort mehr über das Geschehene. Sie gingen sich tagelang aus dem Weg, blickten aneinander vorbei und waren froh, wenn sie nicht allein zusammen waren. Es war, als wollten sie nicht daran erinnert werden, obwohl sie ständig daran dachten. Sie schämten sich voreinander, als hätten sie eine arge Schuld auf sich geladen und seien selbst die Täter gewesen, und jeder wusste vom anderen, dass er mit dabei war.

Noch ahnten sie nicht, wie sehr sie beide beschädigt worden sind. Erst viele Jahre später, sie waren längst erwachsen, wagte Viktor einmal eine Anspielung.

Am Nachmittag war Bienchen vom Feld nach Hause gekommen und hatte gleich damit angefangen, nach den Katzen zu suchen, aber Ludwig hatte sie mit gepresster Stimme beschieden:

„Die hat Tante Georgette weg –“

„– weggegeben“, hatte Viktor ergänzt, ihm fast ins Wort fallend, um die schlimme Botschaft wenigstens zum Teil zu vertuschen.

Irgendwann musste Viktor nach dieser reinigenden Erinnerung an den Bauernhof dann doch eingeschlafen sein. Als er nach dieser halb durchweinten Nacht zum Frühstück erschien, war sein Vater schon weggefahren. –

Milchbrüder, beide

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