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4_Zur Sommerfrische auf dem Bauernhof
ОглавлениеKein Zweifel, Viktor hatte Reisefieber. Er strich am frühen Morgen, während noch alles schlief, durch das Haus, obwohl er doch sonst, jedenfalls seit er zur Schule ging, morgens eher schwer aus dem Bett herauszubringen war. Auch drunten im Souterrain bei Herkommers schien noch alles ruhig zu sein. Ob Ludwig auch schon wach war? Onkel Xaver, der aber gar nicht sein richtiger Onkel war, sondern der Onkel von Ludwig, würde sie nach dem Frühstück abholen und sie in die Sommerfrische auf seinem Bauernhof fahren. Erst war bei Herkommers nur die Rede davon gewesen, dass Ludwig wahrscheinlich die Sommerferien auf dem Land verbringen würde, aber dann hieß es, dass auch Viktor mitreisen sollte. Das sei seiner Entwicklung förderlich, wie sein Vater, der Konsul, meinte, obwohl seine Eltern keinen allzu engen Kontakt zu Ludwig und zur Familie Herkommer wünschten – nicht nur, weil sie um die dauernden Rivalitäten und Spannungen zwischen den beiden Buben wussten.
Auch Bienchen würde mitkommen, das freute Viktor besonders. Sie war von allen Mädchen, die er kannte, das klügste. Etwas älter als Viktor und Ludwig, war sie viel kleiner und zarter als die beiden, meistens still, ja fast schweigsam, oft ängstlich, nie aufgebracht oder zornig, aber immer hilfsbereit und zu allen überaus freundlich. Das Auffällige jedoch war, dass diese kleine Person deshalb nicht nur von allen, auch den Erwachsenen, geliebt wurde, sondern dass sie, die so gar kein Aufheben von sich machte, mit allem, was sie sagte, sofort Gehör fand. Gerade weil sie nur wenig sprach, aber das Wenige mit einer klaren, wenn auch eher leisen Stimme und stets in geordneten Sätzen hervorbrachte, wurde sie beachtet, ja respektiert wie kaum einmal ein Kind diesen Alters. ‚Eine echte Autorität!‘, hatte der Konsul neulich spöttisch, aber gleichwohl anerkennend gesagt, als sich Bienchen nach kurzem Spiel kritisch, aber durchaus besonnen über die Fähigkeiten des Klavierstimmers geäußert hatte. Bienchen war in der Tat ein merkwürdiges, oder besser gesagt, ein bemerkenswertes Kind.
Sollte Ludwig in den Ferien allzu ausgelassen werden oder allzu verwegene Streiche aushecken, dachte Viktor, so würde sie sicherlich auf meiner Seite sein. Sie war für ihn in allem das Gegenstück zu Ludwig. Aber auch dann, wenn sie einmal in einem Streit Ludwig recht gäbe, so nahm er sich vor, würde er sich fügen. –
Für einen Augenblick war Viktor überrascht, als Onkel Xaver mit einer Kutsche ankam, aber eigentlich hätte er sich das denken können. Es war eine sehr elegante Kutsche, deren Verdeck Onkel Xaver in der Morgensonne zurückgeklappt hatte, sodass sie noch leichter und eleganter wirkte. Sie war dunkelbraun lackiert und mit feinen goldenen Zierlinien versehen. Auch die schlanken Speichen der Räder trugen solche Zierlinien, kein Vergleich mit den wuchtigen gelben Eichenholzspeichen bei ihrem Buick, die kraftvoll, aber plump dagegen waren. ‚Chaisenbau Wilhelm Wimpff & Sohn, Stuttgart‘ entdeckte Viktor auf einem gegossenen Bronzeschildchen.
Die Kutsche sei sehr alt, und sie sei wertvoller als manches Auto, sagte Onkel Xaver mit bedeutungsvollem Nicken, heute könne man so etwas gar nicht mehr machen und erst recht nicht bezahlen, und die zarten goldenen Zierlinien, genauso wie die winzigen Blumenbukette an den Ecken und den Enden der Linien, seien alle per Hand mit einem feinen Pinsel gezogen. Rechne man die beiden Pferde noch dazu, dann bekäme man sicher für das gleiche Geld sogar zwei Autos. Etwas kleinere vielleicht. Es waren sehr schöne Pferde, fand Viktor, schlank und mit einem ganz ebenmäßigen, glänzenden Fell, aber so groß hatte er sich die Pferde, die er ja aus seinen Bilderbüchern kannte, doch nicht vorgestellt. Trotzdem wollte Ludwig, anstatt gefälligst neben Onkel Xaver Platz zu nehmen, unbedingt während der Fahrt auf einem der Pferde sitzen, was aber viel zu gefährlich sei, wie Onkel Xaver, sonst ein gutmütiger Kinderfreund, fast barsch erklärte.
Zur Abfahrt waren dann alle, das Kindermädchen und Ludwigs Eltern, aber auch das Zimmermädchen und sogar die Köchin, an den Wagen gekommen. Der Konsul war nicht erschienen, aber Viktor sah oben seine Mutter hinter einem Fenster stehen. Als die Pferde anzogen, ging ein großes Winken los, und nur Bienchen, die wie eine kleine Prinzessin hinten in den Polstern versunken war, grämte sich, weil man da viel tiefer saß als vorne auf dem Bock und sie wegen des hohen zurückgeklappten Verdecks nicht nach hinten hinauswinken konnte.
„Die stinken aber!“, raunte Ludwig mit dem Blick auf die Pferde Viktor ins Ohr, und dieser, obwohl er noch nichts wusste vom vielfältigen Duft des Abenteuers und der Ferne, sog mit erhobener Nase die Luft ein, schüttelte den Kopf und sagte nur streng: „Sie duften.“
Er war verzaubert von der Leichtigkeit dieses Fahrens, vom Dahingleiten des kommod gefederten Wagens, den die Pferde gar nicht zu spüren schienen, und er lauschte auf das Klackern der Hufe und das Geräusch der Räder, die ihm jede Veränderung im Straßenbelag mitteilten. So mächtig hatte er sich die Pferde wirklich nicht vorgestellt! Umso erstaunlicher, wie sie, fast schwerelos, über der Straße schwebten – es sah aus, als hingen ihre schlanken Beine nur locker vom Rumpf herab und als verwendeten sie ihre Hufe nur dazu, den Takt ihres Trabs klack-klack, klack-klack, klack-klack auf das Pflaster zu wirbeln.
Im munteren Trab, der auch den Pferden am meisten Freude zu machen schien, war Viktor am glücklichsten. Er spürte, dass der Takt der Hufe ein ganz bestimmtes Tempo haben musste, wenn es wirklich mühelos und flüssig vorangehen sollte, nicht schneller, aber auch keinesfalls langsamer, und es erstaunte ihn, dass es den Pferden gelang, auch über eine weite Strecke hinweg diesen Takt unverändert einzuhalten. Ob das wirklicher Gleichschritt war? Viktor versuchte, diesen schnellen Hufschlag mit den Fingern auf dem Polster mitzutrommeln, vergeblich, es waren acht Hufe, die da über das Pflaster klackerten.
Wenn die Pferde doch einmal aus dem Takt fielen, dann, so schien es Viktor, blickte Imi kurz zu Persil hinüber, mindestens glaubte Viktor zu erkennen, wie sie ihren Kopf bewegte, und Augenblicke später waren sie wieder beisammen, und die Ordnung, die alles so wunderbar trug, hatte sich wieder eingestellt. Ihr Zusammenspiel beschäftigte Viktor lange; es konnte nicht anders sein, als dass sie sich, auch im wildesten Prasseln der Hufe, nach einander richteten.
„Wenn ich mir das so anschaue“, sagte Viktor bei einem kurzen Zwischenhalt zu Ludwig, „dann ziehen die Pferde gar nicht, sondern sie drücken eigentlich eher. Natürlich ziehen sie den Wagen, das ist schon richtig, aber sie machen das durch Drücken. Sie drücken mit der Brust, siehst du, hier –“, wobei er auf das Brustblattgeschirr vorn deutete. Ludwig interessierte das aber nicht weiter, obwohl er ebenfalls das ganze Geschehen um die Pferde aufmerksam verfolgte. Auf der Weiterfahrt stieß er Viktor kurz an und machte in Richtung der Pferde eine Kopfbewegung, wie er das immer machte, wenn er auf etwas hinweisen wollte. Viktor sah nichts oder nur, dass Persil begann, den Schwanz zu heben, aber Ludwig schaute gespannt hin und lachte, als dann die Pferdeäpfel, einer nach dem anderen, auf die Straße fielen. Viktor wollte wegschauen. Es war ihm peinlich, mit Ludwig zusammen Persil bei seinem Geschäft zugesehen zu haben, und es störte ihn, dass ihn Ludwig sogar noch darauf aufmerksam gemacht hatte. Er blickte scheu nach hinten zu Bienchen, Bienchen aber schaute zufrieden in die vorbeiziehende Landschaft hinaus. –
Das Vergnügen der drei auf dem Bauernhof war ohne Ende. Neue Abenteuer jeden Tag. Onkel Xaver spannte die Kinder geschickt ein; haben sie erst einmal Langweile, wusste er, dann ist auch das Heimweh bald da.
Immer wieder Neues bei der Erkundung des Hofes. Die Buben waren schreibfaul, doch Bienchen schrieb begeisterte Berichte nach Hause: über die lustigen jungen Schweine hinter der Scheuer; über das Pumpwerk am Bach, das alle Gebäude des Hofes mit Wasser versorgte; über das Backhäuschen, in dem am Samstag richtiges Brot gebacken wurde! Sie berichtete aber auch getreulich über die düstere Schmiede, obwohl die ihr unheimlich war, und über das Beschlagen der Pferde und die rotglühenden Hufeisen in der Esse, die es vor allem den Jungs angetan hatte, wahrscheinlich, weil sie das Gebläse betätigen durften, während sie selbst den Gestank des verbrannten Horns der Hufe entsetzlich fand. Und dann erst die Pferdekoppel, die Pferdekoppel, ihr helles Entzücken!
Am Abend nach dem Duschen, was stets unter der Aufsicht von Tante Georgette geschah, bekamen sie, kaum abgetrocknet, ganz kleine Augen und versanken in den tiefen Betten, und nichts mehr war von ihnen zu hören.
Onkel Xaver strahlte schon am Morgen beim Frühstück und wann immer er die Drei sah und war glücklich, dass da Kinder auf dem Hof waren – wissbegierige und hilfsbereite Kinder, fleißig und vergnügt. Wie schön das war und wie zufrieden es ihn stimmte, wenn er sie zu einer einfachen Arbeit anleiten konnte, Schritt für Schritt! Und wie ernsthaft und umsichtig die Kinder dann die Arbeit aufnahmen und wie erfüllt sie waren, wenn sie zu einem guten Ende gebracht war. Tante Georgette dagegen machte am liebsten alles selbst und gab allenfalls mal leise ihre Befehle, oft eher missmutig und immer sehr streng.
Später, als sie wieder zu Hause waren, wunderte sich Viktor, dass er nur noch eine arg durchlöcherte Erinnerung an diese Wochen auf dem Bauernhof hatte, und darüber wunderte er sich noch viele Jahre lang, weil er das sonst gar nicht kannte. Aber nicht nur durchlöchert war das Band, sondern schlimmer noch, es war in Stücke gerissen und ganze Teile fehlten, und so fand er oft gar keinen rechten Zusammenhang mehr. Einige Inseln aber waren unversehrt erhalten geblieben. So konnte er sich noch als erwachsener Mann an dieses ebenmäßige Gesicht von Tante Georgette erinnern, in dem sich so wenig widerspiegelte, und es schien ihm dabei manchmal, als würde es allmählich immer edlere Züge gewinnen und dabei immer mehr zum entrückten Gesicht eines Todesengels werden. Weil es streng war, war es schön, aber Viktor fürchtete sich vor dieser abweisenden Schönheit. Wenn Onkel Xaver bei Tisch seine Späße machte und alles lachte, blieb Tante Georgettes Gesicht unbewegt. Sie sah höchstens zu Onkel Xaver hin, nicht einmal ärgerlich oder vorwurfsvoll, aber ohne auch nur den Hauch eines Lächelns im Gesicht. Georgette war nicht glücklich mit Xaver und Xaver nicht glücklich mit Georgette.
Viktor spürte es schon bald, Schorschett beherrschte alle in Haus und Hof, selbst Onkel Xaver hatte sich da zu fügen, auch wenn er sich manchmal sträubte. Tante Georgette war eine starke Frau. Aber seine Mutter, dessen war er sich gewiss, war doch sicherlich auch eine starke Frau, aber beherrschen wollte sie niemanden. Sie führte ein großes Haus mit viel Personal und immer wieder neuen Gästen, und darin ging sie wie selbstverständlich auf, und sein Vater behandelte sie stets sehr höflich und mit freundlichem Respekt und hörte auf ihren Rat.
Als sie vergangenes Jahr im Herbst das Kloster besuchten, war ihm mit großer Plötzlichkeit etwas klar geworden, was er zu Hause nicht hatte lernen können und was ihm auch in anderen Familien gewöhnlich verborgen geblieben war, wie sehr sich Frauen nämlich doch zu fügen und unterzuordnen hatten. Er hätte nie gedacht, dass es zwischen Mann und Frau derartige Unterschiede in Rang, Bedeutung und Ansehen geben könnte.
Sein Vater hatte mit dem Abt eine private Führung vereinbart, nur für seine Frau, seinen Sohn und ihn selbst. Ihr Führer, ein gelehrter Pater, der sich als höchst sachkundig erwiesen hatte, war ihnen im Klosterhof entgegengekommen, und Herkommer, der schon ausgestiegen war, hatte sofort erkannt, dass da besondere Höflichkeit angebracht war, und hatte, als der Pater auf den Wagen zuging, stramm gegrüßt, die gestreckte rechte Hand mit den Fingerspitzen am Schild seiner Chauffeurmütze.
Der Pater hatte ihnen dann mit großem Engagement die Geschichte des Klosters anhand der Bauten erklärt und vor allem die Kunstschätze im Magazin gezeigt, wovon Viktor freilich nur das Wenigste verstanden hatte.
In einem Raum aber war sein Interesse erwacht, dort war ein ganzer Korb mit dem Geld aus den Klingelbeuteln und Opferstöcken gestanden – große und kleine Münzen, neue und abgegriffene, gültige und fremdländische, Spielgeld und Falschgeld, und auch ein paar Hosenknöpfe und Garderobemarken waren darunter. Ein Frater hatte mit einem ratternden Apparat die Münzen sortiert und gezählt, die dann automatisch in wohlgeordnete Rollen verschiedener Dicke zusammengestellt und in blaues Papier eingeschlagen wurden. Da war Viktor ihre festliche Silvestertafel zu Hause in den Sinn gekommen. An jedem Platz war eine kleine Süßigkeit gelegen, und an seinem war das ein Schokolademännchen in tiefer Hocke gewesen, aus dessen rosigem Hinterteil eine Münze hervorgetreten ist. So etwas Ähnliches musste sein Vater gemeint haben, als er neulich auf dem Jahrmarkt, um die Begehrlichkeit des Söhnchen zu dämpfen, lachend geschimpft hatte, ob Viktor denn wohl dächte, dass er ein Geldscheißerle besäße. Viktor blickte auf die Öffnung der Maschine, aus der sich die sortierten Münzen, zu festen Rollen zusammengepackt, in beachtlichem Tempo herausschoben.
Während der Pater immer noch referierte, über das durchschnittliche Spendenaufkommen, die Spendenverwendung und überhaupt über die wechselhafte ökonomische Entwicklung des Klosters in den letzten Jahrhunderten, war Viktor mit dem Mund ganz nah an das Ohr seiner Mutter herangekommen und hatte sie voller Erstaunen leise gefragt:
„Mama, ist das ein Geldscheißerle?“
„Pst!“, hatte da seine Mutter bloß gesagt, und im gleichen Augenblick hatte der Pater, der mit seinen wirtschaftlichen Erörterungen am Ende war, mit entschlossenem Blick zu ihnen hergeschaut und in strengem Ton gesagt:
„Ich muss Sie bitten, gnädige Frau, ich muss Sie nun leider bitten, hier zurückzubleiben. Nur Ihr Herr Gemahl und Ihr Sohn werden mir jetzt folgen, Frauen dürfen die nun folgenden Gebäudeteile nicht betreten. Wir werden Sie nachher hier wieder aufnehmen.“
Viktor hatte im ersten Augenblicke befürchtet, der plötzliche Zuruf sei eine Rüge wegen des Tuschelns mit seiner Mutter, der Pater hatte ja so streng zu ihnen her geblickt, aber nein: Frauen durften nicht weiter mit hinein ins Kloster!
Tante Georgette hätte damals wahrscheinlich auch zurückbleiben müssen, wenn sie dabei gewesen wäre, dachte Viktor im Rückblick, ja, bestimmt hätte sie zurückbleiben müssen! Aber sie hätte aufbegehrt, mindestens im Stillen, und gewiss dabei nicht so verständnisvoll gelächelt wie seine Mutter eben.
Viktor war damals im Kloster sehr stolz gewesen, dass er, er als Mann, der er im Grunde genommen doch schon war, hatte mitkommen dürfen. Aber für seine Mutter hatte es ihm leidgetan, wohingegen man Schorschett, wäre sie dabei gewesen, eigentlich mit vollem Recht zurückgehalten hätte. Dann wäre zu seinem Stolz noch der Triumph gekommen.
Der Konsul hatte mit einer freundlichen Gebärde gespielter Hilflosigkeit seiner Frau eine tröstende Bemerkung zugerufen, sich verabschiedend zu ihr hin verbeugt und sich dann seinem Sohn zugewandt.
„So, Viktor, jetzt sind wir beide an der Reihe!“
Tatsächlich, so war Viktor aufgefallen, ‚wir beide‘ hatte sein Vater gesagt! Per ‚wir‘ hatte er bisher noch nie gesprochen. ‚Wir Männer‘ sollte das heißen. –
„Viktor, du kannst ja schon mal den Bulldog warmlaufen lassen“, sagte Onkel Xaver ganz beiläufig. Viktor war außer sich vor Freude und stürmte davon. Er sollte diesen gewaltigen Lanz-Bulldog warmlaufen lassen! Und das heißt doch wohl auch, dass er ihn anwerfen sollte! Das war die ganzen Tage schon, da sie Onkel Xaver beim Pflügen helfen durften, sein größter Wunsch gewesen, so unerfüllbar er ihm auch erschienen war.
Ich werde zuerst die Lötlampe holen müssen, um den Glühkopf anzuheizen, plante Viktor im Laufen, und ich muss schauen, dass ich zu Streichhölzern komme, ohne dass mich Tante Georgette erwischt. Aber da lief ihm schon Bodo, der Knecht, mit der fauchenden Lötlampe in den Weg und hängte sie am Bulldog vorne unter dem Zylinderkopf ein.
Jetzt würde man warten müssen, bis der Glühkopf rot glühte – oh, Viktor hatte genau aufgepasst! –, und inzwischen würde er das Lenkrad abnehmen, eine Klappe an der Schwungradverkleidung seitlich an der Kurbelwelle öffnen und dort zum Anwerfen die Lenkradachse hineinstecken.
Ludwig, der sich ärgerte, dass Viktor den Bulldog anwerfen sollte, wo er doch der viel Stärkere war, drehte dann nur einmal probeweise am eingesteckten Lenkrad, spürte dabei die unerbittlich anwachsende Kompression und schüttelte mit der Miene eines Sachverständigen den Kopf.
„Den kriegst du nie an“, sagte er finster, „wetten? Ich glaube, der Onkel Xaver will uns reinlegen!“
Aber Viktor sagte nur: „Wart’s ab!“, denn er war sich seiner Sache sicher. Besaß er doch, statt einer Spielzeugdampfmaschine, einen Zweitaktmotor, einen ‚echten‘ Motor, wie er stets betonte, den er allerdings nicht allein laufen lassen durfte, das sei bei einem Explosionsmotor, wie sein Vater sagte, viel zu gefährlich, wenn es auch nur ein kleiner DKW sei, was in diesem Fall die Abkürzung für ‚Des Knaben Wunsch‘ war. Durch eben diesen kleinen Motor und das Anleitungsheft mit der Lehrtafel, das dabei war, wusste er ziemlich genau, wie ein Zweitakter funktioniert, und der mächtige Bulldogmotor, zehnmal so groß und hundertmal so schwer, war ja auch ein Zweitakter.
Inzwischen waren, vom Fauchen der Lötlampe angelockt, andere Buben vom Hof dazugestoßen, auch Bienchen kam vorbei und nickte ihm freundlich zu, ging aber weiter. Es wäre ihm schon arg recht gewesen, wenn Bienchen bei ihnen stehen geblieben wäre bis nachher, wenn der Bulldog dann donnernd anspringen würde.
Wir hätten Bienchen beim Frühstück nicht so hänseln sollen, dachte Viktor, dann hätte sie jetzt gewiss bei ihnen Halt gemacht. Obwohl es ja hauptsächlich Ludwig gewesen war, der Bienchen aufgezogen hatte. Aber Ludwig hatte mein Bienenbuch für seine frechen Neckereien verwendet, und eigentlich, gestand sich Viktor ein, war es ja ich, der mit diesem Ulk angefangen hat.
„Bienchen“, hatte er zu ihr gesagt, „du musst noch schneller werden, ein richtiges Bienchen schafft einen Kilometer in zwei Minuten, steht hier, stell dir das vor!“
Da hatte auch das zarte Bienchen noch gekichert, aber dann hatte Ludwig Gefallen an Viktors Spiel gefunden, Bienchen mit richtigen Bienen zu vergleichen, doch bei ihm ist aus dem Necken schon bald ein Quälen geworden.
„Nimm nicht so viel Honig, Bienle! Das auf deinem Brötchen ist mindestens ein ganzer Kaffeelöffel voll! Dafür muss eine richtige Biene Hunderte und Tausende von Flügen machen. Und das ganze Honigglas hier – da schaffen gut und gerne tausend Bienen ihr ganzes Leben daran! Und du frisst es gerade so weg!“
Bienchen hatte ihn mit großen Augen angeschaut und dabei langsamer gekaut und aufgehört zu schlucken. Aber Ludwig hatte ungerührt weitergemacht.
„Zehn Bienen wiegen noch nicht einmal ein Gramm. Bienle – du bist zu fett!“
Und schließlich hatte er in einer Art strenger Gelehrsamkeit noch obendrauf gesetzt: „Eine Arbeitsbiene hat sich im Sommer nach höchstens vier Wochen zu Tode gerackert, steht da. Also hast du bei dieser Plackerei hier auf dem Hof – wie lange sind wir schon da, Viktor, acht Tage? – allerhöchstens noch drei Wochen!“
Bevor Bienchen hinten im Hof bei den Gänsen verschwand, sah sie noch einmal zu ihm her. Selbst der athletische Onkel Xaver hatte den Bulldog nie mit einem einzigen Ruck angeworfen, sondern drehte das eingesteckte Lenkrad immer wieder vor und zurück, vor und zurück. Das hatte Viktor, der beim Anwerfen stets gespannt zugeschaut hatte, genau beobachtet, und so würde er es jetzt auch machen. Er spürte, wie der Kolben im Zylinder gegen das Luftpolster lief, aber da durfte man nun, wenn der Schwung verbraucht war, nicht versuchen weiterzudrehen, sondern musste den Kolben abprallen lassen, sodass das Lenkrad rückwärts lief bis zur anderen Seite. Und dort ließ man den Kolben wieder abprallen, auf das erste Luftpolster zu. Man musste die Bewegung nur genügend unterstützen, das hat er bei Onkel Xaver gesehen, und wenn bei Onkel Xaver der Kolben vielleicht fünf oder sechs solcher immer schneller werdenden Bewegungen hin und her benötigte, so würden es bei ihm vielleicht zehn oder zwölf oder noch mehr sein. Aber das spielte keine Rolle, irgendwann würde der Kolben auch bei ihm genügend Schwung haben, um das Luftpolster so zusammenzupressen, dass er über den Totpunkt hinwegkam, und das bedeutete die erste Zündung!
Und so war es dann auch. Mit einer Serie rasch schneller werdender Donnerschläge sprang der Bulldog an, mit jedem Schlag aus seinem Schornstein eine präzis geformte Rauchwolke in den Himmel puffend, während Viktor schleunigst das Gas zurücknahm. Im gleichen Augenblick kam Onkel Xaver, der gewiss alles beobachtet hatte, vergnügt lachend aus der Werkstatt herausgelaufen, und sogar Ludwig strahlte. –
Am Morgen des Abreisetages wurde Viktor in aller Frühe von einem seltsamen Geräusch draußen geweckt, und es dauerte ein paar Augenblicke, bis ihm klar wurde, dass das nur Onkel Xaver mit seinem Jagdhorn sein konnte. Der blies alle möglichen aufmunternden Signale aus der Jägerei und auch selbsterfundene, die man daran erkennen konnte, dass sie sich wiederholten und sich dabei rasch weiter verbesserten. Es war beachtlich, welche Vielfalt an Melodien er mit den wenigen Tönen seines Instruments zustande brachte. Viktor schaute aus dem Fenster, aber da sah die Welt gleich nicht mehr so fröhlich aus. Alles war düster und grau, der Tag kam nur mühsam auf die Beine, es regnete und regnete, der Hof war voller großer Pfützen, und es roch völlig anders als all die Tage – der erste Regentag seit Wochen.
Als sie zum Frühstück runterkamen, blies Onkel Xaver noch immer, und Schorschett stöhnte: „Das Getute macht mich noch verrückt!“
Dann riss sie das Fenster auf und rief auf den Hof hinaus:
„Jetzt hör endlich mit deinem Gedudel auf, Xaver! Und komm zum Frühstück!“
Tante Georgette blickte streng drein wie immer, ihr Blick kam Viktor richtig vorwurfsvoll vor, so als ob die Drei ja selbst schuld daran seien, dass sie jetzt wieder nach Hause fahren mussten. Die strenge Miene bedrückte Viktor, und auch Bienchen, zu dem er hinübersah, schien ihm noch stiller als sonst; vielleicht aber war sie auch nur betrübt darüber, dass nun die Ferien zu Ende gingen. Ludwig dagegen machte das alles nichts aus, er schwätzte laut und aß munter drauflos.
Beim Einsteigen hatte Onkel Xaver, der mit einem Regenhut und einem Umhang vorne allein auf dem Bock saß, noch einmal ‚Sammeln!‘ geblasen, ‚Sammeln!‘, aber Schorschett hat ihn nur kurz angeblickt, und er steckte sein Horn wieder weg. Dann ging es los, die Bäuerin winkte ihnen noch ein paar Mal nach, aber nur matt, wie es Viktor schien, wohingegen Ludwig aus dem heruntergelassenen Fenster mit beiden Armen wie verrückt zurückwinkte und gar nicht mehr aufhören wollte damit. Viktor fand das ‚einfach unpassend‘, wie das Kindermädchen zu Hause alles Übertriebene zu nennen pflegte, obwohl er im Augenblick gar keinen Grund zu nennen wusste, wieso er Ludwigs Winken – doch nichts anderes wieder als eine typische Ludwig-Albernheit! – derart unangebracht fand.
In der Kutsche war es dunkel und es tropfte herein. Draußen stimmte Onkel Xaver ein Kutscherlied an. Bienchen merkte, wie sehr er sich bemühte, Frohsinn zu verbreiten, und sie spürte auch, als er allmählich leiser wurde und schließlich ganz verstummte, wie verzweifelt er war.
Keiner sprach mehr. Der Regen prasselte auf das Verdeck. Im Dunkel der Kutsche, die sanft dahinschaukelte, ließ sich gut träumen. Bienchen schien zu schlafen. Dann fiel Viktor plötzlich die Geschichte mit dem Marmeladebrot neulich ein – auch wieder so etwas mit Tante Georgette, was er gänzlich vergessen hatte! Jetzt wusste er auf einmal wieder, warum er vorhin Ludwigs Winken so übertrieben fand. Jeden Morgen nämlich hatte es zum Frühstück Marmeladebrot gegeben, wie Bienchen und er das nannten, während Tante Georgette von Musbrot sprach und Ludwig Musebrot dazu sagte; so hatte er es auch zu Hause drunten bei Herkommers gehört. Damit ist jedes Mal das Gleiche gemeint, aber bei Herkommers hatte er damals noch geglaubt, Musebrot bezöge sich irgendwie auf den Teig des Brotes, denn der enthielt, wie er später herausfand, Kümmel, und deshalb schmeckte das Brot bei Herkommers ganz anders als das Brot bei ihnen. Das war seine erste Erfahrung mit andrer Leuts Küche gewesen. Mit dem Brot hatte es angefangen, aber bei Herkommers schmeckte alles anders, roch anders, fühlte sich anders an. Und nun war auf dem Bauernhof noch einmal etwas Neues dazugekommen: In Tante Georgettes Brot war Anis, was er nur von Bonbons kannte. Da war wieder eine ganz andere Küchenwelt entstanden, und obwohl ihnen das Brot schmeckte, so hatten sie sich alle drei doch erst daran gewöhnen müssen, und freilich nicht nur an das Brot.
Ob Kümmel oder Anis, jedenfalls hatten sie beim Frühstücken wie immer ihre Brotscheiben Tante Georgette entgegengestreckt, denn um ein allzu großes Geklecker und Geschmiere zu vermeiden, wurden stets alle Brote von Tante Georgette mit Marmelade bestrichen. Neulich aber – und das war es! – hatte der schlaue Ludwig, der als Erster an die Reihe gekommen war, sein Brot anschließend umgedreht und dann als Letzter noch einmal die Unterseite zum Bestreichen hingehalten. Schorschett hatte das erst bemerkt, als sie zum besseren Verstreichen die Brotscheibe mit der freien Hand von unten etwas abstützen wollte. Ganz gegen ihre stille Art war sie sehr zornig geworden, fast wütend, und hat fürchterlich auf Ludwig eingeschimpft. Und als sie sich nach ein paar Sätzen genügend in Rage geredet und die Marmelade von den Fingern abgewischt hatte, haute sie ihm sogar noch ein paar Mal kräftig hinter die Löffel. Noch lauter als Schorschett hatte Ludwig geschrien, wahrscheinlich deshalb so laut, weil er sich doch arg ungerecht behandelt fühlte, denn das war ja nicht aus einer Art betrügerischer Verfressenheit heraus geschehen, zu der er allerdings manchmal neigte, sondern er hatte eigentlich nur eines seiner übermütigen Späßchen machen wollen.
Ob Ludwig vorhin vielleicht gerade deshalb so heftig zurückgewinkt hat, weil er von Schorschett so derb verhauen worden war? Oder ob das mit den Katzen zu tun hat? – Mit den Katzen? Mit welchen Katzen, um Himmels willen? – Er konnte sich nicht mehr erinnern, aber er fühlte, dass da noch etwas ganz Wichtiges gewesen war. Dann schlief er ein. Er träumte, es stecke ihm etwas im Hals, etwas viel zu Großes, das er weder hinauswürgen noch herunterschlucken konnte. –
Nachdem sie, zu Hause angekommen, ihr Gepäck unter dem Beistand von Onkel Xaver vom hohen Wagen abgeladen hatten, war Ludwig augenblicklich und ohne sich von Onkel Xaver recht zu verabschieden im Souterrain hinten verschwunden, wo Herkommers wohnten. Viktor läutete oben am Besuchereingang, aber da eine ganze Weile nichts geschah, setzte sich Bienchen mit einem leisen Seufzer auf ihren Koffer, und während sie noch immer warteten, dass sie jemand hineinlasse und in Empfang nähme, genau in diesem Augenblick, da die Ferien auf dem Lande endgültig vorüber waren, aber das städtische Leben zu Hause noch nicht wieder begonnen hatte, sagte Bienchen: „Weißt du, Viktor, was so schön war? Es war alles so beisammen. Alles wie unter einem großen Dach! Spielen und arbeiten – und wir haben immer fleißig mitgeholfen! Kaputtmachen und reparieren – weißt du noch, wie dem Ludwig die Gabel von Bodos Fahrrad abgebrochen ist und Onkel Xaver alles wieder selbst zusammengeschweißt hat – wie neu? Alles selber machen und dann selber aufbrauchen. Man musste gar nicht erst den weiten Weg zum Dorf zu machen, um irgendwas zu beschaffen, und man wollte es auch gar nicht. Es gab ja alles, was man brauchte, und wenn doch einmal etwas fehlte, konnte man es sich selber machen.“
Und nach einem tiefen Atemzug fügte sie hinzu: „Damit ist es jetzt wieder vorbei, Viktor, schade. Hier zu Hause ist dagegen alles so – wie soll ich sagen – so unübersichtlich.“ –