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4_Viktors Rückkehr aus dem Internat_Sabine Strauss, eine vielversprechende Geigerin

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Viktor hatte sich im Dorf ein paar feste Waschmittelkartons besorgt, die letzten, wie er hörte. Da herrsche jedes Jahr nach dem Abitur, wenn die Oberprimaner endgültig ihre Zelte abbrachen, großer Mangel. Wenn er an sein bescheidenes Bündel dachte, mit dem er vor Jahren hier eingerückt war – nun, ein bescheidenes Bündel, das schien ihm vielleicht etwas übertrieben, ein ordentlicher Koffer war es schon –, dann sollte man nicht für möglich halten, was da inzwischen an kleinen Besitztümern alles zusammengekommen war, vor allem Bücher.

Viktor fühlte sich verlassen, wie er so zusammenpackte, und als er schließlich seine Bilder abgehängt und zum Schluss auch noch das Bett abgezogen hatte, sah das Zimmer wieder ebenso trostlos aus, wie es bei seinem Einzug gewesen war. Später kam dann Dieter Pilgrim in das Durcheinander, er wolle sich unbedingt noch von ihm verabschieden. Darüber freute sich Viktor besonders, er wusste ja (und war sich eben doch nie sicher), dass Pilgrim ihn mochte.

„Wir sehen uns bestimmt wieder, Viktor! Spätestens bei einem Klassentreffen“, versicherte Pilgrim. Als sein Blick, im Hinausgehen schon, auf einen der offenen Bücherkartons fiel, deutete er beiläufig auf eines der Bücher.

„Das würde ich hier nicht offen so herumliegen lassen“, es war das Puppenbuch von Kasimir Edschmid, „das war bei der Bücherverbrennung auch mit dabei.“

„Menschenskind, und ich hätte es gestern beinahe mit aussortiert! Aber jetzt, wo du mir das sagst, Dieter, bleibt es drin“, sagte Viktor und schob es weiter nach unten. „Aber eigentlich ist es doch harmlos, nicht?“

„Aber der Edschmid nicht!“

„Vorhin war der dicke Fitwin da, um auf Wiedersehen zu sagen. Ich glaube, das ist einer von diesen HJ-Schülern? Ob er das Buch gesehen hat?“, lächelte Viktor unsicher.

„Gesehen hat er es vielleicht schon, aber geschaltet hat er nicht, da ist er nicht hell genug im Koppe, keine Angst, und was unternehmen könnte er erst recht nicht. – Mach’s gut, altes Haus!“

Viktor hätte sich, wie die anderen alle, freuen sollen, aber jetzt, da alles Persönliche ausgeräumt war, fürchtete er sich fast ein wenig vor den kommenden Wochen draußen, das ist alles so furchtbar turbulent und unübersichtlich geworden, auch was da in der Politik geschieht. Zu Hause, ohne seine Mutter dort, hatte er schon lange kein rechtes Refugium mehr, das war ihm in den letzten Jahren mit jedem Ferienbeginn deutlicher geworden, und nur zu gern war er am Ferienende wieder ins Internat zurückgefahren. Pilgrim und noch ein paar andere, die sprachen wie die Bergsteiger immer von ihrem ‚Basislager‘, wenn von ihrem Zimmer daheim und ihrem Elternhaus die Rede war, doch sein Basislager war hier, aber das hatte er soeben aufgelöst, und dahin würde es nun keine Rückkehr mehr geben. –

Viktor fuhr mit dem Zug nach Hause, die vielen Gepäckstücke hatte er aufgegeben. Er wollte seinen Vater überraschen; hätte er seine Ankunft mitgeteilt, so hätte sein Vater gewiss darauf bestanden, ihn wegen seines ganzen Hausstandes, wie er das einmal spöttisch genannt hatte, vom alten Herkommer mit dem Auto in Stefansfeld abholen zu lassen oder ihn womöglich selbst abzuholen. Solche Besuche, egal ob von Herkommer auf einer seiner gelegentlichen Kurierfahrten nach Zürich, wenn er ihm von zu Hause etwas hatte vorbeibringen sollen, oder gar Besuche von seinem Vater selbst waren Viktor immer peinlich gewesen. Einmal hatte er das seinem Vater sogar zu erklären versucht, was nicht einfach war; da fiele man nur auf, bei den Schulkameraden, bei den Lehrern und den Mentoren. Viktor wollte stets möglichst ‚fugenfrei‘, wie er es nannte, eingegliedert bleiben, und das hieß bei ihm zwar nicht gerade, unsichtbar zu sein, aber doch auf keinen Fall in irgendeiner Weise an irgendeiner Stelle als etwas Besonderes aufzufallen.

Zu Hause angekommen lief ihm als Erster der Chauffeur Herkommer über den Weg. Der gratulierte ihm zum bestandenen Abitur herzlich und fast begeistert und ohne die geringsten Vorbehalte gegenüber höherer Bildung, wie er sie bei seinem Sohn Ludwig stets geäußert hatte, und Viktor sagte ein paar mitfühlende Worte zum frühen Tod von Herkommers Frau im vergangenen Jahr – so lange hatte er Herkommer nicht mehr gesehen. Viktor war wirklich traurig, Frau Herkommer, gewiss nur eine einfache Frau, hatte dem ganzen großen Haus nach dem plötzlichen Verschwinden seiner Mutter einen gewissen Halt gegeben, und sie hatte ihm, den sie besonders ins Herz geschlossen hatte, immer wieder einmal per Post, mit unbeholfener Schrift, eine ihrer selbstgemachten Köstlichkeiten ins Internat geschickt, was ihn manchmal fast zu Tränen gerührt hatte; und schließlich, nicht zu vergessen, musste sie doch wohl, obgleich man nicht darüber sprach, anstelle seiner Mutter seine Amme gewesen sein, denn sonst wäre ja Ludwig nicht sein Milchbruder.

Herkommer brachte ihn, als ob er ein Fremder sei, nach oben zu seinem Vater, der momentan etwas erkrankt sei, und erklärte ihm auf dem Weg dahin, anstatt ihm Näheres über den Zustand seines Vaters zu sagen, dass es in Deutschland unglaublich aufwärts gehe – in Deutschland, sagte er, als ob Viktor all die Jahre im Ausland zugebracht hätte.

Sein Vater lag im Morgenrock auf dem Sofa, hustete fürchterlich, als er ihn sah, und konnte sich nur mit Mühe aufsetzen.

„Hätte dich doch abholen lassen, Viktor!“ krächzte der Konsul, der sich zu freuen schien, „kleine Erkältung, nichts weiter Schlimmes. Ich dachte, du kämest erst nächste Woche und würdest dich schon noch melden.“

„Ich wollte keine Umstände machen, Vater“, antwortete Viktor ein wenig steif, „und ich wollte dich überraschen!“

„Das ist dir gelungen“, lachte der Konsul und musste schon wieder husten und fuhr schließlich fort, „ich warte auf Dr. Fellgiebel. Der war zu deiner Zeit noch nicht zugange hier. Ein tüchtiger Arzt.“

„Fellgiebel? Fellgiebel – da gab es einen Schüler bei uns, bei den Kleinen, der hieß so. Ich kann mich nur an den Namen erinnern, ich kannte ihn nicht, ich glaube, er war sogar hier aus der Gegend.“

„Ja, ich bin ganz sicher, das muss Dr. Fellgiebels Sohn sein, Jan mit Vornamen. Wenn ich es richtig weiß, hat er diesen Jan adoptiert. Ich kann ihn nachher ja mal vorsichtig nach Jan fragen.“

Dr. Fellgiebel war dann gar nicht zufrieden gewesen mit dem Zustand des Konsuls und perkutierte ihn minutenlang, während Viktor unschlüssig an der Tür stand. Man mochte kaum glauben, dass ein menschlicher Körper so viel an Resonanz hergeben kann, das fiel selbst Viktor als medizinischem Laien auf, und dass sich offenbar klangliche Unterschiede erkennen lassen. Danach, während sein Patient skeptisch dreinschaute, verkündete Dr. Fellgiebel streng und sachlich das Ergebnis, erteilte fast im Befehlston seine Anweisungen, verschrieb noch ein paar Arzneien und verabschiedete sich schon bald wieder. Die Frage nach dem kleinen Jan hatte sein Vater vergessen.

„Ich glaube, ihr Sohn Jan – ist vielleicht Ihr Sohn Jan ein Schulkamerad von mir gewesen?“, fragte Viktor etwas schüchtern, als er Dr. Fellgiebel nach unten brachte.

„Ja, richtig!“, dröhnte Dr. Fellgiebel doppelt so laut zurück, „Jan kennt Sie sogar! Er hat mir von Ihnen erzählt! Aber, mein Lieber, das war schon immer so, dass die Sextaner eher irgendwelche aus der Oberprima kennen als umgekehrt.“

„Haben Sie denn noch mehr Kinder, Herr Doktor?“, wollte Viktor noch wissen.

„Oh ja, wir haben einen Haufen Kinder – eigene und mitgebrachte, zugeteilte und zugelaufene, ausgeliehene –“, und dann zögerte er für einen Augenblick, „und angenommene.“

Das war eine dieser Übertreibungen Fellgiebels, die ihm selbst am meisten Spaß machten; dabei hatte er überhaupt nur drei Kinder, davon war eines von seiner Frau in die Ehe mitgebracht worden und eines hatte er vor noch nicht allzu langer Zeit adoptiert.

Unten an der Haustür sagte er dann noch: „Ich habe noch einige Hausbesuche zu machen, aber morgen, wenn ich gegen Abend wieder nach Ihrem Herrn Vater sehe, dann erzähle ich Ihnen die Geschichte von Jans Adoption.“ –

Ich sollte erst einmal ein paar alte Freunde von früher aufsuchen, überlegte sich Viktor am nächsten Morgen, was sich jedoch als gar nicht so einfach erwies, denn entweder waren sie fortgezogen, wie er gleich bei zweien hören musste, oder sie waren weg zur Arbeit oder waren überhaupt nicht mehr aufzufinden – er ist einfach zu lange fort gewesen von zu Hause. Dann erst war ihm Bienchen in den Sinn gekommen, was ihn für einen Augenblick glücklich machte. Aber er fand es seltsam, dass ihm Bienchen, wo Straussens doch so nahe wohnten, erst als Letztes eingefallen war. Das kam ihm vor wie ein Verstoß gegen die Regeln familiär begründeter Freundschaften. Ja, wie eine besondere Form der Untreue oder Treulosigkeit, wo doch Familienfreundschaften stets – oder jedenfalls in aller Regel – höher einzustufen waren als gewöhnliche Einzelfreundschaften. Aber Bienchen gehörte für ihn eben nirgendwohin, nicht zu den Klassenkameraden von früher, nicht zum 1846er, dem Sportverein, und schon gar nicht zu seinen Freunden aus dem Internat, dachte Viktor, und zwei Jahre älter als er war sie außerdem … Aber nun machte er sich gleich auf den Weg.

Das Strausssche Anwesen lag in mittäglicher Ruhe und wirkte verlassen; der Garten, obwohl immer noch schön, war nicht mehr so perfekt gepflegt wie in früheren Jahren. Als Viktor fast schon am Gartentor stand, hörte er von drinnen Musik. Das musste Bienchen sein. Das konnte nur Bienchen sein – ja, es war Bienchen! Er ging noch ein paar Schritte am Zaun entlang, um näher unter ihrem Fenster zu stehen, das nur angelehnt war. Bienchen spielte in einem fort immer wieder dieselben paar Takte, aber wie sie diese spielte! Sie variierte sie unausgesetzt, jedes Mal wieder anders, aber nur in Nuancen unterschieden – was sich da doch alles verändern lässt! Und jedes Mal trat ein etwas anderer Charakter zu Tage. So etwas hatte Viktor noch nie gehört, und er lauschte gespannt weiter, wie Bienchen mit dem kurzen Ausschnitt umging und wie sie mit ihm spielte – das war alles andere als langweiliges Wiederholen! Schließlich schien Bienchen die richtige Phrasierung gefunden zu haben und wiederholte die paar Takte noch einige Male mit nun kaum mehr erkennbaren Modifikationen. Dann spielte sie im großen Zusammenhang weiter.

Viktor zögerte zu läuten, er wollte das Spiel nicht stören, läutete dann aber doch, was er im gleichen Augenblick fast schon wieder bereute, aber Bienchen spielte zum Glück weiter. Dafür kam eine ältere Frau in blauer Kittelschürze, die er nicht kannte, aus dem Haus, um ihm das Gartentor zu öffnen. Nach wem sollte er jetzt verlangen? Nach Bienchen? Das ging ja nicht! Oder nach Sabine, das brachte er kaum über die Lippen; oder womöglich nach Fräulein Strauss? Vielleicht am besten ganz offiziell nach ‚Fräulein Sabine Strauss‘ fragen, als ob er es ablese. Aber da nahm ihm die Haushälterin, um die es sich wohl handelte, die Entscheidung schon ab.

„Sie wollen sicherlich zum Fräulein Bienchen. Der Herr Doktor ist nämlich verreist“, rief sie ihm auf den letzten Schritten zu.

Sabine erkannte ihn sofort.

„Der Viktor! Der Viktor!“, rief sie ganz aufgeregt, „wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen!“

Viktor dagegen hatte im ersten Augenblick Schwierigkeiten, er schien verwirrt.

„Du bist, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, Bienchen, mindestens doppelt so groß geworden!“, sagte er lachend und wie zur Entschuldigung, war doch Sabine, die er als kugeliges Bienchen in Erinnerung hatte, jetzt fast ebenso groß wie er, und der ganze Kälberspeck war verschwunden. Er fand, sie hatte jetzt fast etwas Ätherisches.

Sie tauschten noch lange Erinnerungen aus, doch dann sagte Sabine, dass sie jetzt wieder arbeiten müsse. Viktor fragte, ob er noch eine Weile zuhören dürfe.

„Ja, gerne. Früher habe ich das gar nicht gemocht, dabei tut es mir sogar gut, ich übe konsequenter und ich gewöhne mich an Publikum. Du kannst ja dann einfach raushuschen, wenn du weg musst oder wenn es dir zu viel wird.“

Viktor setzte sich in den dunklen Hintergrund des großen Raumes und lauschte. Es dauerte eine Weile, bis Sabine anfing – was Bienchen da wohl noch gemacht hat die ganze Zeit? Dann spielte sie, sicherlich länger als eine gute Stunde, mit nur kurzen Pausen zwischen den einzelnen Stücken. Viktor kannte nicht ein einziges, aber manche begann er kennenzulernen, weil es häufig genug Wiederholungen gab, oft drei oder vier Mal hintereinander, von dazwischengestreuten Wiederholungen einzelner Passagen ganz abgesehen. Aber die Wiederholungen, auch dieses endlose Wiederholen kurzer Taktfolgen, wieder und wieder, störten ihn nicht – befand er sich doch in der Werkstatt, nicht im Konzertsaal, und da klang alles viel unmittelbarer.

Sabine schien ihn völlig vergessen zu haben. Ob sie bei ihrem Spiel vielleicht manchmal für ein paar Takte an ihn dachte, ob sie ihm dann vorspielte und gar für ihn spielte? Nein, den Gedanken verwarf er sogleich wieder, das sollte sie nicht, und das wollte er auch nicht. Er mochte nur der stille Zuhörer sein; zuhören, nur zuhören, nichts als zuhören wollte er, und dabei nicht einmal anwesend sein. Viktor spürte, wie verzaubert er war. Leise schob er sich dann doch aus seiner dunklen Ecke heraus weiter nach vorn, um Sabine besser sehen zu können. In einem Adagio-Satz schien ihr Gesicht so gelöst, als ob sie schliefe, die Augen waren fast geschlossen, ihr lockerer Mund wirkte träumend und zeigte manchmal, so zart, dass man es nur ahnen konnten, ein verklärtes Lächeln. –

Irgendwann am späten Nachmittag schlich sich Viktor hinaus, weil er den Dr. Fellgiebel, der ihm die Geschichte mit der Adoption in Aussicht gestellt hatte, nicht verpassen wollte. Als er zu Hause eintraf, war Fellgiebel schon oben bei seinem Vater. Er wartete in einem Sessel unten in der Halle, die eigentlich nichts anderes als ein geräumiges Treppenhaus war mit einer umlaufenden Galerie auf der ersten Etage.

„Ah, Viktor, das ist gut, dass ich Sie treffe“, rief ihm Dr. Fellgiebel von oben zu, während er die Treppe herunterkam, „ich muss Ihnen doch die Geschichte von der Adoption Jans noch erzählen!“

Und unten bei Viktor angekommen, fuhr er etwas irritiert fort: „Können wir uns nicht irgendwo reinsetzen?“

Offenbar war ihm die Unterhaltung in der Halle allzu öffentlich, und leise sprechen war seine Sache nicht. Sie verschwanden in einem kleineren Raum mit verglaster Tür, der merkwürdigerweise Schreibzimmer genannt wurde, und Fellgiebel begann zu erzählen, noch ehe sie recht saßen.

„Ja, diese Adoption! – Also: Letztes Jahr im Spätsommer kündigte mein alter Freund Dr. Hossenlopp aus Colmar seinen Besuch an. Wir haben zusammen in Würzburg und München studiert und sind dicke Freunde geworden; durch ihn übrigens habe ich meine Frau Marianna kennengelernt. Er war ja inzwischen zu einem richtigen Franzosen geworden“, lachte Fellgiebel, „und wollte in seinem neuen Auto eine Deutschlandreise mit seiner Frau machen, als erster Anlaufpunkt waren wir hier in Mannheim vorgesehen. Es war alles so schön geplant. Weil herrliches Sommerwetter war und weil das Wochenende bevorstand, haben wir ausgemacht, uns im Michelstädter Stadion zu treffen. Du kennst dieses herrlich gelegene Freibad dort, direkt am Wald? Das schönste Schwimmbad im ganzen Odenwald!“

Fellgiebel kam mit ‚Sie‘ und ‚du‘ durcheinander, aber darüber freute sich Viktor.

„Dort wollten wir dann den Tag an der frischen Luft und in der Sonne verbringen, und erst gegen Abend zusammen nach Mannheim zurückfahren. Ich fuhr mit dem Auto schon am zeitigen Vormittag mit den Kindern und einer Tante und deren Mann voraus, meine Frau blieb zu Hause zurück, um Hossenlopps in Empfang zu nehmen und sie nach Michelstadt zu geleiten. Wir verbrachten im Stadion einen vergnügten Vormittag, Hossenlopps schienen sich Zeit zu lassen. Gegen Mittag wurde ich ans Telefon gerufen. – ‚Hallo?‘, ich hörte nur jemanden schwer atmen und spürte im gleichen Augenblick, dass das meine Frau sein musste, ‚Hallo! Marianna!‘, und dann hörte ich sie nach ein paar Sekunden sagen – langsam, ausdruckslos und nicht einmal verzweifelt – ‚er ist tot, sie schwerverletzt.‘“

Fellgiebel fiel es auch jetzt noch schwer, darüber zu sprechen.

„Sie waren in Oggersheim, wenige Kilometer vor ihrem Ziel, in einer Kurve gegen eine steinerne Haustreppe geprallt. In der Handtasche von Frau Hossenlopp fand sich ein Zettel mit der Adresse und der Telefonnummer von uns, sodass man die wartende Marianna benachrichtigen konnte. Sie ist mit einem Taxi sofort ins Krankenhaus nach Ludwigshafen gefahren, gerade noch rechtzeitig wohl, um der Sterbenden ihr Wort zu geben, sich um die beiden zu Hause gebliebenen Kinder Jean und Germaine zu kümmern – ‚als ob es meine eigenen wären‘, hat ihr meine Frau versprochen.“

„Ah – und das ist der Jan?“

Fellgiebel nickte und fuhr fort: „Nach einigen Verwicklungen mit den französischen und deutschen Behörden und endlosen Laufereien meiner Frau – du machst dir da keinen Begriff! – landeten die beiden in dem jüdischen Kinderheim von Claire Weimersheimer in Herrlingen. Herrlingen liegt am Rand der Schwäbischen Alb, in der Nähe von Ulm. Zu diesem Kinderheim hatten wir eine enge Verbindung, weil wir dort schon Jahre vorher unseren behinderten Sohn Siegfried untergebracht haben und sich ein fast freundschaftliches Verhältnis, vor allem durch meine Frau, zu Claire Weimersheimer entwickelt hatte. Ein Glück war, dass dieses Geschwisterpaar, bei dem es sich übrigens nicht um die leiblichen Kinder von Hossenlopps handelt, sondern das von ihnen adoptiert worden war, zweisprachig aufgewachsen ist. Die beiden waren noch keine zwei Monate in Herrlingen, da wurde plötzlich die schon lange erwogene Auswanderung des ganzen Kinderheimes nach Palästina aktuell …“

Viktor hörte mit sichtlichem Interesse zu und freute sich, dass ihn dieser wichtige Herr in seinem Erzähldrang so ernst nahm, und Fellgiebel tat es wohl, einen so aufmerksamen Zuhörer gefunden zu haben, und so holte er weit aus.

„Vielleicht hätte Frau Weimersheimer diesen Entschluss schon viel früher fassen sollen, aber sie schaffte das einfach nicht, hat sie sich doch tatsächlich immer wieder die Frage gestellt, auch in langen Nachtgesprächen mit uns, ob sie Deutschland denn aufgeben soll. Deutschland aufgeben, hat sie gesagt; du musst das verstehen, Viktor, im Sinne von ‚Deutschland preisgeben‘, es seinem Schicksal überlassen, sich zurückziehen, das hat sie monatelang umgetrieben. Frau Weimersheimer war nicht die einzige, die so dachte. Das waren deutsche Juden. Die verließen nicht Feindesland, obwohl sie allen Grund gehabt hätten, das so zu sehen, sondern sie verließen ihre Heimat.“

Viktor dachte an Bienchen und ihren Vater, ob es nicht überhaupt besser sei, wenn auch Straussens … Aber Dr. Fellgiebel erzählte schon weiter.

„Man hatte Frau Weimersheimer vertraulich bedeutet, dass die beantragte Ausreisegenehmigung wohl in Kürze erteilt werde. Die entstandene Unruhe und Aufregung im Kinderheim war unbeschreiblich, fast täglich reisten ratlose Eltern an, um sich mit Frau Weimersheimer zu besprechen. Auch für sie selbst war das eine äußerst schwierige Geschichte. Bedenken Sie nur, Viktor, diese Ausreisegenehmigung galt nur für eine begrenzte Anzahl von Kindern und reichte nicht für alle aus. Wichtig war für sie, möglichst bei allen jüdischen Kindern, die ja die eigentlich gefährdeten waren, die Zustimmung der Eltern zu erlangen, was offenbar in den meisten Fällen gelungen ist. Bei den anderen Kindern waren dann alle möglichen sonstigen Gesichtspunkte gegeneinander abzuwägen, und die beiden kleinen Hossenlopps standen als elternlose Kinder ohnehin an bevorzugter Stelle. Aber du glaubst nicht, was wir für ein Theater hatten mit den Vormundschaftsgerichten und dem Tribunal des tutelles, mit Deutschland und Frankreich und Hin und Her.

Am einfachsten wäre es wahrscheinlich gewesen, wir hätten die beiden adoptiert, aber wir sahen gleich, dass das in der kurzen Zeit, die vermutlich noch blieb, wohl nicht mehr zu schaffen war. Außerdem belastete uns ein anderes Problem noch viel mehr: Frau Weimersheimer hätte unseren Sohn Siegfried gern nach Palästina mitgenommen, denn sowohl sie als auch wir sahen immer wieder, dass er am besten noch in ihrem Kinderheim gedieh. Marianna, also meine Frau, geriet in einen fürchterlichen Konflikt. Sie hing an ihrem Sohn, gerade weil er so benachteiligt war. Schon dass sie ihn seinerzeit in das Kinderheim weggeben musste, war ihr manchmal wie ein Abschieben vorgekommen. Ihn jetzt aber nach Palästina mitzuschicken, das schien ihr der komplette Verrat. Aber dann nahm die Geschichte eine plötzliche Wendung, indem sich ziemlich gleichzeitig zweierlei ereignete. Das eine war: Wir hatten Siegfried, weil das in Herrlingen zurückbleibende Rest-Kinderheim eine ungewisse Zukunft hatte, wieder zu uns nach Hause genommen und versuchten nun, ihn hier regulär einzuschulen. Bei der Untersuchung durch den Amtsarzt –“, und an dieser Stelle unterbrach er sich und rief in plötzlichem Zorn:

„Oh, ich kenne diesen Herrn Kollegen sehr wohl!“, und fuhr dann mühsam beherrscht mit immer noch bebender Stimme fort, „da erklärte doch dieser Kerl Marianna abschätzig, die eine Hand dabei in der Hosentasche, ihr Siegfried sei ‚rassenhygienisch und somit für den deutschen Volkskörper eine bloße Ballastexistenz und nichts weiter‘. Man sollte es nicht glauben, Viktor, eine ‚Ballastexistenz‘ hat er Siegfried genannt, das ist ein Lieblingswort dieser Herrschaften! Ihn interessiere nicht der Einzelne. Der einzelne Patient – das sei früher gewesen. Den modernen Mediziner, und allen voran den nationalsozialistischen Amtsarzt interessiere in erster Linie die Gesundheit des Volkskörpers, und dieser habe sich alles andere unterzuordnen – und lauter solches Geschwätz. In der gesamten Geschichte der Medizin habe es noch keine so radikale Veränderung der Sichtweise gegeben, jetzt erst beginne das Zeitalter der modernen Medizin, sicherlich noch nicht von allen heutigen Ärzte richtig begriffen, die den Eid des Hippokrates schülerhaft viel zu vordergründig verstünden – das war der kleine Hieb gegen mich. Und als dann Marianna in ihrer Empörung und Verzweiflung mit Freunden darüber sprach, da erfuhr sie, das Gerücht gehe, dass solchen Kindern, wenn erst einmal der Amtsarzt darum wisse, die Sterilisierung und eines Tages möglicherweise sogar der Tod drohe.“

Danach sprach Fellgiebel wieder ganz ruhig.

„Das andere, was zur gleichen Zeit geschehen war, betraf Jan. Am gleichen Tage, oder höchstens einen Tag vorher, während sich die ganze Reisegruppe, zum großen Teil zusammen mit den Abschied nehmenden Eltern, schon zur Einschiffung in Bremerhaven zu versammeln begann, wurde bei Jan eine beginnende Diphtherie diagnostiziert, sodass er nicht mit ausreisen konnte. Frau Weimerheimer, die natürlich die Ausreisegenehmigung mit der mühsam ausgehandelten Anzahl der Kinder möglichst ausschöpfen wollte, wandte sich in alter Freundschaft, wie sie sagte, noch einmal an uns, ob wir Siegfried nicht doch mitgeben wollten. Das war für Marianna in ihrer panischen Angst, in die sie durch die Bemerkung dieses Amtsarztes geraten war, ein Zeichen des Himmels, und sie brachte Siegfried unter Tränen noch in der gleichen Nacht nach Bremerhaven.“

„Jetzt hoffen wir nur“, fuhr Dr. Fellgiebel fort, „dass wir ihn eines Tages gesund wiedersehen.“

„Und Jan?“, fragte Viktor. Da leuchteten Fellgiebels Augen leuchteten wieder auf:

„Es erschien uns nur konsequent, ja es war für uns geradezu selbstverständlich, nun den armen zurückgelassenen Jan zu adoptieren. Das war nicht einfach – war es doch für Jan eine nochmalige Adoption und diesmal sogar über eine Staatengrenze hinweg –, aber wir taten alles für ihn, wo er uns doch anstelle von Siegfried in den Schoß gefallen war.“ –

Viktor war von Sabines Geigenspiel so entzückt, ja hingerissen, dass er schon zwei Tage später erneut bei ihr erschien, diesmal mit einem Sträußchen, wie ihm das sein Vater schmunzelnd angeraten hatte.

„Ich hoffe, ich gehe dir nicht auf die Nerven, Bienchen, wenn ich schon wieder frage, ob ich dir zuhören darf.“

Sabine schien sich zu freuen, war aber nicht so ausgelassen froh wie bei seinem letzten Besuch.

„Ich sagte dir doch vorgestern schon, Viktor, es tut mir sogar gut, wenn ich nicht ganz für mich allein üben muss. Aber hast du denn so viel Zeit?“

„Das Semester geht erst in ein paar Wochen los. Ich werde in Erlangen vielleicht Naturwissenschaften studieren. Oder vielleicht doch Geschichte, ich weiß noch nicht so genau.“

„Nun ja, Studium, das habe ich hinter mir.“ Und dann mit einem tiefen Seufzer: „Es hatte sich nach meinen beiden Preisen alles so schön angelassen, meine Agentur schleifte bald mehr Engagements und Konzerte heran, als ich packen konnte. Aber in den letzten Wochen kommt eine Absage nach der anderen. Das sind nicht Absagen auf Anfragen von uns oder auf irgendwelche Bewerbungen, nein, sondern Absagen für schon fest vereinbarte Konzerte – feste Verträge werden einfach annulliert!“

„Das darfst du dir nicht gefallen lassen, Bienchen. Vertrag ist Vertrag!“

„Aber mein Agent meint, übrigens sogar mein Vater als Jurist, dagegen sollte man auf keinen Fall klagen, sonst sei man endgültig draußen. Mich ärgert mehr noch als die Absagen selber die Art und Weise, wie da abgesagt wird! Gestern kam wieder eine.“

Sabine zog einige Briefe hervor, das waren offenbar solche Absagen.

„Entweder sind sie kurz und schroff, ohne jede Begründung oder Entschuldigung oder gar Bedauern, gewöhnlich mit ‚Heil Hitler!‘ drunter. Oder es werden irgendwelche windigen Vorwände ins Feld geführt und eine Verschiebung bis auf Weiteres angekündigt. Besonders schäbig die scheinheilige Anfrage, ob eine Mitgliedschaft in der neu geschaffenen Reichskulturkammer respektive in der Reichsmusikkammer besteht, um dann fortzufahren“, Sabine beugte sich vorlesend über den Brief, „‚wobei wir darauf aufmerksam machen möchten, dass wir andernfalls das Konzert nicht durchführen können resp. nicht durchführen dürfen‘. Ein aufrichtiges Bedauern, Viktor, war eigentlich nur in einer einzige Absage zu spüren, und da merkte man auch, welch rücksichtsloser Druck von oben auf die Veranstalter ausgeübt wird. Und meinen Mendelssohn darf ich schon gar nicht mehr spielen!“

Viktor schaute sich die Absagebriefe an, dann fuhr Sabine fort: „Ich habe eigentlich nur noch im Ausland Chancen. Mein Agent ist Österreicher, das ist schon mal gut, und ein Konzert in Graz ist bereits unter Dach und Fach, und eines in Genf und Zürich ist fest abgesprochen und muss nur noch unterschrieben werden. ‚Dich bring ich ganz groß raus!‘, hat mein Agent gesagt, und er hat ja schon damit angefangen. Vater wollte mir von nun an sogar die Guarneri geben, wenn sie demnächst wieder zurück ist. Die habe ich ja bisher nur zu Hause gelegentlich mal spielen dürfen – einfach unerreicht! Da bin ich inzwischen schon voll drin! Aber das ist jetzt in diesen unruhigen Zeiten einfach zu gefährlich, die kommt hier in den Tresor.“

„Ist es für dich nicht ein bisschen – wie könnte man sagen? – schmerzlich, oder ein enttäuschend vielleicht, wenn du jetzt, wo du die Guarneri schon so gut kennst, bei Konzerten auf deinem Instrument spielen musst?“

„Nein, meine Geige ist ja nicht schlecht, da ist alles da – es fehlt nur dieses ganz Besondere, was die Guarneri ausmacht. Vom Ansprechverhalten mal abgesehen, sind die beiden im Grunde ja sehr ähnlich. Nur liegt bei der Guarneri eben noch dieses unbeschreibliche Flair darüber. Aber ich bin mit der Guarneri inzwischen so vertraut, dass ich bei jeden Ton, den ich auf meiner Geige spiele, nicht nur genau weiß, wie er auf der Guarneri klingen würde, sondern ihn buchstäblich höre – ich höre die Guarneri bei jedem Ton mit.“

„Wenn du dich auf einen bestimmten Ton konzentrierst?“

„Nein, nein, das gilt ja nicht nur für einzelne Töne, sondern für ganze Passagen, da erst recht. Das gilt überhaupt!“, sagte Sabine langsam, als ob sie sich erst erinnernd vergewissern müsse, aber dann richtete sie ihren Blick auf die Zukunft und fuhr energisch fort: „Graz, Genf, Zürich – da kommt jetzt alles drauf an! Ich werde noch mehr üben. Und noch etwas werde ich tun, Viktor, – Fremdsprachen büffeln!“

Viktor freute sich darüber, wie Bienchen sich nicht unterkriegen lassen wollte und von den Absagen eher angefeuert als entmutigt schien. Das waren offenbar die Früchte der Erziehung durch ihren greisen Lehrmeisters am Konservatorium, der ihr in allen schwierigen Situationen immer wieder abverlangt hatte: ‚gegenhalten!‘ – nicht nachgeben bei allen möglichen Widrigkeiten, die sich beim Üben einstellen können, aber gegenhalten auch gegenüber eigenen Stimmungen und dem momentanen Befinden. Nichts sei wichtiger für einen professionellen Musiker – und auch für jeden, der ein solcher werden wolle, so fügte er meistens noch hinzu –, auch dann, gerade dann, unerbittlich weiterzuüben, ja die Anstrengungen sogar noch zu verstärken, eben gegenzuhalten, wenn man nicht die geringste Lust dazu verspüre und man sich vielleicht miserabel, ungerecht behandelt oder gar gedemütigt fühle. Denn später werde es so manchen Auftritt geben, wo sie, obwohl sie sich elend fühle, einfach spielen muss, ob sie will oder nicht, und wenn sie das Spielen unter solch niederdrückenden Bedingungen nicht geübt hat und sie zum Beispiel nur dann auf ihrem Instrument jubilieren kann, wenn ihr zum Jubeln zu Mute ist, dann wird das nie befriedigend funktionieren. Alles andere sei bloß ein Musizieren von Amateuren, reine Gelegenheitsmusik.

Dann schickte sich Sabine an, mit dem Üben zu beginnen.

„Das ist ja geradezu ein Training!“, meinte Viktor. Sabine war über diesen Vergleich nicht im Geringsten überrascht und sagte nur: „Natürlich – was dachtest du?“, war aber schon ganz bei ihrer Violine.

Viktor setzte sich wieder brav in seine Ecke und hörte zu. Schon nach wenigen Takten fühlte er – er spürte es mehr, als dass er es gehört oder gesehen hätte –, wie sich die Violine zu einem Teil von Sabine verwandelte. Das war seltsam, aber jeder Takt bestätigte ihm aufs Neue, dass es wirklich so war. Begann nach einer kurzen Pause der nächste Satz oder ein neues Stück, so dauerte es oft nur die ersten zwei, drei Töne, und schon trat dieses eigentümliche Phänomen wieder auf: Was da spielte, das war mehr als ein Mensch und eine Violine, die sich zusammengetan hatten. Es war eine neue Einheit, die unauflösbar und untrennbar geworden zu sein schien. Viktor sprach in einer Pause mit Sabine darüber.

„Das wundert mich, Viktor, dass man das hört –“

„– nein, ich höre es nicht eigentlich, ich spüre es irgendwie.“

Es dauere immer erst einen Moment, meinte Sabine, bis diese Veränderung eintrete. Manchmal geschehe es fast augenblicklich, manchmal mit Verzögerung. Sie müsse da gewissermaßen erst in die Violine hineinfließen – nein, nicht in das Innere der Geige natürlich; man könne es vielleicht besser umgekehrt beschreiben, die Violine gehöre dann plötzlich mit zu ihr, sie sei dann plötzlich zu einem Teil ihrer selbst geworden.

In den ersten Jahren, als sie noch in die üblichen Geigenstunden gegangen sei, hätte sie dieses Erlebnis überhaupt nicht gekannt. Eines Tages aber, zu Hause beim Üben, sei dieser seltsame Zustand eingetreten, das sei für sie geradezu eine Offenbarung gewesen. Die Violine sei plötzlich kein Gegenstand mehr gewesen und habe angefangen zu singen, als sei sie körperlos.

„Erst von da an bin ich wirklich eine Geigerin gewesen. Vorher habe ich nicht einmal geahnt, was mir da noch gefehlt hat, aber von da an habe ich gewusst, wo ich hinmuss.“

Sabine entfernte ein gerissenes Haar aus ihrem Bogen.

„Mein Gott, Viktor, darüber habe ich mit noch keinem Menschen auf der Welt gesprochen!“, sagte Sabine plötzlich und sah Viktor nachdenklich an. „Ich wüsste auch nicht, mit wem ich mich sonst darüber unterhalten könnte. Weißt du, man spürt, dass wir uns schon als Kinder gut kannten …“

Je besser trainiert sie sei, fuhr sie fort (und sie hatte tatsächlich ‚trainiert‘ gesagt), desto schneller trete dieser Zustand ein, zum Beispiel wenn sie sich vor Konzertbeginn erst mal einspiele, und umso leichter sei er zu erlangen. Bevor man ihn erreicht habe – in der Ausbildung dauere das wohl Jahre, wenn man sich dagegen vor einem Konzert einspiele, vielleicht nicht einmal eine halbe Minute –, bevor man also diesen Zustand erreicht habe, sei es so, als antworte die Violine dem Spieler; sei es so, als würde der Spieler irgendeinen bestimmten Ton oder eine Tonfolge in einer ganz bestimmten Art und Weise bloß anregen, und die Violine würde dann das singen, was der Spieler ihr vorgegeben habe. Das geschehe natürlich nicht nacheinander, sondern ‚Vorgabe‘ und ‚Antwort‘ fänden absolut gleichzeit statt. Natürlich sei diese ‚Antwort‘ bei einem eher durchschnittlichen Geiger nie wirklich haargenau das, was er erwartet habe; und wahrscheinlich würde er auch gar nicht etwas so Genaues erwarten. Aber diese Abweichungen zwischen ‚Vorgabe‘ und ‚Antwort‘ würden allmählich immer geringer, und eines Tages seien ‚Vorgabe‘ und ‚Antwort‘ ineinander aufgegangen und so jede Abweichungen voneinander verschwunden. Die Geige sage dann wirklich haargenau das, was auch der Geiger sagen wolle, denn die Geige sei dann der Geiger selbst und der Geiger sei die Geige – erst wenn das, was das Instrument da sagt oder singt, keine ‚Antworten‘ mehr seien, sei aus den beiden eine wirklich vollkommene Einheit geworden.

„Und das spürt dann der Geiger?“

„Ja, sofort, und zwar verbunden mit einem großen Glücksgefühl, so ist es jedenfalls bei mir. Nicht nur ich stelle mich auf die Violine ein, sondern, umgekehrt, die Violine auch auf mich – darum würde ich es ja auch sofort merken, wenn zufällig jemand anderes auf meinem Instrument gespielt hätte.“

Der höchste Grad eines solchen Einswerdens sei bei ihr übrigens erreicht gewesen, fuhr Sabine nach einer kleinen Pause fort, als sie eines Tages während eines Konzerts gespürt habe, dass nicht nur die Violine mit ihr, sondern ebenso auch sie mit dem ganzen Orchester verschmolzen gewesen sei und es nur noch ein einziges gemeinsames Tun gegeben habe. Dieses gemeinsame Tun habe nicht nur darin bestanden, dass die Handlungen jedes einzelnen Mitglieds genauestens gleichgerichtet gewesen seien – das erreiche jedes ordentliche Orchester –, sondern dass die ganzen Einzelhandlungen bei all ihrer Verschiedenartigkeit nur noch eine einzige gemeinsame Handlung darstellten, wenngleich sie auf viele Personen verteilt gewesen sei.

Viktor spürte, wie schwer Sabine die Beschreibung dieser subtilen Vorgänge fiel, und versuchte sie zu ermuntern, indem er bestätigte: „Das ist alles sehr schwer in Worte zu fassen.“

„Mit dem ganzen Orchester eine wirkliche Einheit zu bilden, das ist eines der großartigsten Gefühle, die es für einen Solisten gibt! Und doch muss man aufpassen, dass man nicht in der wunderbaren Geborgenheit des Orchesters versinkt. Man muss jedes Mal wieder raus, sonst geht man als Solist im Wohlbehagen unter. Wie schon so mancher.“

„Dieses Entstehen einer Einheit ist wohl bei allen Instrumenten so, meinst du nicht?“

„Sicherlich, aber wahrscheinlich bei den Streichinstrumenten besonders ausgeprägt.“

„Ich erinnere mich, Onkel Max, der Bruder von meinem Vater, war ja ein großer Ruderer vor dem Herrn, und der erzählte von seinem Achter bei der Amicitia etwas ganz Ähnliches –“, Viktor unterbrach sich, „entschuldige, wenn ich dein Violinspiel unpassenderweise mit dem Rudern vergleiche!“

„Nein, nein, ist schon recht, Viktor.“

Sofern die Mannschaft genügend gemeinsam trainiert habe, führte Viktor aus, sei irgendwann nach dem Start das zwingende Erlebnis aufgekommen ‚Jetzt läuft er!‘, und zwar ganz plötzlich und für alle gleichzeitig und mit dem Gefühl großer Gewissheit. Es sei gewesen, als ob das Boot plötzlich schwebte, fast widerstandslos dahinglitte. Von da an sei auch das Zusammenspiel perfekt gewesen. Die seien also plötzlich eine Einheit geworden, wie Sabine das vorhin genannt habe. Und sie hätten dann plötzlich alle acht nur noch eine einzige, eine gemeinsame Identität besessen und jeder seine Einzelidentität gewissermaßen aufgegeben.

„Du hast da vorhin etwas Ähnliches angedeutet“, fuhr Viktor fort, „nämlich dass der Solist, der in einem ganzen Orchester aufgegangen ist, irgendwie schauen muss – nicht, so war es doch? –, dass er seine Identität wiedererlangt.“

„Viktor!“, rief da Sabine überrascht, „genau das ist es! Denk doch bloß an unsere großen Orchester! Vor allem auch an Dirigent und Orchester, die nicht durch die geringste Ungleichzeitigkeit voneinander getrennt sind – obwohl doch der eine dirigiert, also etwas vorgibt, und die anderen ihm folgen – aber die folgen ihm gar nicht, jedenfalls nicht im Sinne von nachfolgen, sondern beides – vorgegeben und folgen – geschieht gleichzeitig.“

„Mir hat einer beim Zusammensitzen nach einer Probe einmal gesagt, das Gehirn des Geigers nehme das Instrument als einen Teil des eigenen Körpers wahr. Da hatte er mit diesem ‚Teil des eigenen Körpers‘ schon recht, aber erklärt war damit noch überhaupt nichts, es ist nur mit anderen Worten beschrieben und klingt etwas umständlicher, und der Dr. Fellgiebel vom Chor, der auch mit dabeisaß und der ja was vom Gehirn versteht, der hat abgewinkt und ihm gesagt, ‚Das hat dir dein Gehirnforscher da in Heidelberg eingeblasen, aber das Gehirn, das Gehirn, das nimmt überhaupt nichts wahr, genauso wenig wie es friert, wenn mir kalt ist‘. – Find’ ich gut“, meinte Sabine. –

Es war noch viel Zeit bis zum Semesterbeginn, und so übernahm Viktor im Verlauf der folgenden Wochen alle möglichen Aufgaben im Hause Strauss, um Sabine zu helfen, damit sie möglichst viel Zeit für ihr nimmermüdes Üben hatte, Violintraining, wie sie es neuerdings immer öfter nannte.

Das waren Botengänge und Besorgungen, zum Teil auch für Sabines Vater; Literatur- und Notenbeschaffung, manchmal auch in Heidelberg drüben, wozu auch die Beschaffung von Schallplatten gehörte; das Ausschneiden wichtiger Besprechungen aus den Zeitungen; und vor allem ‚Viktors Technischer Dienst‘, wie er vergnügt prahlte, der sich mit allem befasste, was das Instrument selbst betraf. Das war die Beschaffung und die gemeinsame Auswahl von immer wieder neuen Sorten von Kolophonium, worauf Bienchen besonderen Wert zu legen schien, aber dann natürlich auch das Besorgen von allem möglichen Zubehör und die Bereitstellung von Ersatzsaiten verschiedener Beschaffenheit und Herkunft, bei deren geschwindem Austausch Viktor Sabine bald übertraf. Wenn er dann gegen Abend für eine halbe Stunde zuhören konnte, empfand er das wie eine Belohnung, besonders dann, wenn Sabine manchmal die ganzen Stücke, an denen sie den Tag über gearbeitet hatte, noch einmal für ihn ‚aufführungsreif‘ und ganz ohne Korrekturwiederholungen zusammenstellte.

Am meisten aber machte sich Viktor um die Bögen verdient. Deren Bespannung, die aus Pferdeschweifhaaren besteht, unterliegt bei heftigem Gebrauch einen ziemlichen Verschleiß; immer wieder reißen einzelne Haare, die der Geiger dann, wenn er eine kurze Pause hat, mit einem kleinen Ruck herauszieht, bis schließlich eine Neubespannung fällig wird. Sabinens Geigenbauer aber, an sich ein tüchtiger Mann, brauchte für keine Lieferung, für keine Reparatur mehr Zeit als für die Neubespannung eines Bogens, die er in seiner Fachsprache befremdlich ‚Behaarung‘ oder ‚Neubehaarung‘ nannte. Immer wieder vertröstete er dann Viktor, dem jedoch die ungeduldige Sabine im Nacken saß; es war jedes Mal das Gleiche. Als der Geigenbauer wieder einmal nach mehreren Vertröstungen von Viktor besonders unnachgiebig bedrängt wurde, rückte er in seiner Not damit heraus, dass das ‚Behaaren‘ eines Bogens das Unangenehmste sei, was es in der ganzen Geigenbauerei gibt, woraus Viktor schloss, dass ihm wahrscheinlich diese Arbeit nicht besonders liege. In der Werkstatt hatte er an einem Bogen, der offenbar gerade in Arbeit war, gesehen, wie die Haare von einem kleinen trapezförmigen Keil durch ihren eigenen Zug festgeklemmt werden – sicherlich keine ganz einfache Geschichte, dachte Viktor, aber das müsste sich mit etwas Geschick und einigem Probieren bewerkstelligen lassen.

Das jedoch war ein großer Irrtum, wie sich alsbald herausstellte. Viktor scheiterte bei seinem ersten Anlauf auf der ganzen Linie, es ging schief, was nur schief gehen konnte, und am Schluss war ein ganzes Bündel der teuren mongolischen Pferdeschweifhaare verdorben. Dummerweise hatte er vorher schon, wenn auch nur im Scherz, bei Sabine großspurig ‚eine neue Ära der Bogenreparatur, ja eine neue Ära im gesamten Bogenbau überhaupt‘ angekündigt. Aber diese Prahlereien waren vielleicht sogar günstig gewesen, insofern nämlich, als er sich durch den sanften Spott Bienchens gezwungen sah, alles daranzusetzen und sich festzubeißen, um die Sache doch noch zu einem guten Ende zu bringen.

Er besprach sich als Erstes mit einem alten Schulfreund, der inzwischen als Werkzeugmacher in den Motorenwerken drüben auf dem Waldhof tätig war, von dem er ein paar Tipps erhielt und der dabei auf die Idee kam, ihm eine kleine Vorrichtung zu bauen, die das Bespannen, wie er meinte, enorm erleichtern würde. Dann begab er sich zum Geigenbauer und bat ihn, bei einer ‚Behaarung‘ einmal von Anfang bis Ende zuschauen zu dürfen. Es traf sich gut, dass der Geigenbauer ohnehin gerade vorhatte, einen Bogen frisch zu ‚behaaren‘, obwohl es Viktor dann arg irritierte, dass er dabei fast ununterbrochen fluchte und vor sich hinschimpfte. Sodann verkroch sich Viktor zu Hause in die Werkstatt der Garagenhalle, der früheren Remise, in der sich der alte Herkommer nur noch selten aufhielt, und arbeitete die halbe Nacht, bis er das komplizierte Verfahren Schritt für Schritt intus hatte.

Schon bald konnte er in kürzester Zeit einen Bogen wieder herrichten, und von den fünf oder sechs Geigenbögen, die es im Hause Strauss gab, alles hochwertige Meisterbögen, von denen gewöhnlich aber nur einer oder höchstens zwei intakt gewesen waren, lagen von da an stets alle parat und höchstens einer war gerade einmal bei Viktor in Reparatur. Sabine frohlockte und ihr Vater, der ja auch einiges von Violinen verstand, freute sich über den tüchtigen Sohn seines alten Freundes Zabener. –

Etwa um diese Zeit muss es auch gewesen sein, dass Strauss den Konsul, von dessen Krankheit er gehört hatte, ohne Ankündigung überraschend besucht hat.

„Ich werde in Zukunft öfter einmal einfach nach dir schauen, Zabener“, sagte er schon im Hereinkommen, „wenn ich sehe, dass du zu Hause bist. Wir kennen uns gut genug, als dass du mir nicht sofort offen sagen würdest, wenn es dir gerade nicht passt.“

Der Konsul, der sonst bei solchen Begrüßungen große Korrektheit an den Tag zu legen pflegte, blieb gemütlich sitzen und strich nur die Wolldecke glatt, in die er eingeschlagen war.

„Ja, sieh da, der Herr Rat! Der Herr Rat persönlich schaut mal wieder bei mir rein!“, empfing er Strauss erfreut, „das ist aber recht! Komm, nehmet Se Platz, Herr Rat, hocket Se naa!“

„Du hast ganz recht, Zabener“, lachte Strauss über den freundlichen Spott, „in der alten Badischen Justizverwaltung sind wir Anwälte mit ‚Herr Rat‘ angeredet worden, und manch alter Bürovorsteher hat das bis heute beibehalten.“

„Ich werde noch die ganze Woche über zu Hause sein, ich hatte eine fürchterliche Bronchitis – Weißt du schon das Neueste? Herkommer ist unser neuer Blockwart! Sein Vorgänger ist wegen irgendeiner Sauerei geflogen, ich glaube, er sitzt sogar.“

„Ist Herkommer denn nicht mehr dein Chauffeur in der Firma?“

„Doch, natürlich. Blockwart ist keine hauptberufliche Tätigkeit. Ich meine sogar ehrenamtlich – ich weiß nicht.“

„Was hat er da als Blockwart so alles zu tun?“

„Oh, da gibt es manches, was die Partei interessiert. In erster Linie muss er halt die Leute in seinem Block betreuen, wie das heißt; aber das bedeutet in Wirklichkeit natürlich auch überwachen. Dann muss er die ständige Verbindung zwischen der Partei und seinen paar Parteigenossen aufrechterhalten, so es überhaupt welche gibt hier in seinem Block, und die Mitgliedsbeiträge für die Partei und für alle möglichen Organisationen einkassieren und auch die Haussammlungen durchführen, du weißt doch, für die NS-Volkswohlfahrt, für das Winterhilfswerk und für die NS-Kriegsopferversorgung und was es da so alles gibt. Eine Personenkartei soll er auch anlegen – er hat mir schon eine Musterkarte gezeigt, weil er etwas nicht verstanden hat. Meine Güte, du glaubst nicht, was da alles drauf verzeichnet werden soll! Im Grunde unerhört! Und dann soll er dafür sorgen, dass die Kundgebungen und die Feierstunden der Partei von möglichst vielen besucht werden und dass Stänkerer, Panikmacher und Gerüchteverbreiter – genau so hat er das aufgezählt – dass Stänkerer, Panikmacher und Gerüchteverbreiter gemeldet werden.“

„Und was hat er davon?“

„Er übernimmt Verantwortung, mein Lieber, und dafür erhält er Macht. Freilich nur ein bisschen Macht. Und damit auch nur einen sehr bescheidenen Einfluss, aber immerhin. Und vor allem, er findet Anerkennung bei seinen Parteibonzen und gewinnt Geltung in der Nachbarschaft. Das ist für ihn wahrscheinlich das Wichtigste. Alle wissen sie: Er gehört zum Apparat!“

„Meinst du, er ist auch schon Parteimitglied?“

„Ja, sicherlich. Doch das hat ihm nicht genügt, verstehst du, jetzt ist er ein Parteifunktionär. Ein Funktionär zwar nur auf der untersten Ebene, aber die darf man keinesfalls unterschätzen, diese unterste Ebene! Sie ist von allen Ebenen der Parteihierarchie bei weitem die größte, und über sie, nur über sie, steht die Partei an Tausenden von Punkten mit der Bevölkerung in direkter und ständiger Verbindung. Das ist enorm wichtig. Und Herkommer weiß um seine Wichtigkeit. Du solltest mal sehen, wie er sich aufspielt und dicke tut. Nicht bei mir natürlich, aber bei den Leuten hier in der Gegend. ‚Ich habe 54 Haushalte unter mir!‘, hat er vorgestern auf der Fahrt nach Karlsruhe geprahlt; hast du gehört, ‚unter mir‘ hat er gesagt, und das seien an die 200 Personen, also mehr als eine Kompanie! Außerdem, so hat er mir ganz vertraulich noch gesagt, hieße seine Position in Wirklichkeit, also offiziell, Blockleiter; Blockwart, das sei nur die Bezeichnung nach außen.“

„Die bauen da ein Überwachungssystem auf, Zabener, schlimmer als in Russland!“, meinte Strauss nachdenklich.

„Aber vielleicht ist es gar nicht schlecht, wenn man da jemanden von der anderen Seite an der Hand hat. Man erfährt dann doch so manches. Neulich hat er mich sogar vor einem seiner Spießgesellen gewarnt, der mich aushorchen sollte. Er ist mir absolut ergeben.“

Strauss wiegte zweifelnd den Kopf.

„Doch, doch! Auf ihn ist Verlass. Er weiß natürlich um meine manchmal doch recht kritische Einstellung, er schnappt sicherlich auch so dieses und jenes auf, aber er wird mich niemals denunzieren. Natürlich bin ich sicher, dass er hin und wieder über mich ausgefragt wird und da könnte er möglicherweise schon einmal in gewisse Loyalitätskonflikte geraten. Ich will es ihm nicht zu schwer machen und halte mich ihm gegenüber – oder sagen wir besser: in seiner Gegenwart – lieber etwas zurück. Ich muss beispielsweise ganz vorsichtig sein, wenn ich im Auto im Gespräch mit einem Vorstandskollegen irgendeine Information erwähne, an die ich über einen Auslandssender gekommen bin. Womöglich rutscht einem dann noch als Quelle Radio BBC heraus – das könnte seine Loyalität dann doch überbeanspruchen.“

Strauss zweifelte immer noch: „Ich traue ihm einfach nicht ganz. Wenn ich daran denke, wie er vor Jahren bei dir seinen Dienst als Chauffeur angetreten hat. Ich war zwar nicht dabei, aber du hast mir das damals so anschaulich erzählt“, lachte Strauss, „und das hat mich so beeindruckt, dass ich mich noch heute daran erinnere, als sei ich dabei gewesen.“

„Wieso, was war denn da?“

„Er hätte bei der Begrüßung, als du ihm die Hand gegeben hast, kräftig die Hacken zusammengeschlagen, hast du erzählt, und sich gleichzeitig, mit dem Blick zum Boden, so tief verbeugt, wie es überhaupt nur möglich ist.“

„Jaja, ich erinnere mich, das war schon auffällig! Er ist mir ja öfters mal allzu untertänig, der Bursche hat kein Selbstbewusstsein. Früher, im Krieg, war das besser.“

„Kein Wunder – was war er gleich gewesen, Zabener? Feldwebel zum Schluss, nicht wahr? Da hatte er mit seinem Zug, den er führte, eben genügend Leute unter sich, das ist es.“

„Ich habe seine ungewöhnliche Verbeugung und das Hackenschlagen damals mehr von der heiteren Seite betrachtet.“

„Das war keine übertriebene Höflichkeit mehr, Zabener, was du mir da geschildert hattest, über die man hinterher lachen kann, oh nein! Das war ostentative Unterwerfung, die er aber für erforderlich gehalten hat, um diesen Posten zu erlangen – die du ihm also gewissermaßen abverlangt hast. Wer sich so demonstrativ unterwirft, Zabener – oder sagen wir, wer glaubt, dass er sich derart demonstrativ unterwerfen muss, der wird dem Verursacher, oder vielleicht besser: dem Veranlasser, diese schmachvolle eigene Preisgabe eines Tages heimzahlen!“ –

Wochen später kamen sie erneut auf Herkommer zu sprechen.

„Sag mal, Zabener, trägt dein Herkommer ein Parteiabzeichen? Ich sah ihn kürzlich, ich müsste mich da arg getäuscht haben.“

„Jaja, das trägt er neuerdings, auch im Dienst natürlich. Habe da einfach darüber hinweggesehen, als er es das erste Mal angesteckt hatte. Ich glaube, er ist schon viel länger in der Partei. Mir kommt übrigens sein Parteiabzeichen gar nicht so ungelegen. Nur ein Beispiel, neulich an der Grenze, auf der Rückfahrt von Straßburg, da wurden wir vom deutschen Zoll in Kehl viel schneller abgefertigt als sonst; praktisch nach dem ersten Blick in den Wagen sofort durchgewinkt. Als der Beamte Herkommers Parteiabzeichen sah, dachte er sich wohl, wenn schon der Fahrer Parteigenosse ist, dann muss der da hinten drin ein ganz wichtiger Bonze sein –“

„– womit er ja in gewisser Weise nicht ganz unrecht hatte“, spottete Strauss.

„Herkommer ist natürlich stolz auf die Wirkung, die er erzielt. Auch mir gegenüber, er ist längst nicht mehr so unterwürfig in letzter Zeit. Er ist selbstbewusster geworden, jetzt, wo er wieder etwas zu melden hat.“

„Ich glaube, dein Herkommer ist sogar ein noch verhältnismäßig erträglicher Fall, da gibt es gewiss viel Schlimmere. Denn der Mann hat ja immerhin einen sicheren Posten in einem großen Unternehmen, er hat ein ausreichendes Einkommen, hat Familie, hat einen Chef, der ihn schätzt – ich glaube, so sieht nicht der typische Blockwart aus, so wie du mir neulich die Aufgaben dieser Leute geschildert hast. Die brauchten doch in kürzester Zeit Tausende und Abertausende, und da wird mit Sicherheit eine große Zahl von Existenzen darunter gewesen sein, die an den Rand gedrängt waren – Arbeitslose, Leute, die jahrelang in dieser deprimierenden Arbeitslosigkeit festgesteckt waren, aus der Bahn Geworfene, vielleicht auch Asoziale und Vorbestrafte, wie das bei der SA ja auch stellenweise der Fall war. Das kann gar nicht anders gewesen sein nach einem verlorenen Krieg, nach der Inflation und nach der großen Wirtschaftskrise! Diese Leute bekamen plötzlich wieder eine Perspektive, die haben plötzlich wieder entdeckt, was sie so lange entbehren mussten, nämlich dass sie offenbar doch gebraucht werden und nützlich sind. Und sie erhielten plötzlich, wie du mir das ja beschrieben hast, Macht. Mehr noch: Sie fanden nicht nur endlich wieder Beachtung, sondern sogar Anerkennung. Sie wurden gebraucht. Sie hatten eine Aufgabe. Sie spürten, man baute auf sie. Eine regimetreuere Gefolgschaft als diese Blockwarte und überhaupt als diese ganze untere Ebene kann es wahrscheinlich überhaupt nicht geben!“

„Da ist was dran, Strauss. Eine Aufgabe. Viktor schrieb mir einmal aus dem Internat, schon vor Langem, das Wichtigste sei gewesen, dass jeder in der Klasse, in die er als trauriger und heimwehkranker Fremdkörper hineingesteckt worden war, seine feste Aufgabe hatte, auch außerschulisch, und dass auch er schon vom ersten Tag an eine bestimmte kleine Aufgaben zugewiesen erhielt. Aber das galt vor allem, nachdem er nicht mehr sogenannter Externer war, sondern ganz in das Internat übergesiedelt ist. Anfangs seien das einfache Dinge gewesen wie die Kontrolle, ob abends alle Lichter in Haus und Hof ausgemacht und die Tore geschlossen waren; später dann anspruchsvollere Aufgaben, die ihren Mann durchaus forderten, wie das pünktliche Schlagen des Gongs den ganzen Vormittag über zum Beginn und zum Ende jeder Schulstunde oder das morgendliche Wecken; oder, wieder etwas ganz anderes, soziale Dienste wie Krankenbesuche im Altersheim. Auch harter körperlicher Einsatz sei verlangt worden, schrieb er, zum Beispiel das Walzen des Sportplatzes. Das war schon gut überlegt, Strauss; Viktor fühlte, er wird gebraucht. Hier gibt es keine Passagiere, hieß bei denen im Internat die Parole, hier gibt es nur Besatzungsmitglieder.“ –

Die gelegentlichen Bogenreparaturen in ‚Viktors Technischem Dienst‘ hatten sich längst eingespielt, als Viktor eines Tages, als er wieder einmal einen Bogen neu zu bespannen hatte, feststellte, dass sein Vorrat an Schweifhaaren zu Ende ging. Es reichte nur noch knapp, und die letzten Haare waren sogar etwas zu kurz. Eher spielerisch, ohne besondere Absicht, verband er zwei Haare mit einem sauberen Weberknoten, doch als die Bespannung dann saß, war der Knoten doch etwas zu weit zur Mitte hin geraten, sodass er sicherlich stören würde, zumal er ganz nah an der Kante lag. Aber ein Späßchen war ihm das schon wert. Er legte den Bogen, bevor Sabine wieder zu spielen begann, neben ihre Violine und wartete ab, wobei er überlegte, wie sich der akustische Effekt wohl anhören würde.

„Was ist denn da los?“, stutzte Sabine schon nach dem ersten Strich, das war wie ein Streichen und ein Zupfen in einem!“

Viktor gestand seine Übeltat sofort, war aber vom akustischen Ergebnis nicht weiter überrascht, obwohl es für ihn stets ein großer Unterschied war, ob er sich einen Ton oder Klang nur vorstellte oder ihn, fast gegenständlich und wie zum Anfassen deutlich, mit allen seinen Feinheiten hörte. Viktor, der sich immer freute, wenn sich eine Gelegenheit bot, jemandem einen komplizierten Sachverhalt zu erklären, erläuterte Sabine in allen Einzelheiten, was mit der Saite, erst einmal ohne einen Knoten, geschieht, wenn sie mit dem Bogen angestrichen und zum Schwingen gebracht wird. Am Anfang unterbrach sie ihn mehrmals: „Weiß ich doch, weiß ich doch!“, aber dann wurde sie doch aufmerksamer.

„Für einen allerersten kurzen Augenblick haftet die Saite am Bogen“, sagte er, „sie klebt gewissermaßen an ihm, und wird von ihm ein winziges Stückchen mitgenommen. Dabei nimmt ihre Spannung zu, entsprechend lässt sie sich zunehmend schwerer zur Seite auslenken und von einer bestimmten Spannung an reißt sie sich los und schwingt zurück, über ihre Ruhelage hinaus. Am Ende der Strecke kehrt sie um, schwingt also wieder in derselben Richtung, in der sich der Bogen bewegt, und sobald sie annähernd seine Geschwindigkeit erreicht hat, haftet sie wieder an ihm, sie klinkt sich also gewissermaßen wieder ein und wird wieder ein Stückchen mitgenommen, bis sie sich erneut losreißt. Das ist im Prinzip ein dauerndes ein Hin- und Herwechseln zwischen Haftreibung und Gleitreibung. – So sieht man auch, was es bedeutet, wenn der Bogen nur ganz schmal mit der Kante aufliegt oder mit seiner vollen Breite, oder wenn er langsamer oder schneller bewegt wird, und was ein zu glatter Bogen bedeutet und wie sich dann das aufgebrachte Kolophonium auswirkt.“

„Ja, klar, klar.“

„Wenn sich aber nun ein Knoten in den Haaren des Bogens befindet, dann wird die Saite vom Bogen ein ganzes Stück weiter mitgenommen als vorher, wo die Auslenkung nur durch die Haftung geschah, die Saite wird also plötzlich viel stärker gespannt und der Ton ist dann schlagartig lauter, aber er klingt auch sofort wieder ab auf die Lautstärke des gestrichenen Tons – das ist der obendrauf gesetzte ‚Zupf‘!“

„Pizzicato!“, rief Bienchen.

Die Frequenz bleibe also unverändert, meinte er noch gelehrt, aber die Amplitude würde für einen Augenblick viel größer. Doch Sabine amüsierte sich bereits spielerisch mit diesem seltsamen Phänomen, bei dem sich Streichen und Zupfen miteinander verbinden, und sie lachten beide über die Effekte, die Sabine dabei herausholen konnte. Dann riss Viktor das verknotete Schweifhaar heraus, und Sabine wandte sich wieder ernsthaft ihrem Training zu.

Viktor aber ließen die Knoten von da an nicht mehr in Ruhe. Er erlangte allmählich eine große Kunstfertigkeit, und Sabine probierte gutmütig, aber auch nicht ganz ohne eigenes Vergnügen Viktors neueste Kreationen aus. Er experimentierte mit verschieden stark auftragenden Knoten, wobei ihn die Ergebnisse mit dem gemeinen Achtknoten, wie er in der Seefahrt heißt, am meisten befriedigten. Später machte er Versuche mit mehreren und schließlich vielen Knoten hintereinander, und sie nannten die entsprechenden Bögen dann ‚Sägebogen‘. Da war dann nichts mehr zu hören von einzelnen wohlgesetzten Zupfern, sondern das ergab einen einzigen brutal aufgerissenen Ton.

„– nicht gerade schön“, wie Sabine befand,

„– aber enorm ausdrucksstark“, ergänzte Viktor,

„– wo’s passt“, relativierte Sabine.

Natürlich probierte Viktor auch Knotenabstände aus, die sich veränderten, und verfertigte schließlich sogar ein Schweifhaar, in das gleich mehrere einzelne Haare hineingeflochten waren und das schließlich nur noch aus Knoten, einer an den anderen gereiht, bestand, mit dem sich gar fürchterliche Töne erzeugen ließen.

„Du hast aus meiner Violine ein schnarchendes Krokodil gemacht“, lachte Sabine.

Immerhin verlegte Viktor seine Knotenbahnen ganz an die Außenkante des Bogens, wo sie noch am wenigsten störten, aber bei Bedarf leicht einzusetzen waren.

Sabine und Viktor hatten jedenfalls ihren Spaß mit diesen Experimenten, und Viktor genoss die Wochen der Freiheit zwischen Internat und Studium. Aber wirklich unbeschwert waren sie nicht. Immer wieder einmal kam Viktor die drohende Ungewissheit in den Sinn, die Bienchen und ihren Vater bedrängte, und manchmal hatte Viktor das Gefühl, dass Bienchen im gleichen Augenblick wie er von diesen bleiernen Gedanken an die Zukunft befallen wurde, aber sie sprachen darüber nie miteinander.

Sie konnten nicht ahnen, dass diese Knoten im Schweifhaar, deren erster nur ganz beiläufig im Jux geknüpft worden war und die nur dem Schabernack gedient haben, sich in nicht allzu ferner Zeit als äußerst nützlich erweisen sollten; ja vielleicht waren sie es gewesen, die Sabine das Leben gerettet haben. –

Milchbrüder, beide

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