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10_Ludwigs erste Stelle

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In Nürnberg angekommen, wollte Ludwig Herkommer, der mit seinem Geld ziemlich am Ende war, in einem großen Kaufhaus, das an seinem Weg lag, schauen, ob günstig an etwas Essbares heranzukommen sei. Vor dem Eingang wartete angeleint ein Schäferhund, etwas dunkler als seine beiden Alsatians zu Hause und gut gepflegt, wie Ludwig sogleich sah. Als er nach über einer Stunde wieder herauskam – er hatte nach einem langen Rundgang durch das ganze Haus in der Lebensmittelabteilung höflich gefragt, ob er eine zerbrochene Brezel, die er entdeckt hatte, vielleicht verbilligt haben könnte und bekam sie dann gratis und noch einen aufgerissenen Brotlaib mit dazu –, da saß der Hund immer noch da. Jetzt, da er nicht mehr so hungrig war, erkannte er schon nach kurzem Hinsehen die perfekte Ausbildung. Der Hund blickte aufmerksam mal zum Eingang, dann wieder zur Straße, aber gelassen, ohne die geringste Unruhe; die Länge der Leine ließ er ungenutzt. Oh, wenn man sonst vor den Geschäften diese armen Tröpfe jaulend und verzweifelt an ihren Leinen zerren sieht! Wenn ihn Passanten anschauten, blickte er weg, er wünschte keine Ansprache; wandte sich ein Passant ihm direkt zu und näherte sich ihm dabei allzu sehr oder versuchte er in einfältiger Freundlichkeit gar, ihn zu streicheln oder zu tätscheln, so knurrte er anhaltend, nicht laut, aber unüberhörbar.

Plötzlich sah er aufmerksam zu Ludwig her, unbewegt, doch interessiert, und nicht nur für einen Augenblick, und Ludwig schaute ebenso ruhig zu ihm zurück. Er hatte das Gefühl, dass nach den langen Tagen des Alleinseins plötzlich wieder jemand da war, der ihm nicht so grenzenlos fremd war wie all die Menschen seit seiner heimlichen Abreise von daheim. Seiner Mutter hätte er doch noch ein paar Zeilen zum Abschied schreiben sollen, und dass sie sich keine Sorgen zu machen brauche um ihn. Er hatte es ja auch versucht, aber der Zettel las sich dann so ungeschickt und hilflos, was gar nicht seiner Stimmung entsprach – er, der jetzt hinausstürmen wollte in die Welt.

Ludwig ging langsam auf das Tier zu, er hätte schwören mögen, dass dabei Freude in den Augen des Hundes stand, und je näher er ihm kam, umso mehr hob der Hund, der ihn weiter unvermittelt anblickte, seinen Kopf, und Ludwig wusste im gleichen Augenblick, dass er ihm jetzt, da er direkt vor ihm stand, über den Kopf hinweg kraulend in den Nacken greifen durfte. Alles geschah mit großer Selbstverständlichkeit wie unter alten Bekannten. An der Innenseite des Halsbands entdeckte er eine Marke mit ein paar Ziffern und Buchstaben darauf und den Worten POL.HUNDESTFL.NBG. und dazu noch ein paar Zahlen. Das war ja rätselhaft.

Danach konnte der Hund nicht genug kriegen, immer wieder an Ludwigs Schuhen zu schnuppern. Es waren dieselben, die er immer angehabt hatte, wenn er mit Dr. Straussens Hunden gearbeitet hatte oder mit ihnen über Stock und Stein getobt war. Ob das sein kann nach so langer Zeit?

Ludwig war ratlos. Er konnte das Tier, das vielleicht schon viele Stunden hier saß, nicht sich selbst überlassen, es würde sich nach diesem freundlichen Auftakt im Stich gelassen fühlen, aber einfach mitnehmen konnte er es auch nicht. Oder ob man dem Kaufhaus Bescheid sagen sollte? Aber nein, das gäbe eine Katastrophe, wenn die versuchten, den Hund in Verwahrung zu nehmen.

Bis Ladenschluss war es noch eine dreiviertel Stunde, und Ludwig beschloss, noch so lange zu warten, dann aber den Hund mitzunehmen und sich bei der Polizei durchzufragen, wohin er ihn bringen solle, denn ihn einfach auf der nächsten Polizeiwache abzuliefern, das ging genauso wenig, wie ihn dem Kaufhaus zu übergeben. Ludwig stellte seinen Rucksack direkt neben dem Hund ab – als Pfand könnte man sagen, und nachdem der Hund wie zur Empfangsbestätigung kurz daran geschnuppert hatte, war er sich völlig sicher, dass kein Spitzbub die geringste Chance haben würde, den Rucksack dort wegzunehmen. Er schlenderte im Eingangsbereich auf und ab, mal drinnen, mal draußen, zwischen den Leuten hindurch, die es eilig hatten, in das Kaufhaus hinein- oder herauszukommen, oder hinter verhärmten Arbeitslosen, die ungleich langsamer gingen. Ab und zu blickte der Hund, wenn er in seine Nähe kam, kurz zu ihm her, als wolle er sich vergewissern, aber er blickte keineswegs bettelnd und auch nicht beunruhigt, als ob er befürchte, dass ihn Ludwig vielleicht zurücklassen könnte; nicht einmal fragend blickte er drein, sondern er vertraute sichtlich Ludwigs weiteren Plänen, auch wenn er sie noch nicht kannte.

Als das Rollgitter heruntergelassen wurde, ging Ludwig entschlossen auf ihn zu, band ihn los und führte ihn an kurzer Leine davon. Der Hund lief dabei so selbstverständlich neben ihm her, als ob er nichts anderes erwartet hätte. In einer Telefonzelle im nahen Postamt musste er mehrere Groschen opfern, um sich bis zur Polizeihundestaffel, die es aber gar nicht mehr gab, durchzufragen. Der Hund stand die ganze Zeit unbewegt neben ihm, als höre er zu, und während Ludwig redete, drückte er plötzlich seinen Hals kraftvoll gegen Ludwigs Oberschenkel; der verhaspelte sich ob dieser überraschenden Zuwendung gleich mehrmals hintereinander, und als er auch noch die Körperwärme des Hundes durch den Stoff der Hose spürte, war er für einen Augenblick so glücklich wie schon seit Wochen nicht mehr. Schließlich hatte er die zuständige Polizeistelle gefunden.

„Nix Hundestaffel! Wir ham hier in Nämbäach momentan überhaupt nur noch einen Diensthund“, hörte er, „und der ist mit seinem Diensthundeführer nach Haus, und das Büro in der Hunoldstraße 5 ist fei erst morgn früh ab 8 Uhr wieder b’setzt.“

‚Der ist nicht nach Haus‘, wollte Ludwig noch sagen, aber da war bereits aufgelegt. Ludwig ging schon einmal zu der angegebenen Adresse, den größten Teil der Strecke in einem leichten Laufschritt, weil er spürte, wie sehr dem Hund Bewegung fehlte, und später nächtigte er dann dort im Treppenhaus hinten in einer abgelegenen Ecke, da, wo es hinunterging in den Hof und in den Keller. Ein dicker Packen alter Zeitungen, den er im Keller fand, machte, sauber ausgebreitet, das Lager zwar nicht viel weicher, aber schön warm, wenn man eine Weile darauf gelegen hat. So war die Nacht komfortabler als die meisten bis jetzt auf seiner Reise, jedenfalls trocken und ohne Störungen und mit einer durchaus angenehmen leichten Anwärmung durch Anschmiegen seines Rückens an den Rücken des Hundes, der dieses gemütliche Zusammensein zu genießen schien.

Am nächsten Morgen traf dann Ludwig auf einen freundlichen jungen Beamten, der den Hund zu kennen schien, denn er begrüßte ihn, wenn auch ziemlich freudlos, mit ‚Gaski‘, und auch der verhielt sich eher mürrisch.

„Hast du Zeit? Wir sind da bös in der Bredouille!“, sagte der Beamte in einem seltsamen Deutsch, wie es Ludwig noch nie gehört hatte.

„Ich habe immer Zeit“, sagte Ludwig, „ich bin froh, wenn ich was zu tun kriege!“

„Der Gaski muss Punkt neun Uhr beim Veterinär im Präsidium sein – das ist heut wieder ein Gfrett! Ich glaube, er soll geimpft werden oder was, und ich habe keinen Diensthundeführer. Kannst du ihn vielleicht hinbringen? Du kommst ja prima mit ihm zu Streich! Bei dir geht er wenigstens mit. Aber beeil’ dich! – Wenn du zurückkommst, gehen wir zusammen zum Essen und ich erkläre dir alles. Wer weiß, vielleicht können wir etwas zusammen machen!“

„Komm, Gaski, los!“ rief Ludwig und schon rannte er in einem leichten Laufschritt davon, den nicht angeleinten Gaski nah neben sich. Wenn er einmal stehen blieb, um in dem Stadtplan, der ihm mitgegeben worden war, nach dem Weg zu sehen, behagte das Gaski gar nicht; er zeigte alle Anzeichen von Ungeduld, blieb nur unruhig stehen, blickte immer wieder an Ludwig hoch und unterdrückte mühsam sein Bellen, weil er wusste, dass ihm Bellen ohne besonderen äußeren Anlass verboten war. –

Als sie gegen Mittag zurückkamen, streckte der Polizist Ludwig seine Hand entgegen und nannte seinen Namen.

„Eugen Saller“, sagte er und dazu noch irgendeinen Polizeidienstgrad, den Ludwig nicht verstand.

„Herkommer, Ludwig Herkommer“, antwortete Ludwig.

Auf dem Weg in die Kantine, auf dem Gaski Ludwig wie selbstverständlich streng bei Fuß begleitete, plauderten sie über Belangloses, doch der Polizist hörte genau hin, um ein Bild von diesem Ludwig Herkommer zu gewinnen. An der Essenausgabe reichte der Polizist seine Essensmarke mit der Bemerkung hin:

„– und ein Gast.“

Für diesen bekam er einen Laufzettel, auf dem er, bevor er ihn zurückreichte, ‚Bewerber‘ angekreuzte, das sah Ludwig, der direkt neben ihm stand, ganz genau. Dann fragte der Polizeibeamte noch, ob sie vielleicht für den Hund noch irgendetwas hätten und die Küchenfee rief vergnügt:

„Komm, Gaski“, und ging mit ihm nach hinten.

Als sie dann saßen, erfuhr Ludwig mehr über die Polizeihundestaffel, die früher größer gewesen sei, aber jetzt nur noch aus einem einzigen lächerlichen Hund bestehe, eben Gaski, der ein Spitzenhund sei, dessen Diensthundeführer, der Horlacher Karl, aber gestern Mittag plötzlich von der Straße weg ins Krankenhaus hätte gebracht werden müssen, wie er vorhin erst erfahren habe. Aha, daher also der festgebundene Gaski vor dem Kaufhaus, dachte Ludwig. Der Horlacher Karl komme nicht so schnell wieder. Wahrscheinlich wolle er auch gar nicht so schnell zurückkommen, denn diesem Gaski sei er absolut nicht gewachsen gewesen. Umgekehrt habe Gaski seinen Diensthundeführer wahrscheinlich auch nicht recht gemocht. Wenn von den beiden überhaupt einer der Führer gewesen sei, dann der Gaski. Und er selbst habe nun einmal nicht die entsprechende Ausbildung und verwalte die Hundestaffel nur nebenher, und mit dem eigensinnigen Gaski komme er schon gar nicht klar.

„Ich weiß nicht, wie das weitergehen soll!“

Und dann fragte er unvermittelt:

„Wie alt bist du, Herkommer?“

„Siebzehn!“, log Ludwig, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern.

„Achtzehn solltest du schon sein, obwohl du ja nicht als Beamtenanwärter eingestellt werden würdest, sondern nur befristet angestellt als Aushilfe-Diensthundeführer, befristete Anstellung ist neuerdings bei bestimmten Spezialisten möglich. Viel gibt’s freilich nicht.“

„Das macht nichts. Ich bin momentan ziemlich abgebrannt. Eigentlich total abgebrannt. Hauptsache ich habe erst einmal was. Und das wäre doch ein feiner Posten, mal für eine Weile!“

„Ich habe gleich gesehen, dass du auf der Walz bist. Da ist es immer gut, wenn man irgendwo erst mal wieder ein bisschen ankern kann.“

„Sie können voll auf mich rechnen!“, sagte Herkommer und wunderte sich selbst, wie feierlich er das herausgebracht hatte.

„Geh, lass uns ruhig ‚du‘ zunander sagen!“, schlug Eugen vor, der bestrebt war, sich mit Ludwig Herkommer, diesem offensichtlich doch recht tüchtigen Kerl, der ihm imponierte und der Schutz und Förderung verdiente, näher zu verbünden und ihn bei sich festzuhalten. Sie schüttelten einander die Hände, Eugen war fast gerührt, Ludwig überhaupt nicht.

„Ich werde jedenfalls sehen, was sich machen lässt. Bis morgen Mittag wissen wir Bescheid. Am besten, du kommst morgen wieder, zum Mittagessen in der Kantine. Ja, und der Gaski? Was machen wir mit dem? Am besten, du nimmst ihn mit, da ist er am besten aufgehoben, und ich hab’ ihn nicht am Bein.“

„Ich werde mit ihm etwas arbeiten! Das tut ihm gut. Mit dem ist in letzter Zeit nicht genügend gemacht worden!“, stellte Herkommer fest und wusste jetzt auch, warum Gaski so rasch, eigentlich schon vor dem Kaufhaus, zu ihm übergelaufen ist – sein Herr war nicht sein Herr gewesen. Aber während er noch darüber nachdachte, kam ihm in den Sinn, dass bei der Quartiersuche, die jetzt anstand, Gaski gewiss hinderlich sein würde – nun, er würde die Suche eben mit ein paar strengen Warteübungen für Gaski verbinden. Wenn er erst einmal eine Schlafstelle oder gar ein Zimmer gefunden hätte, würde er danach sicherlich auch den wohlerzogenen Gaski mitbringen können, nein, nicht einfach mitbringen, er würde artig fragen ‚Darf ich Ihnen meinen Mitarbeiter vorstellen, meinen Diensthund Gaski?‘, und von dem wird jede Wirtin, glaubte Ludwig, sofort angetan sein, und wenn er ihr dann noch die Polizeimarke am Halsband zeigen würde, dann wären gewiss auch ihm gegenüber die letzten Zweifel behoben. Nur Gaski gleich bei der ersten Begegnung mitzubringen, das würde schief gehen. Herkommer war schon immer stark darin gewesen, jede neue Situation sofort und als Erstes danach zu beurteilen, was sie an Möglichkeiten enthielt, die für seine Absichten von Vorteil waren oder ihnen eher hinderlich sein könnten.

Und genau so, wie er sich das vorgestellt hatte – wie er es geplant hatte, wäre zu viel gesagt –, verlief die Quartiersuche dann auch. In dieser eher ärmlichen Vorstadtgegend mit ehemals stattlichen, aber inzwischen heruntergekommenen oder mindestens schon ziemlich abgewohnten Häusern aus dem letzten Jahrhundert waren viele Mieter gezwungen, wenn sie in diesen elenden Zeiten ihre großen Wohnungen halten wollten, eines oder auch mehrere Zimmer möbliert unterzuvermieten oder auch, in den besonders abgewirtschafteten Häusern, eine Anzahl von Schlafstellen anzubieten; auch eine Schlafstelle wäre ihm fürs Erste recht gewesen.

Schon bei seinem zweiten Versuch hatte er bei einer Frau Bohner, die ganz oben auf seinem Zettel stand, Erfolg. Ein richtiges Zimmer ganz für sich! Ein altmodisches, aber ordentliches Bett, sauber bezogen, ein schwarz gewichster Kanonenofen, ein paar Möbel und auf der Kommode ein Wachstuch als Decke und eine weiße Waschschüssel mit Krug.

Frau Bohner mochte Anfang oder Mitte dreißig sein und lachte viel. Ludwig hatte sich bis dahin Zimmerwirtinnen alt und griesgrämig vorgestellt. Sie hatte kurzgeschnittene rotbraune Haare, mehr braun als rot, ihr Mann sei im Krieg geblieben, Kinder habe sie leider keine, und deshalb sei die Wohnung eigentlich viel zu groß, sodass sie seit der Inflation ein oder zwei Zimmer vermieten müsse, die Mitbenutzung des Badezimmers sei selbstverständlich, da müsse man sich halt absprechen, und sie sei Fotografin, deshalb wäre das Badezimmer vollständig abzudunkeln, in der Wohnung mache sie aber kaum mehr etwas, und die Entwicklungstanks, die noch im Badezimmer stünden, wolle sie ohnehin demnächst runter in die Waschküche schaffen.

Frau Bohner wunderte sich über sich selber, wie redselig sie plötzlich gegenüber diesem jungen Mann war. Bei zwei anderen Interessenten gestern, auch ordentliche Leute, war nur das Nötigste gesprochen worden, und es fiel ihr auf, wie sehr sie sich ins Zeug legte, um ausgerechnet diesen unbefangenen Jüngling als Mieter bei sich aufnehmen zu können. Ja, den wollte sie!

Sie rief sich zur Ordnung, als sie das dachte. Das geht doch nicht, Frau Bohner (so redete sie sich in ihren Selbstgesprächen an, die sie häufig führte, denn sie war schon lange allein), wie sich das anhört! Dieser junge Mann könnte fast dein Sohn sein! –

Auch als Herkommer gegen Abend mit Gaski und seinem bescheidenen Gepäck, in der Hauptsache einem Rucksack, anrückte, klappte alles wie vorgesehen. Gaski musste geahnt haben, worauf es ankam, und dass jetzt alles von seinem Verhalten abhing, und er zeigte sich von seiner besten Seite, Frau Bohner schmolz dahin. In geschäftlichen Dingen allerdings unerfahren, sah sie nur noch eine Schwierigkeit: Im vorgedruckten Mietvertrag stand, dass der vereinbarte Mietzins zum Monatsbeginn, spätestens am dritten Werktag eines jeden Monats zu entrichten sei, und wenn er nun mitten im Monat einziehe, müsse er die restliche Miete für diesen Monat womöglich sogleich bezahlen – oder nicht? –, und sie sei sich gar nicht sicher, ob es überhaupt erlaubt sei, von diesem gedruckten offiziellen Mietvertrag einfach abzuweichen, sonst könnte er natürlich gern erst am Monatsende zahlen. Herkommer gab offen zu, dass er wahrscheinlich erst morgen von seiner neuen Dienststelle Geld bekomme, mindestens würde er morgen erfahren, wann das sein wird. Frau Bohner schien erleichtert, dass sich da ein Ausweg andeutete.

Von Eugen Saller erfuhr er am nächsten Tag, dass bei der Behörde Gehälter oder sonstige Bezüge erst am Monatsende ausbezahlt würden, lediglich Beamte und Beamtenanwärter bekämen ihr Gehalt im Voraus, nämlich schon zum Beginn eines jeden Monats. Aber, so fuhr er fort, als er Herkommers besorgtes Gesicht sah:

„Ich werde dir aushelfen. Hier hast du 20 Mark bis Monatsende.“

„Soviel brauche ich doch gar nicht. Danke, danke. Die Miete macht doch bloß zwölf Mark im Monat.“

„Nee nee, lass mal, Ludwig, das geht schon. Ich habe mit der Personalabteilung gesprochen, die Sache klappt. Das rechnen die über Sondereinsätze ab, sonst wären wir ja auch bös aufgeschmissen hier. Die wissen im Moment nur noch nicht, was genau herauskommt, aber schon vor Monatsende etwas auszuzahlen, das ginge nicht. Ich kenne diesen Zeitgenossen dort, ein ausgesprochener Ärmelschoner, aber zuverlässig ist er schon. Ich habe ihm gesagt, er brauche sich nicht überschlagen, ich würde dir mit ein paar Mark aushelfen. Weißt du, was er da gesagt hat? ‚Du bist total verrückt geworden, Saller! Du wirst dein Leben lang immer nur ausgenützt werden.‘ Aber meine Mutter hat immer gesagt, Öschänn, es ist tausendmal besser, ausgenützt zu werden als selber der Ausnützer zu sein. Und bei dir, Ludwig, habe ich überhaupt keine Angst.“

„Ist ‚Öschänn‘ elsässisch?“, fragte Herkommer.

„Ja. Ich bin noch gar nicht so lange hier. Drüben gab es für mich wenig Chancen, ich war auch noch furchtbar schüchtern. Ich bin dann bei so einem paramilitärischen Haufen in den Vogesen gelandet als der Jüngste von allen. Ich weiß heute noch nicht so recht, wofür die genau waren und wogegen. Wenn’s kein Geld gab, gab’s kein Geld, c’est tout; und wenn’s Geld gab, hattest du auch keines, denn dann hast du erst mal die Schulden an deine Copains zurückzahlen müssen. Dann lieber bei einer richtigen Organisation sein, so wie hier. Ich bin in Nürnberg ohne weiteres als Deutscher anerkannt worden, weil ich vor dem Krieg geboren bin, 1911 in Niedermorschwihr – das ist ein Nest hinter Colmar, schon in den Bergen gelegen –, da war das Elsass noch deutsch, und drum haben sie mich sogar auf der Polizeischule genommen, als Beamtenanwärter. Wenn es auch für mich anfangs arg hart war, hier ist ja alles anders!“

Als Ludwig Herkommer am Abend die Treppen zu seinem neuen Zuhause hinaufstürmte, mit Gaski im Gefolge, da freute er sich, dass er Frau Bohner nun doch nicht zu vertrösten brauchte, sondern ihr die Miete gleich würde bezahlen können. Er traf sie aber nicht an. In seinem Zimmer hatte sie frische Handtücher über den Ständer neben der Kommode gehängt und außerdem noch einen ganzen Stapel in die Schublade getan. Im Eck neben dem Ofen lag, offenbar für Gaski gedacht, eine Drittelmatratze, über die sie einen alten Militärmantel gezogen hatte. Gaski verstand schneller noch als Ludwig.

Als dann Frau Bohner nach Hause kam, hatte Herkommer, weil er am nächsten Morgen früh aufstehen musste, schon kein Licht mehr an. Sie warf einen frohen Blick auf seine Tür, so wie man auf ein schlafendes Kind blickt, und verschwand so leise wie möglich im Badezimmer. Ludwig, der erst wenige Minuten vorher zu Bett gegangen war, war noch wach und verfolgte alle Geräusche; wahrscheinlich, nahm er an, schlief Gaski auch noch nicht und hatte seine Ohren aufgestellt und sogar seinen Kopf gehoben. Unter dem Eindruck der Geräusche musste Ludwig sich erst klarmachen, dass er nicht in eine fremde Wohnung eingedrungenen war, sondern dass das hier jetzt sein Revier, sein eigenes Revier war, jedenfalls bis zur Zimmertür. Das war ein tröstlicher Gedanke. Wahrscheinlich steht sie jetzt im Bad nackig vor dem Spiegel, dachte er noch, dann schlief er ein. –

Ludwig Herkommer und Gaski hatten oft tagelang keinen Einsatz.

„Ihr beide seid nicht da, um ständig im Einsatz zu sein“, sagte Eugen Saller, wenn Ludwig sich beklagte, „sondern ihr seid da, um ständig zur Verfügung zu stehen, verstanden?“

Und da Herkommer nicht in Eugens Amtsstube herumsitzen wollte, arbeitete er mit Gaski fast jeden Tag, oft viele Stunden lang.

„Aber bittschön, nur hier in der Nähe“, ermahnte ihn Eugen, „damit ich euch nicht lange suchen muss, wenn ihr plötzlich gerufen werdet!“

Herkommer hatte in Eugens endlosen Unterlagen eine gut bebilderte Dienstvorschrift für das Training von Polizeihunden ausfindig gemacht, mit der aber noch kein Mensch gearbeitet hatte, denn er musste erst mühsam die Seiten mit dem Messer aufschneiden. Obwohl er seinerzeit die gesamte ‚kynologische Bibliothek‘, wie Dr. Strauss seine einschlägige Hundeliteratur scherzhaft nannte, durchgeackert hatte, fand sich in der Dienstvorschrift doch so manches, was Herkommer bis dahin noch nicht gekannt und Gaski noch nicht gekonnt hatte. So trainierten Herkommer und Gaski unermüdlich, und auch der gelehrige Gaski, der immer besser wurde, schien an Herkommers Umtriebigkeit Gefallen zu finden, obwohl er hart herangenommen wurde.

Abends kam Ludwig meistens erst spät nach Hause, wusch sich und fiel todmüde ins Bett. Und obwohl Frau Bohner zeitig aufstand, war er am Morgen, kaum dass sie in die Küche trat, schon wieder im Aufbruch. Ein kurzes ‚Guten Morgen, Frau Bohner!‘, vielleicht auch noch ein ‚Und vielen Dank für den Kuchen, den sie mir hingestellt haben!‘ und schon war er, von Gaski fast lautlos begleitet, wieder verschwunden, nur Gaskis Krallen hörte man noch auf den hölzernen Stufen im Treppenhaus. Sie war betrübt, dass sie Herkommer so wenig sah. Zu gern hätte sie sich mehr um ihn gekümmert, er ist ja noch so jung, so gern hätte sie ihm etwas Gutes getan, aber sie wusste nicht, was ihm fehlte oder fehlen könnte – vielleicht ein Pullover? Da kam sie auf die Idee, ihn für nächsten Sonntag zum Frühstück einzuladen, zu einem schönen Frühstück – sonntags hat er sicherlich Zeit. Ich muss natürlich achtgeben, dass ich nicht aufdringlich wirke. Die jungen Leute haben da wieder ganz andere Vorstellungen heute. Obwohl, so alt bin ich auch noch nicht. Aber vielleicht geht es ihm um nichts anderes als um ein möbliertes Zimmer, und im Übrigen will er so weit wie möglich in Ruhe gelassen werden. Auf der anderen Seite ist er doch immer so freundlich zu mir. Wenn ich nur daran denke, wie ausführlich er mir seinen Hund vorgeführt hat.

Bis Sonntag waren es noch fünf Tage, und Frau Bohner hoffte, dass sie dann schon den richtigen Ton finden würde. Sie hatte eben so gar keine Erfahrungen, wie man sich in solchen Situationen richtig verhält, man konnte ruhig sagen – das war es nämlich –, wie man mit Männern richtig umgeht, auch mit so ganz jungen. Als sie geheiratet hat, war sie fast noch ein Backfisch gewesen, ihr guter Mann hatte sie fast immer väterlich umsorgt und ihr alles abgenommen. Nach dem Krieg, inzwischen zu einer sportlich-eleganten Frau geworden, hatte sie sich dann ganz auf das Alleinsein eingestellt und sich nur noch ihrer Fotografie gewidmet. Zudringliche Redakteure oder Grafiker, mit denen sie zu tun hatte, konnte sie mit Freundlichkeit und überlegenem Lachen bequem auf Distanz halten. Aber das war jetzt eine ganz andere Aufgabe. –

Ende der Woche hatte Herkommer mit Gaski noch einen äußerst erfolgreichen Einsatz, bei dem die ganze Nacht über nach einem verloren gegangenen kleinen Mädchen gesucht werden musste. Erst gegen Morgen schließlich war dank Gaskis besonderer Fähigkeiten als Fährtenhund das Kind schlafend am Ufer der Regnitz gefunden worden. Über hundert Polizisten sollen im Einsatz gewesen sein, und es war eine gespenstische Szene, als die alle im ersten Morgengrauen zu klatschen anfingen, ohne sonst einen Laut von sich zu geben, als schließlich auch Gaski, den bremsenden Herkommer hinter sich herziehend, im Hof des Polizeipräsidiums eintraf. Soviel Beachtung und Anerkennung hatte Ludwig in seinem ganzen Leben noch nicht gefunden. Sogar die berühmte NZ, die Nürnberger Zeitung, hatte am Tag darauf über diesen Einsatz und den glücklichen Ausgang ausführlich berichtet. Herkommer erhielt ein besonderes Lob durch einen Polizeidirektor, und Eugen Saller meinte, dass der ein ganz hohes Tier gleich unter dem Polizeipräsidenten sei, und erst unter Ludwig Herkommer habe Gaski seine volle Leistungsfähigkeit entfaltet, und man erwäge, die Hundestaffel doch wieder im alten Umfang aufleben zu lassen. Vor allem Eugen war erleichtert, es hätte wegen Herkommers irregulärer Anstellung ziemlich geknistert im Amt, er habe nur nichts gesagt, um ihn nicht zu beunruhigen, aber nun wolle man ihn als zivilen Hilfshundeführer, einen Posten, den es sonst gar nicht gebe, bis zur Genesung des eigentlichen Diensthundeführers stillschweigend weiterbeschäftigen.

„Ha“, lästerte Eugen, „das war eine Anstellung auf dem ‚geheimen Verwaltungsweg‘, wie man so etwas nennt. Ist ja nochmal gut gegangen. Das sollten wir feiern! Machst du mit? Ich lade dich ein, Ludwig, am Sonntag habe ich Geburtstag, und da machen wir zusammen einen Ausflug in den Veldensteiner Forst, das Bier dort erinnert mich an unser Elsässer Bier, und den Gaski nehmen wir mit!“

„Oh, ausgerechnet! Ich bin für Sonntag von meiner Zimmerwirtin zum Frühstück eingeladen“, winkte Herkommer ab.

Eugen pfiff durch die Zähne. „So, so“, meinte er nur, „aha.“

Und dann noch einmal: „Aha!“

„Ach Quatsch, Öschänn, was du wieder denkst! Vielleicht wenn sie zehn, fünfzehn Jahre jünger wäre. Madam hat einen solchen Hintern!“, wobei er mit den Händen eine beträchtliche Breite andeutete.

Es ist nicht schön, wie ich von Frau Bohner spreche, dachte Ludwig, aber Eugens frecher Verdacht musste sofort zerstört werden. Auch im Interesse des Rufes von Frau Bohner. Und wie zur Entschuldigung fügt er noch hinzu:

„Ich kann da unmöglich absagen, Eugen! Die Frau reißt sich ein Bein für mich aus und versorgt mich, wo sie nur kann.“

„Eben, eben, ich hab’s doch gleich gewusst. So fängt so etwas immer an.“ –

Am Sonntag dann, Herkommer hatte auf Eugen Sallers Empfehlung hin ein kleines Sträußchen mitgebracht, war anfangs auf beiden Seiten doch eine leise Befangenheit zu spüren, die Frau Bohner zwar mühelos überspielte, Ludwig aber Unbehagen bereitete. Ich wäre doch besser mit Eugen in den Veldensteiner Forst gefahren, dachte er. Aber dann kam das Gespräch unerwartet rasch in Gang, als Herkommer über Einzelheiten bei der Rettung des kleinen Mädchens Karla berichtete, die nicht in der Zeitung standen, und Frau Bohner von ihrer Fotoreise zur Via Mala erzählte, mit der sie vor ein paar Jahren ihren Ruf als unerschrockene Bildgestalterin durch eine Anzahl verwegener Einstellungen begründet hatte. Herkommer fesselten diese großformatigen Fotografien, die ihm Frau Bohner zeigte, vor allem auch die Porträts der Einheimischen, solche Fotos hatte er noch nie gesehen. Das hätte er Frau Bohner nicht zugetraut. Sie imponierte ihm sichtlich, und vielleicht würde er selbst eines Tages eine solche Reise unternehmen in dieses unerhörte Gebiet. Sie sah übrigens gar nicht so uneben aus, fand er, und der breite Hintern, das war gar nicht so schlimm, wie er bei Eugen getan hatte. Aber um die Augen herum hatte sie doch schon kleine Fältchen.

Frau Bohner bewunderte aber auch Ludwig Herkommer. Wie er es denn schaffe, mit Gaski ohne Leine durch die Stadt zu gehen, von hier zu seinem Büro und von dort zum Polizeipräsidium oder sonst wohin, und immer sei der Hund ganz dicht neben ihm.

„Und ich neben ihm! Das ist es nämlich, wir sind Partner, kann man sagen, nicht Herr und Knecht, sondern Chef und engster Mitarbeiter mit dem gleichen Ziel, drum brauche ich in den meisten Fällen gar keine Leine. Natürlich ist im Dienst für bestimmte Situationen die Leine zwingend vorgeschrieben und auch notwendig, aber Gaski ist trotzdem nicht mein Sklave. Gleich nachdem wir uns kennengelernt hatten, hat er plötzlich und ganz unvermittelt seinen Hals an meinen Oberschenkel gepresst, aber da hat er sich nicht mir unterworfen, sondern mich eingeladen ‚Komm, wir arbeiten zusammen!‘ Der Gaski hat schneller noch als ich gesehen, dass wir beide ein selten gutes Paar abgeben würden.“

Herkommer wollte noch weiter erzählen, aber Gaski, der immerhin schon bald zwei Stunden still dagelegen war, wurde zunehmend unruhig, vielleicht, weil er gemerkt hatte, dass man über ihn sprach? Ludwig schimpfte mit ihm, aber in einem milden Ton: „Willst du denn tatsächlich schon gehen? Ich wäre so gern noch ein bisschen bei Frau Bohner geblieben.“

Und es war nicht einmal gelogen.

„Du bist mir vielleicht ein ungeduldiger Kerl!“

Gaski schaute Herkommer kurz an, dann senkte er den Blick und drehte den Kopf ein wenig, und es sah aus, als ob er verlegen zur Seite blicken würde. Frau Bohner war entzückt. –

„Na, wie war’s?“, wollte Eugen am Montagmorgen von Herkommer wissen, wobei ihn für einen Augenblick ein Anflug von Eifersucht befiel. Der winkte ab, aber so zweideutig, dass Eugen nicht erkennen konnte, ob das sonntägliche Frühstück ein Reinfall war oder ob Herkommer sich nur nicht äußern wollte.

„Geduld, Ludwig, Geduld, das wird schon werden“, schob Eugen betont beruhigend und für beide Fälle gleichermaßen passend noch nach.

„Jetzt lass mich doch in Ruh’, Eugen! Dem Öschähn seine Fantasie geht mal wieder mit ihm durch!“

Ein paar Minuten später klopfte es an der Tür, und zur Überraschung beider trat eine sportlich gekleidete Dame in die Dienststube – Frau Bohner. Sie wolle Ludwig nur diese interessante Hundepfeife, die er ihr gestern erklärt hätte und dann liegen gelassen habe, geschwind vorbeibringen, und da habe sie gleich noch ein Brötchen mit Salamiwurst für ihn dazugepackt. Herkommer dankte, etwas verwirrt, aber Eugen war so perplex, dass er erst wieder Worte fand, als sie mit fröhlichem Winken schon wieder verschwunden war.

„Mensch! Die ist ja vollkommen verschossen in dich, vollkommen! Ich sehe so etwas! Das sehe ich sofort! Es wäre das erste Mal, dass ich mich da täusche!“

Und obwohl Eugen zu diesen Worten nicht sein gerissenes Gesicht aufgesetzt hatte, sondern aufrichtig und fast treuherzig dreinblickte, ärgerte sich Herkommer über seine Zudringlichkeit, aber gleichzeitig fühlte er sich auch geschmeichelt – wer weiß, vielleicht hat er ja sogar recht. Er mochte nicht darüber nachdenken; was für ihn jetzt viel wichtiger war, war das Training mit Gaski. –

Durch das ständige Beisammensein mit dem Hund, der, wenn er nicht schlief, überall und ständig alles beschnüffelte, achtete Herkommer allmählich auch selbst immer mehr auf seine eigenen Geruchseindrücke, so bescheiden diese im Vergleich zu den Geruchserlebnissen von Gaski auch sein mochten, und so neigte er auch viel mehr als früher dazu, an Dingen, die ihn umgaben, zu schnuppern. So stieg ihm ein paar Tage später nach dem Duschen abends ein seltsam zarter Duft in die Nase, der ihn sofort in merkwürdige Unruhe versetzte. Er schnupperte suchend, und im nächsten Augenblick, fast zufällig, hatte seine Nase den Kragen des Bademantels von Frau Bohner entdeckt, der an der Tür hing. Ja, das war der Ursprung, er presste sein Gesicht in das Frotté und sog mit geschlossenen Augen mehrmals langsam und tief die Luft ein, und es war dennoch viel zu wenig, was er davon aufnehmen konnte.

Ludwig stand an diesem Abend noch zweimal auf, um in das Badezimmer hinüberzugehen und sich dieses Duftes, der ihn nicht mehr losließ, zu vergewissern.

Am nächsten Morgen zögerte er beim Frühstück in der Küche seinen Aufbruch noch ein wenig hinaus, um Frau Bohner, die schon zugange war, vielleicht noch zu begegnen, was er bisher eher vermieden hatte. Er wollte sie einfach noch einmal sehen, und als sie kam, fühlte er ein kaum niederzuhaltendes Verlangen, statt wie gestern Abend nur am Kragen ihres Bademantels nun an ihrem Nacken zu riechen.

Frau Bohner spürte die Veränderung in Ludwig und dass er sie plötzlich mit anderen Augen ansah; und als er, einer spontanen Eingebung folgend, sie fragte, ob er sie heute zu einem Abendessen einladen dürfe, da erschrak sie und rief viel zu schnell ‚Nein!‘ und war über die Schroffheit ihrer Absage selbst überrascht, die durch ein paar gestammelte Hinderungsgründe auch nicht geschmeidiger wurde und die sie, als sich Herkommer mit einem freundlichen ‚Dann aber demnächst mal, ja?‘ verabschiedet hatte, schon wieder bereute.

Drei Wochen später hatte Herkommer noch einen weiteren spektakulären Erfolg, bei dem es der Polizei nach einer zweitägigen Verfolgung mit Gaskis Hilfe gelungen war, einen schon lange gesuchten Gewalttäter gleich hinter Fischbach im Wald zu stellen, was Gaski erneut einen öffentlichen Auftritt verschaffte und diesmal in fast der ganzen süddeutschen Presse. Das war das letzte große Abenteuer. Wenige Tage danach erschien Gaskis alter Diensthundeführer, der Horlacher Karl, grinsend und ächzend wieder im Dienst. Gaski wusste nach einer zwar nicht unfreundlichen, aber auch nicht übermäßig begeisterten Begrüßung sofort, was das für ihn zu bedeuten hatte. Während Eugen und Horlacher ausführlich über alles Wichtige, was inzwischen so vorgefallen war, sprachen, hielt sich Gaski ganz nah bei Herkommer auf, als ob er Schutz bei ihm suche. „Der hat fei überhaupt keine Ausbildung als Hundeführer“, hörte er den Horlacher Karl sagen.

Herkommer wusste, dass er Gaski nicht helfen konnte. Es war ja abzusehen gewesen, dass irgendwann Gaskis richtiger Hundeführer wieder auftauchen würde, und jetzt war es soweit. Ausdrücklich hatte es in seinem Dienstvertrag geheißen, dass er nur für die Dauer der Abwesenheit des Diensthundeführers zur ‚Versorgung und Pflege des Diensthundes Nr. PH1103ST‘ – was nichts anderes bedeutete als Gaski – aushilfsweise und befristet angestellt sei. Vom Trainieren des Hundes oder gar von scharfen Einsätzen – über die immerhin sogar die Zeitungen berichtet haben, dachte Herkommer nicht ohne Stolz – war keine Rede. Wahrscheinlich musste da ja ein bisschen vertuscht werden, vermutete Herkommer, dass die Polizei die Verbrecher durch eine Aushilfe jagen ließ.

„Ich habe keine Ahnung, wie es bei mir jetzt weitergeht“, sagte er später zu Eugen, nachdem der Horlacher Karl mit Gaski abgezogen war.

„Aber ich, Ludwig!“, lachte Eugen, „da siehst du, wie ich Tag und Nacht für dich sorge! Aber im Ernst: In Bayreuth bei der Bahn suchen die dringend Heizer, das könnte ein Posten für dich auf Dauer werden. Das habe ich zufällig heute früh am Telefon im Zusammenhang mit einer ganz anderen Sache, einem Unfall, erfahren. Man muss eben nur die richtigen Leute im richtigen Augenblick anrufen!“

Er gab Herkommer einen Zettel mit einer Adresse.

„Dort ist die Bayreuther Personalleitstelle, Oberfränkische Eisenbahngesellschaft oder so ähnlich heißen die. Da fährst du so bald wie möglich hin und stellst dich vor!“ –

Die Bahnfahrt, in der 4. Klasse, war für Herkommer weniger eine Fahrt hin nach Bayreuth, in eine verheißungsvolle Zukunft, als eine betrübliche Fahrt weg von Nürnberg, heraus aus einer Erfolgsgeschichte, die ihm zu Hause keiner zutrauen würde, am wenigsten sein Vater. Den gutmütigen Eugen Saller, der sicherlich auch weiterhin sein Schutzpatron bliebe, würde er entbehren können; auch auf Frau Bohner, die ihn ja immer nur betun will, würde er verzichten können, genauso wie auf die paar anderen Leute, die er in Nürnberg kennen gelernt hatte. Aber ohne den Gaski zu sein, das konnte er sich einfach nicht vorstellen. Und wahrscheinlich würde die Trennung für Gaski noch viel schwerer sein. –

Milchbrüder, beide

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