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8_Ende der Kindheit

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Zwei oder drei Tage, nachdem seine Mutter so plötzlich verschwunden war, sagte sein Vater beim Frühstück: „Viktor –“ und machte danach eine kleine Pause.

Das kam häufig vor, dass sein Vater einer Bemerkung, die an ihn gerichtet war, ein ‚Viktor‘ vorausschickte und danach eine kurze Pause machte. Aber Viktor wusste im gleichen Augenblick, dass diesmal etwas Besonderes, etwas überaus Wichtiges und Einschneidendes folgen würde, obwohl sein Vater so wie immer sprach und dem Wort ‚Viktor‘ kein besonderes Gewicht gegeben hatte. Jetzt wird er mir sagen, was mit Mama ist, hoffte Viktor.

„Ich habe Herrn Herkommer gebeten, dich morgen nach Stefansfeld in das dortige Internat zu bringen. Ich habe schon alles geregelt.

– Packe doch bitte heute Nachmittag deine gesamten Schulbücher und sonstiges Lernmaterial ein. Bei deinen persönlichen Sachen, Wäsche und so, kann dir Fräulein Lydia helfen.

– Sollte dir in Stefansfeld noch etwas fehlen, können wir es dir nachschicken. Im Übrigen kommen schon bald die Osterferien, da kommst du ja für ein paar Tage wieder.

– Bis dahin weißt du auch ganz genau, was im Einzelnen noch gebraucht wird oder was du gerne noch dabeihättest.

– An Ostern werde ich dir dann auch sagen können wegen Mama – bitte frage mich jetzt nicht danach.

– Ihr fahrt morgen früh um sieben Uhr hier ab. Herkommer wird den Buick nehmen. Es wäre nicht gut, wenn ihr dort mit dem großen Wagen vorfahren würdet.

– Schön, und wir sehen uns ja heute Abend noch einmal zum Essen. Und vergiss nicht, nachher in der Schule deinen Klassenkameraden Adieu zu sagen, der Klassenlehrer weiß schon Bescheid.“

„Und was ist mit Ludwig?“, fragte Viktor mit dünner Stimme.

„Ludwig? Der bleibt, wo er ist.“

Damit verabschiedete sich sein Vater, so freundlich, aber auch so kühl wie meistens.

Viktor blickte auf seine Tasse. Die ‚Befehlsausgabe‘, wie Ludwig solche Ankündigungen des Konsuls gern nannte, hatte ihn seltsam unberührt gelassen, obwohl sie doch ganz unerwartet über ihn hereingebrochen war. Nur der kleine Trost mit den baldigen Osterferien und der Rückkehr für ein paar Tage, ausgerechnet dieser winzige Lichtschein, löste in ihm für einen Augenblick einen Anflug von Verlassenheit aus; das war so etwas wie ein schon im Voraus aufsteigendes Heimweh. –

In Stefansfeld, obwohl kein großer Ort, musste Herkommer erst eine Weile suchen, bis er schließlich vor einem zweistöckigen Haus mit einem weiten Nutzgarten anhielt und ausstieg.

„Das müsste es sein“, sagte er zweifelnd, und auch Viktor hätte sich ein Internat größer vorgestellt. Erst später fand er nach und nach heraus, dass er in einem ehemaligen Kinderheim gelandet war, das seine Betreiberin, eine pensionierte Lehrerin, die einer angesehenen Stuttgarter Familie entstammte, schon vor Jahren aufgegeben hatte, um auf ihre alten Tage nur noch ein knappes Dutzend Schüler aufzunehmen, die als sogenannte Externe die nahe Schlossschule, das eigentliche Internat, besuchten. Sein Vater hatte sich von einer solchen Unterbringung außerhalb des eigentlichen Internats eine strengere Überwachung – er nannte das Viktor gegenüber eine intensivere Betreuung – versprochen.

Herkommer ging zögernd bis an das Gartentor, beugte sich zum Klingelschild hinab, schaute auf seinen Zettel und nickte dann Viktor auffordernd zu. Er klingelte und bevor noch jemand öffnete, kam er zurückgeeilt, um das Gepäck auszuladen. Im ersten Stock sah Viktor hinter einer Scheibe das blasse Gesicht eines Mädchens, das aber sofort verschwand, als er hinaufsah. Es erinnerte ihn ans Bienchen, das gestern Nachmittag nicht zu Hause gewesen war, sodass er sich von ihm nicht einmal hatte verabschieden können.

Schließlich öffnete eine streng wirkende alte Dame die Tür, grauhaarig, großgewachsen und hager, in einem grauen Strickkleid, das bis zum Kinn zugeknöpft war. Überhaupt kamen nur Grautöne an ihr vor, selbst in ihren grauen Augen war nicht ein Hauch von Blau zu finden. Während der paar Schritte von der Haustür bis zum Gartentor, für die sie sich Zeit ließ, schaute sie den Ankömmlingen mit unbewegtem Gesicht entgegen, sehr wach, sehr aufmerksam, aber ohne die geringste einladende Freundlichkeit im Blick. Statt einer Brille trug sie einen Zwicker. Einen Zwicker auf der Nase einer Dame, das hatte Viktor noch nie gesehen.

„Ah, der kleine Viktor Zabener“, sagte sie dann nicht einmal unfreundlich, während sie ihm die Hand reichte, würdigte aber den Chauffeur daneben nicht eines Blickes.

„Dein Vater hat mir schon von dir berichtet. Ich hoffe, du wirst schöne Jahre bei uns verleben.“

Dass es Jahre werden könnten, dieser Gedanke sprang Viktor hinterrücks an und würgte ihn. Ja – sicherlich würden es Jahre werden! So weit hatte er noch gar nicht gedacht.

„Wir müssen gleich noch zusammen ein paar Formalitäten erledigen. Dann zeige ich dir das Haus.“

Viktor hatte noch nicht ein Wort gesprochen.

„Ja“, sagte er jetzt, sich widerstandslos in alles fügend.

„Schaffen Sie das Gepäck gleich nach oben in den zweiten Stock“, befahl sie Herkommer, den sie dabei kaum ansah. „Das Zimmer links von der Treppe!“

Vielleicht hätte Vater uns doch mit dem großen Wagen fahren lassen sollen, dachte Viktor.

Als Herkommer alles heraufgebracht hatte, verabschiedete er sich ungewohnt herzlich von ihm, richtig traurig schien er zu sein und strich ihm zum Schluss sogar über das Haar. Im Wegfahren winkte er noch ein paar Mal, Viktor winkte verzweifelt zurück und schaute ihm noch lange nach. Dann war der Buick nicht mehr zu sehen. Viktor wurde klar, dass damit auch das letzte vertraute Ding aus seinen Kinderjahren verschwunden war, und er nickte nur noch vor sich hin, als wollte er bestätigen, dass soeben seine Kindheit zu Ende gegangen war. –

Ludwig ging verdrossen am Flussufer entlang, seine Schritte waren langsam und ziellos, man mochte manchmal fast glauben, gleich würde er stehenbleiben.

Seit letztem Jahr, als Viktor ins Internat gesteckt worden war, hatte sich vieles verändert. Nicht nur, dass er sich nicht mehr mit ihm treffen konnte – was hatten sie doch alles an Spielen erfunden! Nicht nur, dass er morgens allein zur Schule gehen musste – und wie schön war doch stets der Nachhauseweg, besonders, wenn sie sich noch diesen oder jenen kleinen Umweg geleistet hatten! Und nicht nur, dass man bei den Hausaufgaben mal schnell die Köpfe hatte zusammenstecken können – eine gepfiffene Erkennungsmelodie im Innenhof, obwohl verboten, hatte genügt, und schon war Viktor oben am Fenster erschienen. Nein, auch sonst war seit letztem Jahr ohne Viktor alles anders geworden, ohne dass er genau hätte sagen können, was da anders geworden war, und erst recht nicht, woran das lag.

Bienchen war in letzter Zeit arg unzugänglich gewesen, stets hatte sie noch etwas anderes und Wichtigeres zu tun – ob das nur Ausreden waren? Ob ihr Vater, der Dr. Strauss, dahintersteckte, wegen dieser Geschichte mit den Hunden und seinem Auto? Jedenfalls schien ihr nicht sehr daran gelegen, mit ihm etwas zu unternehmen. Zu dritt waren sie eine kleine, feine Bande gewesen, aber zu zweit, da funktionierte das nicht mehr. Vielleicht hatte Bienchen früher wohl eher wegen Viktor als seinetwegen mitgetan. Könnte sein.

Auch in der Schule hatte er in letzter Zeit bei Streitereien in der Klasse einen schweren Stand. Obwohl er gewiss viel stärker als Viktor war, mit Viktor auf seiner Seite hatte er sich viel leichter durchsetzen können, ganz egal, worum es gegangen war. Jetzt aber kam es ihm manchmal vor, als ob sie sich alle gegen ihn verabredet hätten. So etwas war ihm schon einmal aufgefallen, bei der Waldfreizeit der evangelischen Jugend, da war Viktor ja auch nicht mit dabei, weil er katholisch ist. Die anderen hatten ihn alle schief angesehen und unfreundlich oder abweisend gar behandelt. Alle, obwohl nur wenige einander vorher schon gekannt hatten. Und das Schlimmste war, wenn sie ihn einfach stehen ließen. Mit keinem Einzigen hatte er sich ein bisschen anfreunden können.

So er sich recht erinnerte, setzten die ganzen Schwierigkeiten schon zu einer Zeit ein, als Viktor noch da war, und zwar – jawohl, so war es – es begann, nachdem er von Dr. Strauss rausgeworfen worden war und die Hunde nicht mehr ausführen durfte, ja, jetzt wurde es ihm ganz deutlich, seither war alle Welt so hässlich zu ihm, auch Personen, die von dem Vorfall bei Dr. Strauss gar nichts wissen konnten. Nur Viktor hatte diese Vorbehalte, die alle ihm gegenüber hatten, irgendwie auffangen oder ableiten können, ohne dass ihm das damals aufgefallen wäre. Für mich hat das alles hier, ging ihm durch den Kopf, keinen Wert mehr, ich habe hier keine Chancen mehr ohne den Viktor, bei niemandem.

Erst jetzt, da er weg war, spürte Ludwig, wie wichtig Viktor für ihn gewesen war. Den vollen Zusammenhang freilich hatte Ludwig nicht durchschaut. War es doch wohl so: Seine Erfolge mit den Hunden von Dr. Strauss hatten ihm die erste große Anerkennung in seinem Leben eingebracht. Er konnte etwas, was andere nicht so gut konnten, und war stolz darauf. Umso härter hatte ihn sein plötzlicher Rauswurf bei Dr. Strauss getroffen. Wie geprügelt und weichgeklopft war er damals aus dem Strausssche Haus getaumelt, alles Selbstvertrauen hatte er verloren, und mit wem er danach auch zusammentraf, überall signalisierte er unwillkürlich seine Bereitschaft zu völliger Unterordnung, stets darum bettelnd, ein wenig beachtet, angenommen und aufgenommen zu werden. Entsprechend geringschätzig wurde er behandelt, und je schlechter er behandelt wurde, desto schlimmer seine kuschende Unterordnung.

Viktor hatte ihm neulich einen seitenlangen Brief geschrieben – nie hätte er damit gerechnet –, in dem er das Leben im Internat schilderte und in dem auch die einzelnen Lehrer so schön beschrieben waren, dass Ludwig sie fast vor sich sah. Auch auf ihre früheren Streiche war er zu sprechen gekommen, und dass sie auch ihm sehr fehlten, hatte er geschrieben. Aber wahrscheinlich hat er jetzt neue Freunde, irgendwelche reichen Pinkel, obwohl er ihn am Schluss doch seinen alten Freund aus alten Zeiten genannt hat und sogar ihre Milchbruderschaft noch einmal erwähnte. Das hätte er ja nicht zu tun brauchen, wenn ihm nicht danach gewesen wäre, und das hatte Ludwigs Stimmung für eine Weile aufgehellt.

Er hatte versucht, ihm mit einem ebenso schönen Brief zu antworten. Aber was sollte er Viktor schon mitteilen? Es gab überhaupt nichts Neues hier, und die Gefühle, die er Viktor gegenüber hegte, konnte er gar nicht so genau spüren, wie er sie hätte spüren müssen, um sie zu schildern, und niederschreiben konnte er sie erst recht nicht. Er hatte mehrmals angesetzt, aber der Brief wollte ihm nicht gelingen, alles viel zu unbeholfen, das merkte er beim Durchlesen selbst. Und viel zu kurz war der Brief geraten, und er enthielt nur ein paar leere Allerweltsredensarten – kein Vergleich zu Viktors Brief, der an manchen Stellen geradezu strotzte vor Lebenslust – nein, so konnte er seinen Brief nicht abschicken. Vielleicht würde er es heute Abend noch einmal versuchen.

Hier unten am Rhein war er immer mit den beiden Alsatians entlanggezogen. Bei dem schmalen Weg hier musste man, wenn man einen Prügel zum Apportieren warf, gut aufpassen, damit er ja nicht auf die steile Böschung fiel und dann ins Wasser hinunterkullerte. Denn da kannten die Hunde nichts, selbst im strengen Winter sprangen sie ohne Zögern ins eiskalte Wasser, und er hatte danach bei Straussens die Scherereien. Eigentlich war er froh, dass er da nicht mehr hin brauchte, nur wegen der Hunde tat es ihm leid. Er musste plötzlich daran denken, dass sein Vater von jeher schon gern mal über die Juden geschimpft hat; er hatte ihm dann manchmal entgegengehalten, dass aber Straussens doch gewiss anständige Juden seien, doch sein Vater hatte dann gewöhnlich „Jud bleibt Jud“ gebrummt, und da hatte er wohl wirklich einmal recht. Höchstens Bienchen, meinte Ludwig, könnte vielleicht eine Ausnahme sein.

Heimwärts machte er dann noch einen großen Bogen durch die Stadt und kam viel zu spät zum Abendessen, was ihm einen schroffen Rüffel von seinem Vater eintrug. Schweigend, aber ohne Trotz im Gesicht, ging er in sein Zimmer. –

In den folgenden Monaten gab es immer wieder neue Zusammenstöße zwischen dem alten Herkommer und seinem Sohn, die nicht weiter erwähnenswert wären, wenn Ludwig dabei nicht von Mal zu Mal weniger beteiligt gewirkt hätte, was sicherlich mit ein Grund dafür war, dass der alte Herkommer, der ‚mehr Wirkung‘, wie er sagte, erwartete, von Mal zu Mal heftiger wurde. Aber anstatt ‚Wirkung zu zeigen‘, was ihm gewiss eine mildere Behandlung eingebracht hätte, ging Ludwig jedes Mal, wenn die Standpauke oder Schlimmeres beendet war, bemerkenswert unberührt und ungerührt mit gleichgültigem Gesicht in sein Zimmer, ohne das geringste Anzeichen von Reue oder wenigstens Einsicht, aber auch ohne jeden Anflug einer Verstocktheit oder gar von abschätzigem Hohn.

Er sprach in dieser Zeit kaum einmal mehr mit seiner Mutter und mit seinem Vater schon gar nicht. Jedenfalls würde er eines Tages abhauen, das war sicher. –

Milchbrüder, beide

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