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1_Dr. Strauss und seine Kanzlei

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Die Herren standen in der Bibliothek um den großen Konferenztisch, der in seinem Tapet mit grünem Filz bespannt war, erörterten die neuesten Nachrichten und Gerüchte über den Machtwechsel in Berlin und warteten auf den Beginn der Samstagsbesprechung.

Als Dr. Strauss eintrat, verstummten die Gespräche entgegen sonstiger Gepflogenheit und alle sahen zu ihm her.

„Nanu?“, rief Strauss aufgeräumt in die plötzliche Stille hinein und tat ahnungslos.

„Herr Feldmeier fehlt noch“, versuchte Dr. Welde, der Senior der Sozietät, das peinliche Schweigen zu überbrücken, „– ah, da kommt er ja schon.“

Feldmeier entschuldigte sich etwas verlegen in einem leichten Sächsisch und mit ein paar kleinen ungeschickten Verbeugungen nach allen Seiten.

„Oh nein, lieber Herr Kollege, Sie sind gerade noch in der Zeit!“

Jede Gruppe, deren Mitglieder längere Zeit zusammenarbeiten und die sich fast täglich sehen, entwickelt ihren eigenen Kodex ungeschriebener Verhaltensregeln, mit dem sie sich von anderen Gruppen gleicher Art unterscheidet, ohne dass den Mitgliedern diese Regeln – oft von rechter Belanglosigkeit – in ihrem Inhalt und in ihrer großen Zahl bewusst würden. So hatte sich beispielsweise in der Kanzlei Dr. Welde, Dr. Strauss und Kollegen für das samstägliche juristische Kolloquium, bei dem es recht zwanglos zuging und statt des Tagesgeschäfts vor allem interessante Rechtsfälle erörtert wurden, die Regel herausgebildet, sich nicht gleich hinzusetzen, sondern stehend miteinander zu plaudern oder in den neuesten Heften der ausliegenden juristischen Fachzeitschriften zu blättern, bis alle eingetroffen waren und der Senior Platz nahm, dem die anderen dann ohne sichtbare Verzögerung folgten, wobei sie sich, wie auch der Senior selbst, durchaus weiter unterhielten bis zu dem Augenblick, da dieser nach einigen Sekunden den Kopf hob und das nun versammelte Kollegium noch einmal als Ganzes begrüßte und kurz die Tagesordnung bekannt gab.

An diesem Tage allerdings wurde Fachliches nur mit vermindertem Engagement abgehandelt. Immer wieder drängten sich die jüngsten Ereignisse in Berlin in den Vordergrund, die ja genügend rechtliche Probleme aufwarfen, sodass es bei einigem Geschick ohne Weiteres möglich war, die Vorgänge in Berlin zur Sprache zu bringen, ohne vom Diskussionsleiter ermahnt zu werden, doch bitte nicht abzuschweifen.

„Man weiß noch zu wenig, die Machtübernahme ist ja erst am Montag erfolgt.“

„Wobei das Wort ‚Machtergreifung‘ die Geschehnisse schon besser beschreibt als ‚Machtübernahme‘, aber bei Weitem noch nicht ausreicht!“, ergänzte Dr. Welde verdrossen.

„Es sollen schon am nächsten Tag Fälle von Schutzhaft vorgekommen sein, betroffen scheinen vor allem Kommunisten und Juden. Übrigens vereinzelt auch in Nürnberg, in ziemlich wilder Form durch SA-Horden.“

„Kollege Jacke in Berlin“, berichtete Dr. Welde, „mit dem ich gestern in anderer Sache telefoniert habe und der einen der Inhaftierten auf Veranlassung der Familie vertreten soll, hat seinen Mandanten noch kein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Man stelle sich das vor, meine Herren!“

„Oh, Schutzhaft ist keine Erfindung der Nationalsozialisten!“, fiel der stets etwas zu forsche Dr. Barousse ein, unverkennbar Mitglied einer schlagenden Verbindung, der sich in seiner aktiven Zeit arg hatte zurichten lassen und der nun gewisse Artikulationsschwierigkeiten bei Worten mit labialen Lauten hatte. „Bei uns in Preußen gab es Schutzhaft schon seit achtzehn-achtundvierzig!“

„Ich weiß, ich weiß“, entgegnete Dr. Welde ein wenig gereizt, „aber dann sagen Sie doch bitte auch dazu, dass bei Preußens die Schutzhaft strikt geregelt und auf 24 Stunden befristet war! Kollege Jacke gestern am Telefon meinte übrigens nicht ohne Sarkasmus, bei dieser merkwürdigen Form von Schutzhaft sollte man besser von ‚Prügelhaft‘ sprechen.“

Jedes Mal, wenn an diesem Vormittag bei der Erörterung des Machtwechsels von Juden die Rede war, ging von diesem oder jenem in der Runde ein scheuer oder verstohlener und manchmal auch gänzlich unverhohlener Blick zu Dr. Strauss, der scheinbar unbeteiligt zuhörte. Dr. Welde musste diese eigentümlich ungewisse Atmosphäre gespürt haben, sonst hätte er gegen Ende des Kolloquiums nicht noch eine Erklärung abgegeben, von der er hoffte, dass sie für alle, jedenfalls für die Associés, in Zukunft verbindlich sein würde. Mit erhobener Stimme sagte er im Ton eines Schlussworts:

„Lieber Herr Strauss! Alle maßgeblichen Beurteiler sind sich darin einig, dass dieser Spuk nicht lange gehen kann. Was aber auch kommen mag, Sie sind und Sie bleiben einer der Unseren!“

Die kleine Runde klopfte Beifall auf dem Besprechungstisch, einige spontan, andere eher pflichtgemäß folgend.

„Sie haben nicht zuletzt durch Ihr bahnbrechendes Vertragswerk für die Anilin respektive die I. G. Farben unsere Kanzlei erst groß gemacht.“

Erneuter Beifall.

„Sie bleiben bei uns, lieber Doktor Strauss, und wir bleiben bei Ihnen!“

Schlussbeifall, Dr. Welde war fast gerührt, das Kolloquium schien zu Ende, Auflösung der Versammlung.

Zu diesen vielleicht etwas pathetisch geratenen, aber überaus freundlichen Worten wollte freilich eine zustimmende Schlussbemerkung nicht mehr so recht passen, die Herr Feldmeier mit dem ausgeprägten Blick für das Praktische, den er vielleicht aus Sachsen mitgebracht hatte, noch anhängte.

„Bei den vielen jüdischen Klienten ist es für die Kanzlei sogar praktisch, wenn ein Jude mit dabei ist.“

Doch die Bemerkung ging, obwohl noch deutlich zu verstehen, im allgemeinen Aufstehen und Stühlerücken unter, und so fiel keinem auf, wie verräterisch sie im Grunde für die zwiespältige Haltung des Kollegiums war. –

Wie jeden Samstag, so fand dann auch am 4. März dieses denkwürdigen Jahres wieder ein Kolloquium statt. Nach den tumultuarischen Tagen eines augenscheinlich beginnenden Niedergangs aller Ordnung unmittelbar nach dem Umsturz war in den letzten Wochen wieder eine gewisse, wenngleich angespannte Ruhe eingetreten, und die politisch Interessierten erwarteten nun beklommen die Ergebnisse der am nächsten Tag stattfindenden Reichstagswahl. Die erste Verhaftungswelle nach dem Umsturz war verebbt, die Übergriffe auf Kommunisten, Sozialdemokraten und Juden mit wilden Verhaftungen nicht nur durch die Polizei, sondern vor allem auch durch eher selbständig operierende Trupps der SA, waren von der Parteispitze fürs Erste eingedämmt und die Urheber zurückgepfiffen worden.

Dann jedoch war in der Nacht zum letzten Dienstag das Reichstagsgebäude in Flammen aufgegangen, und da brachen die Jagd und der Sturm auf die Gegner des Regimes erst richtig los. Die Zahl der Verhaftungen schoss in die Höhe, die Zeitungen der Linken wurden auf der Stelle verboten, alle Büros der kommunistischen Partei geschlossen. Der tiefste Einschnitt jedoch war eine Notverordnung, die bereits am Tage nach der Brandnacht erging.

So bot sich schon vor Beginn der Sitzung reichlich Stoff für eine vielfältige und zum Teil sogar heftige Diskussion.

„Das war doch wohl das Werk der Kommunisten, glauben Sie nicht auch, Herr Dr. Welde?“, fragte einer der Referendare.

„Kollege Jacke in Berlin, mit dem ich in reger Verbindung stehe, erzählte am Telefon, in der Stadt spreche man allerorts davon, dass das die Nationalsozialisten angerichtet haben, zum Zeichen ihrer Verachtung des Parlaments.“

„Nein, nein, nach allem, was man so hört, sind die Nazis am meisten erschrocken“, meinte Herr von Marwitz. „Die waren im ersten Augenblick sogar überzeugt, dass das das Signal der KPD zum Aufstand sei.“

„Jaja, das habe ich auch gehört“, fiel Feldmeier ein, „die dachten, das sei das Fanal zum Bürgerkrieg!“

„Jedenfalls kam denen diese Brandkatastrophe – eine solche war es doch wohl? – enorm zupass!“, meldete sich der andere Referendar zu Wort.

„Jetzt hatten sie die Legitimation zum unerbittlichen Zupacken! Und die Notverordnung kam dann ja auch prompt!“

„Zu prompt, mein Lieber, zu prompt!“, meinte Herr von Marwitz.

„Wieso zu prompt?“

„Überlegen Sie mal! Mir macht doch keiner vor, dass es möglich ist, eine solche Verordnung an einem einzigen Tag zu beraten, endgültig zu formulieren, mit den Unterschriften des Reichspräsidenten, des Reichskanzlers, des Innenministers und des Justizministers versehen zu lassen – und das Ganze dann auch noch am gleichen Tag, am 28. Februar, dem Tag nach dem Brand, im Reichsgesetzblatt zu veröffentlichen. Nein, das lasse ich mir nicht einreden, da war ich zu lange in der Justizverwaltung tätig! Das hätten die niemals geschafft, wenn sie erst am Morgen des 28. damit angefangen hätten. Für mich ist das der klare Hinweis auf die Täterschaft! Das waren die selbst!“

„Na, ick weeß nich, Leute, ick weeß nich“, alberte Dr. Welde, wurde aber rasch wieder ernst, „der Text der Notverordnung scheint mir nicht besonders sorgfältig ausformuliert, ja man kann sogar gewisse Flüchtigkeitsfehler erkennen.“

Strauss nickte dazu nachdenklich, weil er das offenbar ebenso sah, während die jüngeren Kollegen das wohl nicht so deutlich empfanden.

„Das spräche dann also doch dafür, dass die Nationalsozialisten vom Reichstagsbrand überrascht worden sind?“

„Eben. Aber wie auch immer“, fuhr Dr. Welde fort, „ob sorgfältig ausformuliert oder nicht, jedenfalls sind damit, meine Herren, entscheidende Grundrechte außer Kraft gesetzt, und Willkür hält Einzug.“

„Na ja –“, wollte der stets umgängliche Herr Strotkötter relativieren, aber Dr. Welde ließ sich nicht aufhalten.

„Wie wollen Sie es denn sonst heißen, lieber Herr Strotkötter, wenn die Polizei ohne Nennung von Gründen Verhaftungen vornehmen kann? Wenn den Betroffenen jeglicher Rechtsschutz verweigert wird, vor allem wenn die Polizei bei den Verhaftungen auf Hitlers Privatarmee, auf diese Rabauken-SA, zurückgreifen darf? Von nun an, meine Herren, ist die Unversehrtheit der Wohnung und des Eigentums nicht mehr gewährleistet, das Post- und Fernmeldegeheimnis ist passé, genauso wie die Meinungs-, Presse- und Vereinsfreiheit! Das ist das Ende des Rechtsstaats, meine Herren!“

„Hoffen wir, dass das eine Übergangserscheinung ist“, meinte der Referendar Mack, und auch der gute Herr Strotkötter wollte wieder vermitteln:

„Wenn die revolutionären Tage erst einmal vorüber sind –“

„Nun, warten wir es ab, ich bin mir da nicht so sicher“, versuchte Dr. Welde zu einem Ende zu kommen. „Es heißt zwar ‚Notverordnung‘, aber ich garantiere Ihnen, meine Herren, das hat Bestand auf Dauer, denn damit ist wunderbar bequem zu regieren. Wer sich dieses Werkzeug erst einmal verschafft hat, der gibt es so schnell nicht mehr aus der Hand!“

Schließlich ging man zur eigentlichen Sitzung über. Der Einzige, der in dem ganzen Disput kein Wort gesprochen hatte, war Strauss. –

Es vergingen keine vier Wochen, und schon hatte sich durch neue Aktionen der ruhelosen Machthaber Straussens Situation in der Kanzlei weiter verschlechtert. Am 1. April, einem Samstag, organisierte der Reichspropagandaminister Dr. Josef Goebbels in enger Verbindung mit dem schon einschlägig erfahrenen Julius Streicher1, dem Nürnberger Gauleiter, einen Boykott jüdischer Geschäfte und Warenhäuser. Die Aktion begann in Stadt und Land um Punkt 10 Uhr am Vormittag, ohne dass reichsweit auch nur ein einziges jüdisches Geschäft ausgelassen worden wäre. Vor den Eingängen zogen SA-Leute als Wachen auf, beschmierten die Schaufenster mit dem Davidstern und klebten Plakate ‚Deutsche! Wehrt euch! Kauft nicht bei Juden!‘ Da und dort wurden auch die Ladeninhaber verprügelt, vereinzelt gab es Tote. Auch viele jüdische Ärzte und Rechtsanwälte waren betroffen … ‚Die Juden sind unser Unglück! Meidet jüdische Ärzte! Geht nicht zu jüdischen Rechtsanwälten!‘

Entgegen den Erwartungen der Partei verhielten sich die Passanten meistens schweigend und eher reserviert, vor größeren Objekten bildeten sich Ansammlungen, aber selten nur stimmten die Zuschauer in die Feindseligkeiten mit ein, gelegentlich solidarisierten sie sich sogar mit den Bedrängten.

Hatten bis dahin die Festnahmen eher im Verborgenen und die Diskriminierungen nur im Hintergrund stattgefunden, so brachen nun Diskriminierung und auch Verfolgung auf breiter Bahn in aller Öffentlichkeit los. Nicht das geringste Bemühen um Vertuschung mehr, im Gegenteil, ostentative Zurschaustellung der Verfolgung und unverhohlene Ausgrenzung der Verfolgten.

Diese Aggression gegen die Juden hatte die größte Öffentlichkeit, vielleicht abgesehen von der Reichkristallnacht viel später. Jeder bekam es mit.

Bis dahin hatte die Propaganda vor allem die Aufgabe, bekanntgewordene Fälle von Diskriminierung und Verfolgung ‚verständlich‘ zu machen, sie zu verharmlosen, zu vertuschen oder einfach abzustreiten. Nun kehrte sich das geradezu um. Von jetzt an hatte sie dafür zu sorgen, dass die unerbittliche Härte des Regimes gegenüber den Juden wie überhaupt den Gegnern des Regimes möglichst publik und allmählich zur anzustrebenden und schließlich selbstverständlichen Einstellung für alle wurde. Das war von unmittelbarem Einfluss auf Straussens Situation in der Kanzlei, denn diese Verschiebung der Werte wirkte, wenn auch vielleicht abgeschwächt, natürlich auch in die Kanzlei hinein, und so gehörte er, auch für die ihm nach wie vor freundschaftlich Verbundenen, immer deutlicher zu eben diesen Ausgegrenzten.

„Ja, gewiss, Strauss selber ist schon in Ordnung“, hörte Strauss zwei Herren sich unterhalten, die gerade in die Bibliothek kamen und offenbar nicht bemerkt hatten, dass er blätternd hinter einem der freistehenden Doppelregale stand. „Aber allmählich stellt er eben doch eine gewisse Belastung für die Sozietät dar.“

„Die werden wir ja noch stemmen können!“

„Jaja, wir tun ja alles. Aber unterschätzen Sie nicht die Wirkung der Propaganda. Die Öffentlichkeit, alles andere als gefeit gegen den Antisemitismus, hat immer größere Vorbehalte gegenüber den Juden. Der Judenboykott richtete sich ja nicht nur gegen jüdische Geschäfte, sondern ausdrücklich auch gegen jüdische Anwälte und Ärzte. Wir gelten draußen allmählich als jüdische Kanzlei!“

Es waren wohl von Marwitz und der Referendar Mack, an sich zwei angenehme Kollegen und ein gut eingespieltes Gespann, die da miteinander sprachen. Marwitz war langjähriger Associé und hatte sich Mack, der als der hoffnungsvollste der drei Referendare bereits einen Vorvertrag als künftiger Associé in der Tasche hatte, als seinen besonderen Assistenten herangezogen, den er englisch ‚Mac‘ zu rufen pflegte und dem er als internes Kürzel und Diktatzeichen ‚Mc‘ zugewiesen hatte.

Strauss war äußerst unbehaglich zu Mute. Wenn sie ihn sehen würden! Das wäre ihm unendlich peinlich – als ob er sie hätte belauschen wollen! Aber wieso denn ihm peinlich, fragte er sich ärgerlich, was hatte er denn getan? Es war ihm doch nur deshalb so peinlich, weil er wusste, wie peinlich es den beiden sein müsste, wenn sie ihn sähen. Und es ärgerte ihn, dass er sich in seiner eigenen Kanzlei verborgen halten musste. Zum Glück gingen sie bald wieder. –

Milchbrüder, beide

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