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2_Der Judenboykott in Nürnberg am 1. April 1933
ОглавлениеAm Samstag des Judenboykotts war Violet Bohner nichtsahnend in der Früh zum Einkaufen gegangen. Der Konditor Rothenburger, den sie schon seit vielen Jahren gut kannte, war gerade damit beschäftigt, die breite Klinke und die Messingbeschläge der Eingangstür zu seinem Café auf Hochglanz zu bringen und erklärte ihr gut gelaunt, wie wichtig das sei, nicht nur, weil das jetzt in der Frühjahrssonne so wunderschön aussehe, wobei er prüfend einen Schritt zurücktrat, sondern weil das Messing nur dann, wenn es wirklich blank sei, die Bazillen, die sich unvermeidlich darauf ausbreiteten, abtöten könne. Violet hatte da ihre Zweifel, aber sie erfreute sich an seinem behaglich klingenden Fränkisch, das sie so gerne hörte, und sie überlegte, ob es vielleicht doch nicht ganz stimme, dass jede Großstadt auch die schönste Mundart im Lauf der Zeit verdirbt und zugrunde richtet, als plötzlich auf Rothenburgers Hand, die gerade noch einmal über die Rundung der Klinke fuhr, ein breiter Farbpinsel spritzend niederschlug und gleichzeitig, zusammen mit einem hässlichen Fluch, die Worte ertönten ‚Nimm dei Pfotn weg, Stinkjudd dreckiger, und mach fei Platz!‘
Es war seltsam, aber noch ehe Violet herumfuhr – in diesem winzigen Augenblick, da die samstägliche Vormittagsidylle umkippte in die Grausamkeit des organisierten Judenboykotts –, fiel ihr als Erstes schaudernd auf, wie ekelhaft ein Großstadtdialekt halt doch klingen kann, dann erst wich sie vor dem schwitzenden SA-Mann zurück, der riesengroß direkt hinter ihr stand und sich anschickte, halb über sie hinweg einen ungelenken Davidstern auf das Glas der Eingangstür zu schmieren.
Rothenburger stand sprachlos da, mit weit geöffneten Augen und offenem Mund, und wischte sich hilflos die Farbe von den Fingern, und Violet lief wie ein Kind weinend davon.
Sie hastete verstört durch die Straßen. Allenthalben das gleiche Bild: Geschäfte mit vollgeschmierten Schaufenstern; davor, Plakate klebend, Männer in braunen Uniformen; dazwischen ein paar überraschte Passanten, eher irritiert als begeistert; keiner von ihnen, der versucht hätte, in einen der Läden einzutreten. Sie lief und lief, als könne sie dem Geschehen entkommen, sie lief, als müsse sich doch endlich eine Straße finden lassen, in der noch Frieden herrschte und wo die Gewalt, die überall schon lauerte, noch nicht losgebrochen war.
Am schlimmsten wüteten die Trupps weiter im Norden der Stadt. Als Violet dort ankam, waren sie bei einem großen Automobilhändler gerade dabei, mit Hilfe einer fauchenden Lötlampe einen meterhohen Davidstern in ein Garagentor zu brennen. Das war, tiefschwarz auf dem dunkelbraunen Holz, für Violet, die Fotografin, ein ungemein bedrohlich wirkendes Bild, und die Straße roch nach Aufruhr, Brand und Krieg. Für einen Augenblick glaubte Violet, ein paar Häuser weiter in einem Rudel Uniformierter Ludwig erkannt zu haben, der sich schon seit Tagen nicht mehr zu Hause hatte sehen lassen. Als sie näher kam, sah sie, dass die Männer dort damit beschäftigt waren, mit offenbar vorher angefertigten Metallstempeln, die sie mit einem Schweißbrenner erhitzten, handtellergroße, aber durch die Art der Aufbringung recht exakte Davidsterne in das Holz dieser oder jener Haustür einzubrennen.
„Eines Tages werden wir noch die Juden selber so markieren“, unterhielten sich vergnügt zwei junge SA-Männer über ihre Arbeit.
„Ja, auf den dicken Arsch draufgebrannt. Wie die Brandzeichen bei den Pferden!“, lachten sie zusammen.
„Mensch, das würde ich gern mal machen. Auch bei den fetten Weibern!“
Ludwig war nicht mit dabei. Violet atmete auf und war zugleich enttäuscht, ihn nicht angetroffen zu haben. Sie hatte Ludwig noch nie in Uniform gesehen, die zu tragen er sorgfältig vermied, wenn er in die Wohnung kam.
Violet wehrte sich gegen den Gedanken, der ihr beim Betrachten dieses kleinen Davidsterns kam, aber sie konnte ihm nicht entkommen: Durch seine Akkuratesse nämlich erhielt dieser Davidstern, dem gegenüber die mit dem Pinsel oder auch mit der Lötlampe aufgebrachten Sterne nur pöbelhafte Schmierereien waren, den Anschein einer gewissen Legitimation, sodass er den Charakter einer offiziösen Kennzeichnung gewann. So spricht die Staatsgewalt! Die hingeschmierten Sterne dagegen, die stammten von denen aus der Gosse, die auch mittun wollten. Wie hier, so hätte man die Davidsterne überall machen müssen, ging es Violet durch den Kopf, und gleichzeitig ärgerte sie sich, dass es mit ihr schon so weit gekommen war, dass sie sich Gedanken darüber machte, wie es der Feind besser machen könnte.
Nachdem es in der Bayreuther Straße allerdings zu einem Brand gekommen war, bei dem die Feuerwehr hatte eingreifen müssen, wurde noch am späten Vormittag von der Gauleitung jede Art der ‚Feuermarkierung‘, wie sie das nannten und auf die angeblich der Gauleiter Streicher persönlich gekommen war, gestoppt. –
Wieder zu Hause warf sich Violet aufgelöst auf ihr Bett. Nach einer Weile hörte sie mit Unbehagen, dass Herkommer in der Wohnung war. Sie wollte jetzt allein sein. Doch es ging nicht lange, da glaubte sie, ein Geräusch an der Tür wahrzunehmen. Sie hob den Kopf und tatsächlich, da war ein ganz leises Anklopfen zu hören. Es war ein vorsichtiges Anklopfen nur, aber es war trotzdem, gerade jetzt, eine lästige Störung. Für einen Augenblick war Violet überrascht, dass das Anklopfen dennoch so zärtlich klang, und rief fragend: „Ja?“
Die Türklinke senkte sich zögernd, und dann erschien mit einem sanften Lächeln Herkommers Gesicht im Türspalt. Violet schloss tief atmend die Augen und flüsterte:
„Schrecklich das alles –“
„Die sind vom Affen gebissen!“, antwortete Herkommer laut.
Violet spürte, wie sich Herkommer behutsam auf den Bettrand setzte.
„Warst du da auch dabei?“, fragte sie schließlich.
„Das waren die SA-Stürme, ich bin im Stab bei der Partei, in der Kreisleitung.“
Danach herrschte wieder Stille, kein Wort über Minuten.
„Hab keine Angst! Du stehst unter meinem Schutz!“
Darauf Violet: „Wir werden von nun an noch viel mehr im Verborgenen leben müssen! Ich ertrage das nicht länger –“
Mein Leben war so schön wieder ins Gleichgewicht gekommen die letzten Jahre, dachte Violet, ach, hätte ich ihn doch nie gesehen! Doch das war ungerecht, wie sie schnell wieder einsah. Ihr Leben war mit Ludwig, bei allem Kummer, ungleich vielfältiger geworden. Eintönig geradezu war es gewesen, bevor er kam. Wie viel Spannung und Bewegung war mit ihm eingezogen! Diese Jugendlichkeit, dieses Unverbrauchte! Es reizte sie, dass bei ihm alles noch so offen war, kein fertig ausgeprägter Mann mit seinen Abnutzungen und speziellen Eigenarten, sondern ein Mann wie fabrikneu gewissermaßen, ein Mann im Ursprungszustand, könnte man sagen. Ihre Gedanken waren wirr. Sie musste für einen Augenblick sogar eingeschlafen gewesen sein und hätte so gerne weitergeschlafen, um ihren Gedanken zu entgehen.
Warum nur litt sie so sehr darunter, dass sie ihre Verbindung verborgen halten mussten? Es kam ihr vor, als müssten sie ständig im Dunkeln leben. Sie hätte so gerne immer wieder einmal mit ihm zusammen hinaus gewollt – mit ihm zusammen ins Café gehen, in ein Restaurant, ins Theater, ins Kino. Mit ihm durch die Straßen schlendern, in die Läden schauen, Hand in Hand über die großen Plätze bummeln.
Ging es ihr womöglich darum, so prüfte sie sich selbst, ihn, ihren Ludwig als ihren Fang, den anderen Leuten vorzuzeigen? Oder darum, schicke Kleider mit ihm auszuführen? Nein, das war es gewiss nicht. Lebte sie doch wie in einem großen Bienenkorb mit vielen anderen zusammen, kannte unendlich viele und war mit dem einen näher, mit den anderen weniger vertraut; Nürnberger aber sind es alle, und man war doch offen und aufgeschlossen einander gegenüber. Und da wird ihr dann plötzlich abverlangt, etwas Schönes zu verbergen, es vor den anderen zu verstecken, zu vertuschen, so zu tun, als ob man sich nicht kenne. –
Wahrscheinlich war die strenge Geheimhaltung und das strikte Verbergen für Herkommer noch viel wichtiger als für sie, dachte Violet. Schützen wird er mich natürlich nicht können, wie er meint, da ist er naiv. Aber das Naive in so vielen Dingen, das Unbefangene, das ist ja immer wieder auch das Schöne an ihm. Ist er auf die Braunen hereingefallen oder ist er vielleicht doch fanatisch, wie Tante Constanze gefragt hat? Ich werde nicht klug aus ihm.
Violet wusste nicht so recht, ob sie sich über Ludwig oder sich selbst ärgern sollte. Es gab Augenblicke, da hasste sie ihn geradezu, aber zugleich wusste sie, dass sie nicht wieder von ihm loskommen würde. Aber loskommen, das wollte sie doch gar nicht, wie sie sich gleich wieder selbst versicherte.
Sie hielt die Augen immer noch geschlossen und spürte, dass Herkommer noch immer auf dem Bettrand saß.
„Ich weiß, Ludwig“, rief sie plötzlich laut und setzte sich mit einem Ruck auf, sodass Herkommer fast erschrak, „ich werde eine Porträtreihe von dir machen!“
„Machst du denn auch Porträts? Ich habe bei dir immer nur an wilde Landschaften gedacht.“
„Oh doch, schau nur in den zwei Bildbänden, die ich dir geschenkt habe, die Menschen einer Landschaft sind mir genauso wichtig. Sie gehören zur Landschaft und die Landschaft zu ihnen, und manchmal erklären sie einander sogar. Wenn ich von einem Menschen ein Porträt gemacht habe – das sind ja meistens gleich mehrere –, verstehe ich das Gesicht danach besser als vorher; und wenn ich ein Gesicht erst einmal wirklich verstanden habe, dann verstehe ich die ganze Person.“
„Aha, deshalb willst du mich porträtieren“, lachte Herkommer.
„Ja, tatsächlich! Eben das ist der Grund! Wir kennen uns ja schon seit einiger Zeit, aber ich kenne dich noch immer nicht genug. Ich werde einfach nicht klug aus dir.“
Und dann zärtlich: „Ich will dich doch ganz genau kennenlernen, Ludwig.“
Die Aufnahmen dauerten Stunden. Violet war mit einer bemerkenswerten Konzentration bei der Sache, wie er das an ihr gar nicht kannte. Sie sprach kaum ein Wort und huschte lautlos zwischen Kamera, Scheinwerfern und Reflexionsflächen hin und her, um immer wieder, kaum erkennbar, eine Stellung oder eine Einstellung um eine Nuance zu verändern. Herkommer hätte nie gedacht, dass das eines solchen Aufwandes bedarf.
„Da ginge ja malen schneller“, spottete er.
„Soll ich dich knipsen“, hielt Violet für einen Augenblick mit ihren Vorbereitungen inne, „oder dich porträtieren?“
Ludwig ließ alles mit sich geschehen, und zum Schluss wollte sie dann noch ein Bild von ihm machen in einer kühn wirkenden Position. Das war ihr alles irgendwie zu lahm bis dahin, zu unbeteiligt, obwohl sich Herkommer alle Mühe gab.
„Setz deinen rechten Fuß hier auf den Stuhl! Und jetzt beugst du dich etwas vor und stützt dich mit dem rechten Unterarm auf dem Knie ab – den Unterarm abwinkeln! Ja, so.“
„Kopf etwas höher“, rief sie und kam unter ihrem schwarzen Tuch hervor, „schau etwas mehr über die rechte Schulter, ja, ein Stück an mir vorbei! Den Blick noch ein wenig höher! Sehr gut! Du musst entschlossen hinausblicken ins Land! Du musst spähen! – Spähe!“
Mein Gott, jetzt sieht er aus, als ob er von Thorak geschaffen sei, dachte Violet, als sie wieder hinter ihrem Apparat hervortrat und Herkommer so dastehen sah.
„Mal gespannt. Das letzte Bild kannst du deinen Parteibonzen vorlegen, wenn sie mal ein Bild von dir brauchen.“
„Ach, das sind keine Bonzen, das sind ganz natürliche Menschen. Pfundsleute, zum Teil!“
Später, noch in der Dunkelkammer, schaute sie sich dann die Bilder in immer wieder anderer Reihenfolge nachdenklich an und schließlich befand sie mit großer Gewissheit: Er ist nicht fanatisch. Er kann gar nicht fanatisch sein. Dazu brauchte es ein ganz bestimmtes böses Feuer, das er nicht hat. Er ist nicht böse. Aber er ist eiskalt. Oder richtiger: nicht einmal im Affekt zu erhitzen und aus der Balance zu bringen. –
Ein paar Wochen später hörte Violet beim Friseur, dass der Konditor Rothenburger auswandert. Die Friseuse sprach unablässig, machte aber, auch mitten im Satz, immer wieder einmal eine kleine Pause, um, etwas zurückgebeugt, ihre letzten Schnitte zu überprüfen. Es war schon recht, man merkte genau, dass ihr der Fassonschnitt wichtiger war als das Schwätzen.
„Wissen Sie, das ist nämlich ein Jud – nur fort damit! Aber sein Café bleibt! Da bin ich froh, ich bin all die Jahre immer gern hingegangen –
Die schönen Kirschbaummöbel und alles so hell –
Sein Konditormeister, der soll das Café weiterführen –
Das ist eine Goldgrube, man kann hinkommen, wann man will, sind immer Leute da –
Der Herr Mönch, das ist nämlich der Konditormeister, der kommt zum Haarschneiden immer zu uns –
Der hat schon beim Rothenburger gelernt, dazwischen war er dann ein paar Jahre in Zürich in den feinsten Cafés dort –
Das Café Rothenburger ist wirklich eines der schönsten Cafés bei uns hier in Nürnberg.“
Violet traf Rothenburger am Tag darauf auf dem Markt. Der sonst so fröhliche und stattliche Mann wirkte niedergeschlagen und kam armselig gebeugt daher.
„Stimmt es, dass Sie auswandern wollen?“
„Ja, das stimmt schon“, sagte Rothenburger schwer atmend, „nach Österreich. Ich kann ja keine Fremdsprachen.“
„Herr Rothenburger!“, richtete sich Violet auf, „wir dürfen die Flinte nicht so schnell ins Korn werfen! Gut, so schön wie vorher wird’s nimmer, aber das renkt sich wieder ein. Das sind die Auswüchse am Anfang.“
„Ich kann nicht mehr lange warten, ich habe die Verglasung der Terrasse noch nicht ganz bezahlt, und seit dem Boykott-Samstag kommen fast keine Gäste mehr. Ich hätte mich vielleicht früher trauen sollen, den Davidstern gleich wieder wegzumachen, wie der Buchhändler Waldteufel vis-à-vis, de Farbe ging verdammt schlecht wieder runter! Aber auch jetzt noch ist das Café wie ausgestorben. Und wenn halt immer nur so wenig Gäste da sind, kommen bald überhaupt keine mehr. Die Menschen wollen im Kaffeehaus nicht allein sein. Ich brauche gegenwärtig jeden Tag ungefähr das Doppelte von dem, was ich einnehme. Ich kann Ihnen im Kalender fast auf den Tag genau zeigen, wann ich Konkurs mache, wenn ich dableibe.“
Er machte eine Pause, aber dann kehrte schon wieder ein wenig Farbe in sein trauriges Gesicht zurück:
„Ich könnte vielleicht in St. Pölten, das ist ein Stück vor Wien, ein kleines Café am Rathausplatz übernehmen. Ich muss freilich alles wieder neu aufbauen, das sind alte Leute, da war in den letzten Jahren nicht mehr viel los. Wegen der Konditorei mache ich mir keine Sorgen, da kann ich gut mithalten, nur die vielen Kaffeesorten und Zubereitungsarten in Österreich, die muss ich noch studieren. Aber das geht schon. Der Mönch wird das Café hier übernehmen. Das ist ein rechtschaffener Mann und ein ganz ausgezeichneter Konditor. Der hat bei mir gelernt. Der junge Kerl hat natürlich nicht viel Geld, müssen wir mal sehen, wie wir das machen. Aber er hat mir versprochen, wenn es mal wieder besser wird und das alles vorbei ist hier, machen wir’s wieder rückgängig. Dann kriegt er sein Geld von mir zurück und ich werde ihm zum Dank noch obendrauf mein kleines Café in St. Pölten schenken!“, strahlte Rothenburger.
Der Gute, er ist noch nicht richtig abgestürzt, da macht er schon wieder die schönsten Zukunftspläne, dachte Violet, aber sie sagte nur: „Passt mir ja auf, so genannte Scheinübertragungen werden streng bestraft!“ –