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3_Ein nationaler Aderlass
ОглавлениеStraussens Hände zitterten, als er am Morgen das gerade erlassene ‚Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‘ las und damit zu Kollege Welde hinüberging.
„Lesen Sie das!“, sagte er mit belegter Stimme und räusperte sich mehrmals vergeblich, während Welde las.
„Das ist also die gesetzliche Grundlage“, brummte der vor sich hin, „haste keine, mach dir eine.“ Und lauter fuhr er fort: „Ich wollte gerade zu Ihnen rüberkommen. Der Amtmann Stoll, diese gute Seele, hat mich eben angerufen, ziemlich verzweifelt: Weyersheimer und Rüsch und noch zwei, drei andere sind heute früh von Lohbrecht im Namen des Ministers suspendiert worden, ‚bis auf Weiteres beurlaubt‘, hätte es geheißen.“
„Denen kann es doch nicht schnell genug gehen!“, empörte sich Strauss.
„Da haben sich die Wogen nach dem Judenboykott noch nicht geglättet, gerade eine Woche ist es jetzt her, da folgt schon der nächste Schlag, übrigens, wie man am Beispiel von Herrn Rüsch sieht, nicht nur gegen nichtarische Beamte, wie sie genannt werden, sondern überhaupt gegen alle, die politisch missliebig sind. Das neue Gesetz ist mal wieder so ein Freibrief für Willkür und ministeriellen Übermut!“
Schon in der irreführenden Benennung des Gesetzes sah Strauss eine Frechheit, aber er klammerte sich an jeden Strohhalm, der Hoffnung versprach, und so hatte er mit Genugtuung gelesen, dass wenigstens für Frontkämpfer eine Ausnahmeregelung vorgesehen sei. –
Das neue Gesetz und seine ersten Folgen hatten für die darauf folgende Samstagsbesprechung natürlich reichlich Gesprächsstoff geliefert, zumal Göring drei Tage nach Erlass des Gesetzes mit seiner berüchtigten Drohrede ‚Ich habe erst damit begonnen zu säubern‘ die Stimmung weiter angeheizt hatte. Fast jeder Teilnehmer am Kolloquium kannte diesen oder jenen der bedrohten oder vielleicht schon geschassten Richter oder Staatsanwälte persönlich, und so schob sich der Beginn des eigentlichen Kolloquiums immer mehr hinaus.
„Mir fällt auf, meine Herren, dass wir diese ‚Säuberung‘, wie das genannt wird, viel lebhafter und ausführlicher diskutieren als den Judenboykott vor einer Woche!“, rief Welde in die Runde, denn er wollte endlich mit dem Kolloquium beginnen.
„Das lässt sich erklären, Herr Dr. Welde“, sagte einer der Referendare, „mit den Kramläden hatten wir natürlich nicht so viel im Sinn, so widerwärtig das Ganze auch war; aber jetzt, die Gerichte, die Verwaltungen und allemal die juristischen Fakultäten, jetzt ist unsere Welt an der Reihe!“
„Der junge Kollege hat völlig recht!“, stimmte Dr. von Marwitz zu. „Der Judenboykott – dafür müssen wir uns vor dem Ausland schämen; pfui Teufel, das war eine Scheußlichkeit! Aber nun diese Vertreibung der Juden aus ihren Ämtern – das ist ein Aderlass, wie er im Buche steht! Und ich stimme dem Kollegen völlig zu, diese ‚Säuberung‘ betrifft ganz besonders die Universitäten und zwar alle Fakultäten. Unter dieser Torheit werden wir noch in Jahrzehnten zu leiden haben.“
„Ja, es ist die Frage, ob das überhaupt je wieder aufzuholen ist“, gab Welde zu bedenken, „denn die Fakultäten ergänzen sich ja selbst, und wenn da durch den Verlust einiger prägender Köpfe das Niveau erst einmal abgesackt ist, dann ist das oftmals der Beginn einer steilen Spirale abwärts. Die Durchschnittlichen oder gar die Schwachen nämlich sind in der Regel nicht so ohne Weiteres gewillt, sich Bessere, womöglich glanzvolle Koryphäen an Bord zu holen, durch die sie in die zweite Reihe gerückt werden könnten.“
„Was da momentan an den Universitäten geschieht“, fügte Welde stöhnend noch hinzu, „ist eine nationale Katastrophe!“
Mack blickte einen Augenblick fragend auf, weil er sich nicht gleich darüber im Klaren war, wo da, bei aller verworfenen Treulosigkeit des neuen Staates gegenüber seinen Dienern, die nationale Katastrophe liegen soll. Dann aber ging ihm auf – ja, so musste es wohl sein! –, dass Welde damit wohl den dauerhaften Verlust hochrangiger Gelehrsamkeit im Auge gehabt hatte, und es fiel ihm eine ziemlich elende Darbietung im Doktorandenseminar kürzlich ein, als der Professor, ein strammer Parteigänger Hitlers, wie er inzwischen erfahren hat, von ihnen unvermittelt hatte wissen wollen, wer aus einer protestantischen Familie stamme – das waren sieben – und wer aus einer katholischen. Es waren nur zwei.
„Sehen Sie“, hatte er fast triumphierend ausgerufen, „es müssten mindestens fünf, wenn nicht sechs sein! Das hat uns Rom beschert! Über Jahrhunderte hinweg sind die Priester, sicherlich nicht die dümmsten unter den Katholiken, von der Fortpflanzung ausgeschlossen worden, mehr oder weniger jedenfalls. Die fehlenden drei oder vier Katholiken konnten sich nicht melden, weil sie erst gar nicht geboren worden sind! Wenn ich die sieben Protestanten jetzt noch fragen würde, ob Geistliche unter ihren direkten Vorfahren sind, dann sähen die meisten von ihnen, was ihnen geblüht hätte, würden sie aus einer katholischen Familie stammen.“
Dem Referendar Mack, immerhin ein praktizierender Katholik, waren schon während dieses Redeflusses, wie ihn der Professor gewiss schon des Öfteren abgelassen hatte, gewisse Einwände in den Sinn gekommen; aber er war sich nicht genügend sicher gewesen und hätte sich ohnehin nicht zugetraut, gegen das polternde Gerede des Professors anzukommen. –
Alle paar Wochen gab es neue judenfeindliche Aktionen, die in der Kanzlei stets ausführlich erörtert wurden, auch in ihren juristischen Implikationen. Jedes Mal glaubte Strauss dabei zu spüren, wie fest die ganze Sozietät hinter ihm stand. Manchmal beschlich ihn dann aber das Gefühl, dass sie all diese öffentlichen Kränkungen, Schikanen und Verbote nur deshalb so ausführlich besprachen, weil man ihm zu verstehen geben wollte, dass er eben doch eine Last, wenn nicht gar eine Gefahr für die Sozietät darstelle. Dann dachte er wieder mehr an die Gutwilligen unter den Kollegen, die vielleicht nur deshalb die Schikanen so ausführlich erörterten, damit ihm deutlich würde, wie treu doch alle – oder nur die meisten? – auf seiner Seite stünden. Meistens verwarf er solche selbstquälerischen Erwägungen nach einer Weile wieder und tröstete sich mit dem Gedanken, dass das Thema Judenverfolgung wohl nur deshalb so ausdauernd ventiliert wurde, weil er, der Jude, nun einmal für alle unverrückbar mit zum Kollegium gehörte und daher das Thema für alle eine besondere Aktualität besaß.
So gab es an den Samstagen stets genug zu erörtern. Noch im April wurden aus den Lehrervereinen die jüdischen Lehrer ausgeschlossen, und die jüdischen Ärzte mussten die Kassenärztliche Vereinigung verlassen, womit sie ihre Kassenzulassung verloren. An den Universitäten und Hochschulen wurde für jüdische Studenten ein strikter Numerus clausus eingeführt, der sich streng nach dem prozentualen Anteil der Juden in der Gesamtbevölkerung bemaß. Im Mai folgte dann in vielen Städten die blamable Bücherverbrennung2. Im Sommer wurden nach und nach die öffentlichen Bäder und viele Badestrände für Juden gesperrt, und im Herbst wurde das Reichserbhofgesetz erlassen, wonach auf diesen Höfen nur noch Bauern geduldet wurden, die die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen und ihre arische Abstammung, wie das hieß, nachweisen konnten.
Und schließlich mussten die sogenannten Kulturschaffenden, die Schriftsteller, Musiker, Maler, Schauspieler, den entsprechenden Sektionen in der Reichskulturkammer3 beitreten, die Juden jedoch verwehrt waren, was freilich manchem ehrgeizigen Nachrücker der zweiten Garnitur nicht ungelegen kam. –