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6_Fellgiebels Ärger mit der Partei_Seine Frau Marianna und der Adoptivsohn Jan
ОглавлениеAls Fellgiebel von seinen Krankenbesuchen zurückkam, rief ihm die Sprechstundenhilfe schon über den Hof zu: „Es hat angerufen, Herr Doktor, Sie möchten sich doch bitte auf der Ortsgruppe beim Ortsgruppenleiter melden.“
„Melden tu’ ich mich überhaupt nirgends! Sagen Sie das denen!“, schimpfte Fellgiebel ziemlich laut zurück, wobei seine Sprechstundenhilfe freilich sogleich erkannte, dass das nicht etwa ein Auftrag für sie war. „Es kann höchstens sein, dass ich mal vorbeikomme – nein, ich werde dort anrufen.“
Drinnen fragte er dann: „Und warum soll ich mich dort melden? Was haben die gewollt?“
„Es ging irgendwie um das Wartezimmer.“
„– um das Wartezimmer? Keine Ahnung! Was geht die mein Wartezimmer an!“
Beim Mittagessen machte sich dann bei Fellgiebel doch eine gewisse Unruhe breit, und er erörterte den Anruf mit seiner Frau.
„Nicht dass mich dieser Anruf im Geringsten beunruhigen würde –“
„Natürlich beunruhigt er dich, Wilhelm! Und mich auch. Eine Vorladung von der Ortsgruppenleitung hat immer etwas Bedrohliches.“
„Ach was, für mich nicht die Spur! Aber natürlich ist man da etwas neugierig, das ist doch klar! Außerdem ist das keine Vorladung, wie du meinst, sondern ich soll halt mal vorbeikommen.“
„Melden sollst du dich, Wilhelm, melden!“
Fellgiebel musste lachen, als er seine Frau ansah, die in so eindringlichem Ernst auf ihn einredete.
„Du schaust mich mal wieder so wissend an, Marianna, hast du denn eine Idee, was da los sein könnte?“
Er kannte diesen seltsam abgründigen Blick seiner Frau, der ihn immer dann traf, wenn sie eine besondere Einsicht hatte, die ihm verschlossen war. Gewöhnlich lächelte sie dabei, und Fellgiebel rief dann meistens, ‚Du bist eine Unterirdische!‘, weil sie ihm unheimlich war, aber das rief er lachend, wenn auch nicht ohne Respekt. Oder er fragte sie, ‚Was meinst du als promovierte Hexe dazu?‘, und dabei gruselte es ihn manchmal fast vor diesem Blick. Denn gewiss, darin war er sich sicher, gehörte sie, ohne das selbst so recht zu wissen, zu diesen Unterirdischen, wie es sie vor allem bei den Nordländern mit ihren langen Winternächten gibt.
Solche Menschen, meistens Frauen, vermögen feine Zeichen zu erkennen und zu deuten und verborgene Zusammenhänge zu sehen, wie sie Fellgiebel als Kopfmensch niemals würde bemerken können und die er, wenn man sie ihm zeigte, selbstverständlich strikt verwerfen würde. Immerhin war es ihr stets ein Leichtes, zum Beispiel einer Schwangeren das Geschlecht ihres Kindes vorauszusagen, allerdings nur dann zuverlässig, wenn sie die Frau nicht näher kannte, offenbar weil sonst allzu viele verborgene Anzeichen und verdeckte Botschaften auf sie einströmten, sodass jene, auf die es wohl ankam, darin untergingen.
Sogar Fellgiebels Freund, der Pfarrer Liedel, damals noch Kaplan, war immer wieder von Mariannas Ankündigungen beeindruckt gewesen und hatte, aller schwarzen Kunst und Zauberei schon kraft Amtes abhold, eines Tages erkannt, dass sich das im Grunde leicht erklären lasse. Bei diesen Menschen sei eben die Vergangenheit von der Gegenwart und vor allem die Gegenwart von der Zukunft einfach nicht so klar voneinander getrennt. „Aha“, hatte Fellgiebel damals gespottet, „einfach nicht so klar getrennt. Jetzt wissen wir’s, das ist es!“
Manchmal sagte Marianna zu Fellgiebel sogar ‚Pass auf, Wilhelm, im Wartezimmer sitzt ein Krebs‘, und gewöhnlich fand dann Fellgiebel diesen Patienten auch. Beim Bronchialkarzinom klappte es am besten und auch beim Magenkrebs nicht schlecht. Doch Marianna war nicht etwa stolz auf ihre Treffer. Sie leistete ihrem Mann, der einen guten Ruf als Diagnostiker hatte, diese unkonventionelle Hilfe nur ungern, weil sie sich nicht in die ärztlichen Belange einmischen wollte. Aber wenn sie etwas plötzlich so sicher wisse, dann sehe sie sich eben auch verpflichtet, es weiterzugeben und auszusprechen. – ‚Wie machst du das nur?‘, wollte Fellgiebel immer wieder von ihr wissen. ‚Ich weiß es nicht, ich weiß es doch nicht‘, rief dann Marianna gequält, die ohnehin schon genug unter ihren Ahnungen zu leiden hatte. – ‚Es könnte sein‘, hatte sie früher einmal geäußert, ‚dass ich es rieche. Ja, ich glaube, ich rieche es. Ich kann dir aber überhaupt nicht sagen, wie es riecht, es ist so unglaublich schwach. Wahrscheinlich kann ich gar nicht besser riechen als andere Menschen, sondern mich beeinflussen Gerüche eben nur viel stärker.‘ – Und auf Fellgiebels Ausruf, der in solchen Gesprächen dann gelegentlich folgte, dass das unbedingt einmal von jemandem wissenschaftlich untersucht werden müsse, drohte sie nur, ‚Untersteh dich!‘, weil sie als echte Unterirdische wusste, dass damit alles zerstört werden würde.
Nun aber war plötzlich dieser Blick mit diesem Lächeln wieder da, und Marianna schüttelte ihre Mähne und sagte:
„Ich habe nicht nur eine Idee, worum es gehen könnte – ich weiß es! Das ist mir ganz plötzlich gekommen. Ich hatte mit einem Male diesen Patienten aus der Traitteurstraße wieder vor mir. Ganz deutlich. Weißt du, dieser Pg. mit den Ulkusfalten, der letzte Woche in der Sprechstunde war. Als er sich verabschiedet hat, da hat er noch einen ganz kurzen Blick auf das Hitlerbild im Wartezimmer geworfen.“
„Da werden doch die meisten, wenn sie rausgehen, noch einen kurzen Blick draufwerfen, der Schinken hängt ja direkt über der Tür!“
„Kann sein, aber doch keinen solchen Blick, Wilhelm! Oh, du ahnst ja nicht, mein Lieber, wie viele verschiedene Blicke es gibt, mehr als Wörter im Deutschen, und jeder hat wieder eine etwas andere Bedeutung – das lässt sich nicht in Worten fassen! Zwischen diesem Blick und dem Ortsgruppenleiter gibt es eine direkte Verbindung, unsichtbar natürlich, aber ich kann sie trotzdem geradezu mit Händen greifen! Du kannst sicher sein, bei der Ortsgruppenleitung wird es um das neue Hitlerbild im Wartezimmer gehen.“
Es hing tatsächlich erst seit wenigen Wochen. Fellgiebel hatte monatelang unter dem wachsenden Druck der Ärztekammer und auch der Kassenärztlichen Vereinigung gestanden, in seinem Wartezimmer oder an einer anderen prominenten Stelle in der Praxis doch endlich ein Bild des Führers aufzuhängen, und er war empört, dass offenbar Späher ausgesandt worden waren, die sich als Patienten ausgaben oder möglicherweise auch tatsächlich welche waren, was aber die Schnüffelei auch nicht besser machte. Als er während eines Hausbesuches bei einem Kunstmaler, der sich einen gewissen Namen mit idyllischen Landschaftsbildern aus dem Südschwarzwald gemacht hatte, in dessen Atelier mehrere mächtige Hitlerbilder sah – es waren davonfließende Aquarelle mit viel wässrigem Hellbraun, eines missglückter und unbeholfener als das andere –, da hatte er sich, ohne lange zu überlegen, für eines dieser Bilder entschieden, das ihm besonders misslungen schien, um es zu Hause in sein Wartezimmer zu hängen. Der Kunstmaler, ein gewisser Friedhelm Büngener und ein fanatischer Gefolgsmann Hitlers schon seit Jahren, hatte sich hochgeehrt gefühlt, vor allem auch durch diese außerordentliche Spontanität des Kaufentschlusses, und er hatte Fellgiebel, schon im Hinblick auf das ständig wechselnde Publikum und die gewiss zu erwartenden langen Betrachtungszeiten, die in einem Museum bei Weitem nicht zu erreichen gewesen wären, einen besonders günstigen Preis gemacht.
Fellgiebel musste in den folgenden Tagen verschiedene Krankenbesuche in der Gegend, in der die Ortsgruppenleitung lag, absolvieren und fuhr mehrmals am Gebäude der Ortsgruppenleitung vorbei, aber er ließ sich Zeit mit seinem Besuch dort. Nicht dass er Hemmungen gehabt hätte, ‚nicht die geringsten!‘, wie er sagte, oder sich gar fürchtete vor diesem Besuch, sondern weil er Marianna und wohl auch sich selbst beweisen wollte, dass er nicht hin und her zu kommandieren sei und dass er komme, wenn es ihm passt.
Dann machte er sich doch eines Morgens ziemlich früh auf den Weg zur Ortsgruppe, und zwar deshalb so zeitig, wie er Marianna bei der vorzeitigen Beendigung des Frühstücks erklärt hat, weil er so bei der Begrüßung des Ortsgruppenleiters am ehesten um dieses ‚Heil Hitler‘ herumkomme, das gelinge mit keinem Gruß zuverlässiger als mit einem betont freundlich und aufmunternd gesprochenen ‚Guten Morgen!‘, kein Vergleich zu ‚Guten Tag‘. Manchmal würde er in solchen Fällen sogar ‚Ja, guten Morgen, Herr Soundso!‘ mit fast übertrieben starker Betonung des ‚Mor-gen‘ sagen, dann klappe das Weglassen des Hitlergrußes immer. Natürlich hätte es Fellgiebel keine besondere Schwierigkeit bereitet, mit ‚Heil Hitler‘ zu grüßen – wie oft antwortete er doch in der Sprechstunde einem eifrigen oder vielleicht auch nur eingeschüchterten Patienten, der allzu stramm mit ‚Heil Hitler‘ grüßte, ebenfalls mit ‚Heil Hitler‘, wobei er jedoch die beiden Worte betont ruhig und deutlich aussprach, viel deutlicher als die meisten der eintretenden Patienten, was dann alle möglichen Deutungen zuließ. Überhaupt lohne es sich bei jeglicher Begegnung, stets auf den Tonfall und die sprachliche Sorgfalt beim Hitlergruß zu achten, das sei für eine erste grobe Einordnung des Gegenübers stets von Vorteil. Dem Ortsgruppenleiter jedenfalls wollte er die zweifelhafte kleine Aufmerksamkeit eines korrekten Hitlergrußes auf keinen Fall zukommen lassen, obwohl dieser schon vor Jahren einmal als Patient bei ihm gewesen war.
Der Ortsgruppenleiter traf erst ein paar Minuten nach ihm ein, Fellgiebel saß in einem Sessel in der Halle und rief ihm im bewährt frohen Ton sein ‚Guten Morgen, Herr Ortsgruppenleiter!‘ zu.
Es klappte, und der Ortsgruppenleiter tat überraschter, als er war, und rief: „Sieh da, der Herr Doktor Fellgiebel!“, und dann, nicht mehr so theatralisch: „Komm, lassen Sie uns geschwind in mein Büro gehen!“
Dort fuhr er dann in einem gar nicht einmal so unfreundlichen Ton fort: „Was hört man da von Ihnen so alles in der letzten Zeit, Doktor?“
„Von mir?“, fragte Fellgiebel überrascht und tat so, als denke er nach. „Ich habe weder telefoniert noch geschrieben noch sonst etwas, weder auf dem Dienstweg noch direkt.“
„Nein, ich meine doch nicht, was man von Ihnen, sondern was man über Sie hört, Doktor.“
„Ach so“, antwortete Fellgiebel und tat erleichtert, „nun ja, wer weiß, was da die Leute so daherreden! Da fragen Sie am besten mich direkt!“
Fellgiebel freute sich, dass er den Ortsgruppenleiter da hatte, wo er ihn haben wollte, und dieser wohl einräumen musste, dass es hier doch offenbar nur um Gerede ging; der Ortsgruppenleiter dagegen ärgerte sich über Fellgiebels gespielte Begriffsstutzigkeit.
„Sie hatten“, fuhr er in schärferem Ton fort, „im Gegensatz zu Ihren Kollegen lange Zeit in Ihrer Praxis kein Bild des Führers hängen. Trotz immer wieder neuer Anstöße durch die Ärztekammer. Jetzt sind Sie endlich dem Wunsch Ihrer Kollegenschaft nachgekommen, aber mit was für einem entsetzlichen Bild! Dass es den Führer darstellen soll, sei nur am rechteckigen Oberlippenbart und an der Tolle über der Stirn zu erkennen“, er fuhr sich durchs Haar, „und am Braunhemd mit der Krawatte. Von welchem Stümper haben Sie –“
Da unterbrach ihn Fellgiebel heftig. „Was sagen Sie da? Um Gottes willen, nein!“, rief er bestürzt aus, als ob er dem Ortsgruppenleiter beim Bewältigen seines Irrtums beispringen wollte. „Das ist eines der bedeutendsten Werke von Friedhelm Büngener, ein Original-Aquarell! Friedhelm Büngener, übrigens ein Alt-Parteigenosse, hat durchaus einen Namen und nimmt auch, soviel ich weiß, in der Reichskammer für bildende Künste eine wichtige Funktion wahr.“
Der Ortsgruppenleiter war für einen Augenblick unsicher geworden. „Ein Alt-Parteigenosse? Also ein Alter Kämpfer mit dem goldenen Parteiabzeichen?“
Da stimmte Fellgiebel dem Ortsgruppenleiter zum ersten Mal in diesem Gespräch zu, aber zugleich verbesserte er ihn auch: „Ja, gewiss! Sie meinen mit dem goldenen Parteiabzeichen sicherlich das Goldene Ehrenzeichen der NSDAP. – Und wenn Sie wissen wollen, warum ich so lange überhaupt kein Hitlerbild in der Praxis hängen hatte: Weil ich auf eben dieses Bild gewartet habe, das den Führer trifft wie kein anderes. Ihn nicht vordergründig abbildet wie irgendein Foto – davon haben wir genug –, sondern weil es sein innerstes Wesen erfasst und es dem Kenner offenbart. – Ich vermute“, fügte er in höhnischem Pathos noch hinzu, „dass Ihr feiner Gewährsmann – gewiss kein Beurteiler mit einem geschulten Auge! – den Rang dieses Bildes nicht zu erfassen vermochte und seiner Wucht einfach nicht gewachsen war.“
Der Ortsgruppenleiter schwieg für einen Augenblick, Fellgiebel spürte, wie er zwischen Wohlwollen und gefährlicher Angriffslust schwankte.
Das Telefon läutete, der Ortsgruppenleiter nahm ab und wirkte schon nach wenigen Sekunden äußerst konzentriert, wahrscheinlich eine wichtige dienstliche Angelegenheit von oben. Fellgiebel nutzte den Augenblick und sagte, als wolle er nicht länger stören, fast triumphierend ‚Heil Hitler!‘, nickte dem Ortsgruppenleiter dabei freundlich zu und schickte sich an zu gehen, und der Ortsgruppenleiter stimmte zu, indem er ihn kurz anblickte und für einen Moment, kaum merklich nickend, die Augen schloss.
Auf dem Heimweg war Fellgiebel zunächst recht vergnügt gewesen und zufrieden mit sich und mit dem Theater, das er dem Ortsgruppenleiter vorgespielt hatte. Er war gewiss kein böser Mensch, aber er liebte es eben, andere Leute – ohne ihnen freilich ernsthaft zu schaden – ein bisschen hereinzulegen, mit ihnen zu spielen und schlauer zu sein als sie, vor allem dann, wenn es Leute waren, die mächtiger waren als er und die glaubten, auch über ihn Macht zu haben. Aber dann fiel ihm ein, dass ihm am Schluss des Gespräches dieses ‚Heil Hitler‘ nicht hätte herausrutschen dürfen, obwohl es als Schlusspunkt ja gar nicht schlecht gepasst hatte. Aber solche Fehler unterlaufen einem nun einmal, erst zieht man alle Register, um diesen Hitlergruß zu vermeiden, und dann wirft man ihn freiwillig hinterher, das ärgerte ihn.
Als ihn dann plötzlich die Sorge befiel, dass sein Gespräch mit dem Ortsgruppenleiter vielleicht doch noch üble Folgen für ihn haben könnte, trübte sich seine Stimmung weiter ein. Er versuchte, an etwas anderes zu denken, weil er spürte, wie die ängstliche Unruhe, die mit dieser Sorge verbunden war, sein ganzes Befinden vergiftete. Aber die Sorge sprang ihn auf seinem Heimweg immer wieder aufs Neue an, und die Gefahr, die ihm vom Ortsgruppenleiter drohte, erschien ihm von Mal zu Mal größer. Er wurde immer kleinmütiger, und sein Gespräch mit dem Ortsgruppenleiter kam ihm jetzt gar nicht mehr so souverän geführt vor, und als er schließlich zu Hause angekommen war, da war er, entgegen seinem sonstigen Verhalten, eingeschüchtert und kleinlaut geworden. Im Büro der Ortsgruppe, wo er noch groß getönt hatte, da hatte er im Ortsgruppenleiter noch ganz seinen ehemaligen Patienten gesehen, aber jetzt war der Ortsgruppenleiter plötzlich zum verlängerten Arm, zum Tentakel eines krakenhaften Systems geworden, das unbarmherzig nach ihm griff.
Zum ersten Mal hatte Fellgiebel Angst vor dem Regime. Vielleicht bin ich manchmal doch ein bisschen ein Maulheld, dachte er, und dann wieder ein bisschen ein Angsthase, beides in einem. –
Fellgiebels Adoptivsohn lebte sich nur langsam in seiner neuen Umgebung in Mannheim ein. Jan war ein stiller Junge, der zwar stets freundlich, aber immer auch mit einer leisen Distanz seine Umgebung beobachtete. ‚Wenn ich nur wüsste, wie er tatsächlich ist‘, sagte Fellgiebel hin und wieder, der an der Eingewöhnung seines Adoptivsohns regen Anteil nahm, ‚oder wie er eigentlich ist‘, doch Marianna sah das ganz anders. ‚Jan ist so, wie er ist – so ist er, da gibt es kein eigentlich und kein tatsächlich. Und wie er sein wird, wenn er sich vollständig eingelebt hat, das liegt ganz bei uns.‘
Jan hatte das Gröbste schon hinter sich. So versprach er sich schon lange nicht mehr, wenn er nach seinem Namen gefragt wurde, weil ihm inzwischen genügend gegenwärtig war, dass er jetzt Jan Fellgiebel hieß. Aber eigentlich fühlte er sich immer noch als Jean Hossenlopp, und der Name Fellgiebel, obwohl er ihm ganz gut gefiel, war nur eine Haube, die ihm übergestülpt worden war. ‚Aber das weißt du doch!‘, hatte ihn neulich der Klassenlehrer sanft getadelt, als er sich wieder einmal verhaspelt hatte, und das war ihm peinlich gewesen, nicht nur weil die ganze Klasse gelacht hatte. Natürlich hatte er das gewusst! Aber sein Versprecher hatte mit dem, was er wusste, nicht viel zu tun.
Enrico, sein Banknachbar und neuer Freund, der zu einer verzweigten Artistenfamilie drüben auf dem Waldhof gehörte und sich vom ersten Tag an hilfsbereit um ihn gekümmert hatte, gab ihm in der Pause recht: Etwas richtig zu wissen, heiße noch lange nicht, es richtig zu tun, das würde ihnen bei der artistischen Ausbildung immer wieder eingetrichtert; nicht Wissen müsse man erwerben, sondern Automatismen, heiße es da, und das gelte auch für das Sprechen. Wissen könne dabei ganz nützlich sein, manchmal aber würde es einem auch im Weg stehen, und besonders schwer sei es, einen bereits erworbenen Automatismus aufzugeben und ihn durch einen neuen zu ersetzen, das sei ihm früher einmal bei der Parterreakrobatik passiert, und restlos würde man wahrscheinlich einen alten Automatismus nie loswerden, und ‚Hossenlopp‘ zu sagen, das sei ein solcher Automatismus. Von Automatismen hatte Jan noch nie etwas gehört, aber was ihm Enrico da erzählte, leuchtete ihm ein.
Auch das lähmende Heimweh hatte Jan inzwischen überwunden. Es war ein eigentümliches Heimweh gewesen, und ihm war deshalb so schwer zu entkommen, weil es nur noch aus der Trauer und aus Lethargie bestand, jedoch die Sehnsucht wonach, die sonst ein Heimweh vor allem bestimmt, die fehlte bei ihm gänzlich. Wonach hätte er sich auch sehnen sollen? Der Jan ist zu oft umgetopft worden, hatte neulich der Klassenlehrer gesagt.
An die Zeit vor Hossenlopps, das musste in einem Kinderheim in Frankreich gewesen sein, hatte er nur noch ganz vage Erinnerungen, eigentlich überhaupt keine mehr, auch seine Schwester Germaine tauchte erst in der Hossenlopp-Zeit in seinen Erinnerungen auf und wurde dann immer wichtiger für ihn. Nach dem Tod der Eltern hatte man sie beide in das Kinderheim in Herrlingen getan, was sie erst so richtig zusammengeschweißt hat, doch es war nicht lange gegangen, bis man das ganze Kinderheim zusammengepackt hatte und aufgebrochen war nach Palästina, während er im Krankenhaus landete. An seiner Stelle wurde Fellgiebels behinderter Sohn Siegfried mitgegeben. Von da an war er endgültig allein gewesen. Er war in das Internat nach Stefansfeld gekommen, was nicht schlecht war, aber zusammen mit Germaine wäre es gewiss erträglicher gewesen. Aber auch das war nicht lange gegangen. Kaum war er mit der neuen Situation einigermaßen vertraut – alles war neu gewesen für ihn: neue Erzieher und neue Lehrer, neue Kameraden und neue Orte, neue Schulbücher und neue Kleider –, da war er von seinem jetzigen Stiefvater dringend nach Mannheim ‚zurückbeordert‘ worden, wie dieser in einem langen Brief an ihn schrieb ‚zurückbeordert‘ nach Mannheim, obwohl er vorher noch nie dort gewesen war.
Die Not in seinem neuen Elternhaus war tatsächlich groß. Fellgiebels Frau Marianna war schon bald nach der Ausreise ihres Sohnes Siegfried in eine schwere Krise geraten. Obwohl sie in dieser Ausreise die einzige Rettung für Siegfried sah, hatte sie sich nicht von dem immer wieder aufsteigenden Selbstvorwurf befreien können, Siegfried abgeschoben zu haben. Eine große Leere war über sie gekommen, die im Laufe der Zeit vielleicht überwindbar gewesen wäre, hätte sie sich nicht allmählich mit einer schweren Depression aufgefüllt.
„Ich liebe Siegfried so sehr“, hatte sie tonlos bekannt, „und das tut hier so weh!“, wobei sie die flache Hand auf die Magengrube presste.
„Oh ja, du spürst das im Sonnengeflecht“, hatte Fellgiebel sachlich diagnostiziert. „Menschen mit einem hohen Integrationsgrad erleben gewisse Gefühle, wenn sie allzu heftig werden, im Solarplexus geradezu körperlich, bis hin zu einem gewissen Schmerz“, dozierte Fellgiebel weiter, was ihr aber auch nicht weiterhalf.
Später war er dann auf die Idee gekommen, dass man ihre mütterlichen Instinkte stärker beanspruchen müsse, denn ihre Tochter aus erster Ehe, die ja noch im Hause war und sich übrigens rührend um sie bemühte, war schon fast eine junge Dame und ließ sich längst nicht mehr so innig bemuttern, wie das für Mariannas Balance, nachdem man ihr den pflegebedürftigen Siegfried weggenommen hatte, offenbar notwendig war. So lag es für Fellgiebel nahe, sich über ein neues Objekt für ihre Mutterliebe Gedanken zu machen, und dabei hätte es gar nicht anders sein können, als dass er alsbald auf Jan kam. So geschah es denn auch – Jan wurde aus dem Internat kurzerhand zurückbeordert.
Jan war kaum eingetroffen, da schlug Fellgiebels Therapie auch schon an. Marianna setzte sich jeden Abend zu Jan ans Bett, las ihm vor oder plauderte mit ihm, am Morgen weckte sie ihn behutsam und half ihm sogar beim Anziehen. In den ersten Tagen brachte sie ihn noch zur Schule, und bei Tisch war sie bestrebt, ihn, der sich in der neuen Umgebung eher still verhielt, möglichst in alle Gespräche einzubeziehen. Wenn er abends in der Badewanne saß, wusch sie ihn mit Zärtlichkeit und Sorgfalt, was ihm schon seit Jahren nicht mehr widerfahren war. Schon nach wenigen Tagen zeigte sich Marianna fast glücklich und lachte endlich einmal wieder, und ihr Zustand besserte sich rasch. Zwar sprach sie, wenn sie mit ihrem Mann allein war, immer noch viel von Siegfried, oft in einer sehr nachdenklichen Weise, aber längst nicht mehr in diesem gequälten Ton wie in den vergangenen Wochen.
Der arme Jan, der in seinem Leben noch nicht viele Erfahrungen mit derart robuster Bemutterung hatte sammeln können, verhielt sich eher scheu, aber keineswegs abweisend, und genoss es offensichtlich, plötzlich so viel Beachtung zu finden. Dagegen waren ihm die polternde Freundlichkeit und die aufdrängende Zuwendung seines Stiefvaters, der er bei jeder zufälligen Begegnung in Haus und Hof ausgesetzt war, eher lästig. So konnte es schon einmal vorkommen, dass er beim Verlassen seines Zimmers erst einen Augenblick lauschte, ob der Weg nach unten frei war, denn wenn er seinem neuen Vater begegnete – auch wenn dieser mit jemandem sprach und er sich vorbeizustehlen versuchte –, konnte das ein ausführliches, wenn auch meistens ziemlich einseitiges Gespräch nach sich ziehen mit vielen Fragen, die er beantworten sollte. ‚Halt, mein Freund‘, rief Fellgiebel dann, ‚ist alles in Ordnung? – Geht es dir gut? – Warst du heute schon auf der Toilette? – Kommst du mit deinen Hausaufgaben zurecht?‘
Wenn er dann womöglich noch näher auf die Schule zu sprechen kam und seine Auffassung über die Bedeutung der einzelnen Fächer kundtat, konnte das Gespräch sehr lange gehen. Jan war ja durchaus bereit, geduldig zuzuhören, wenn sein ruhiges Zuhören nur nicht immer wieder durch die vielen eingestreuten Vergewisserungsfragen, auf die er antworten musste, unterbrochen worden wäre. Da wurde ihm dann jedes Mal deutlich, in welch einem Missverhältnis das raumfüllende Dröhnen seines neuen Vaters zu dem dünnen Fiepsen seiner kurzen Antworten stand, und er fühlte sich fast erdrückt. –
„Ich habe Ihren Sohn neben ein auffallend aktives und kontaktfreudiges Kind gesetzt“, sagte der Klassenlehrer, „einen gewissen Enrico, er kommt aus einer bekannten Artistenfamilie. Der Einzige in der Klasse, den alle Lehrer mit seinem Vornamen aufrufen. Das ist eigentlich sein Künstlername. Der wird uns helfen, den stillen Jan ein wenig aufzulockern.“
Und so geschah es denn auch, und der Klassenlehrer tat alles, um Jan aus seiner vorsichtigen Zurückhaltung herauszuhelfen.
„Enrico“, eröffnete er die Erdkundestunde, „du warst doch schon selber in den Küstenstädten und in den Seebädern und auch auf den Inseln, nicht wahr? Damit fangen wir heute an, die Küstenregion Nordsee. Du kannst derweil mal durch das ganze Haus marschieren und die Zeitschriften für die Sammlung der Kriegsgräberfürsorge auf die Klassen verteilen, pro Schüler ein Exemplar, und nur während der Stunde, nicht in den Pausen, sonst gibt’s da womöglich noch eine Balgerei um die Hefte. Am besten nimmst du dir deinen Nachbarn mit, den Jan Fellgiebel, zu zweit könnt ihr das besser tragen.“
Enrico war die Küstenregion tatsächlich schon ein wenig vertraut, weil er schon mehrmals während der Ferien seine Eltern auf wochenlangen Tourneen an die Nordsee hatte begleiten dürfen. Jan dagegen wäre während der Erdkundestunde viel lieber in der Klasse geblieben, weil er noch überhaupt nichts vom Norden Deutschlands wusste, und vor allem nicht vom Meer, das ihn schon als Kind, jedes Mal wenn davon gesprochen worden war, hatte aufhorchen lassen. –
„Bei den nächsten gehst du voran“, drängte Enrico, „du hast ja jetzt gesehen, wie’s geht!“
Die nächste Klasse, das waren ausgerechnet Große, eine Obersekunda, ‚O II.a‘ stand an der Tür. Jan klopfte vorsichtig an, mehrmals. Im Klassenzimmer schien es lebhaft zuzugehen. Dann war etwas zu hören, was man als ‚Herein‘ deuten konnte, sie traten zögernd ein und nahmen nebeneinander Aufstellung in der Nähe der Tür. Der Lehrer, der nicht unbeliebte, aber auch gefürchtete Dr. Fürst, las gerade seiner Klasse aus Don Karlos jenen berühmten Auftritt des dritten Aktes vor, in dem der Malteserritter Marquis von Posa von Philipp II., den Fürst natürlich gleich mitlas, Gedankenfreiheit forderte. Man muss dazu wissen, dass Fürst schon als Schüler zum Verdruss seiner Eltern hatte Schauspieler werden wollen und während seines Germanistikstudiums nicht nur Theaterwissenschaft belegt, sondern heimlich jahrelang Schauspielunterricht genommen hatte, intensiv, nicht nur so nebenher, wie er betonte. Im Gymnasium betreute er dann die Theatergruppe, die bald alle anderen Schülertheatergruppen im Lande übertraf, und leitete sämtliche Schulfeiern, in denen gesungen, musiziert oder vorgetragen wurde, vom Direktor deshalb bei entsprechenden Anlässen in freundlichem Spott mit ‚Herr Intendant‘ angeredet.
Daraus erklärt sich, dass er die berühmte Szenenfolge nicht einfach flüchtig herunterlas, sie auch nicht seiner Klasse mit einiger Sorgfalt vorlas, sondern er trug sie vor, nein, er spielte sie, mit Donner und Getöse und zog dabei, wie er das in solchen Fällen immer tat, auch die letzten Register. Eine solche Darbietung kann freilich nicht an beliebiger Stelle unterbrochen werden, und so dauerte es eine Weile, bis er innehalten konnte, um endlich zu den beiden kleinen Quintanern hinüberzublicken.
„Was wollt ihr?“, herrschte er die beiden an, noch immer in gehobenem Tone und mit gestützter Stimme, die er auch an sich selbst so liebte. Jan und Enrico machten scheu einen hastigen Hitlergruß, und Jan sagte, dass sie in allen Klassen die Zeitschriften für die Sammlung der Kriegsgräberfürsorge verteilen sollten, wobei Jan spürte, dass sein Stimmchen, das ja noch ungebrochen war, in so unmittelbarem Anschluss an Dr. Fürsts mächtigen Auftritt noch dünner klang als im Zwiegespräch mit seinem Stiefvater.
„Hinaus mit euch!“, donnerte Fürst im gleichen Ton weiter, „und noch einmal von vorn! Deutliches Anklopfen – warten, bis man euch hereinruft – dann die Tür hinter euch schließen – drei Schritte in den Raum treten – nebeneinander aufstellen – und dann, beide gleichzeitig, grüßen! Aber nicht wie der Tünnes in der Kneipe oder die Tante Thusnelda beim Friseur mit ‚Heidla‘, so wie ihr beide eben“, wobei er darauf achtete, dass bei ‚Heidla‘ ein ganz kurzes ‚a‘ am Ende stand. „Also den Gruß deutlich sprechen, ohne Hast, ganz vorn im Mund geformt und genügend kraftvoll: Heil Hitler!“
Und als ob das immer noch nicht genügend klar geworden sei, wiederholte er noch einmal mit großer Geste und in höchster Betonung: „H e i l“, und da machte er eine winzige Pause und fuhr fort, „H i t t - l e r r ! – Und nicht Heidla“, wobei er erst die drei letzten Worte nicht mehr mit gestützter Stimme sprach, sodass sie wieder ganz zum Alltag gehörten.