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11_Ludwigs Eisenbahnerkarriere

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In Bayreuth erfuhr Herkommer als Erstes, wenn auch nur beiläufig, dass auch bei einer Privatbahn die Bediensteten Beamte seien. Einer von diesen, nämlich der für das Personal und damit auch für die Einstellungen zuständige, ein etwas gravitätischer Herr in Kleidung und Barttracht der Vorkriegszeit, erwartete ihn bereits und empfing ihn sichtlich gutgelaunt:

„Ah, der Herr Herkommer! Bitte, nehmen Sie doch Platz! Es liegt bereits eine äußerst wohlwollende Empfehlung aus der Nürnberger Polizeidirektion vor und dazu noch eine Beurteilung, auf die Sie stolz sein können!“

Da muss Eugen, der alte Strippenzieher, dahinterstecken, dachte Herkommer nicht ohne Dankbarkeit, wie hätten die da oben in Nürnberg sonst wissen können, dass ich mich bei der Oberfränkischen Eisenbahngesellschaft bewerben werde.

„Sagen Sie, warum haben Sie Ihre Stelle bei der Nürnberger Polizei aufgegeben?“

„Das war von vornherein nur als eine zeitlich befristete Aushilfstätigkeit gedacht, es war eine Art Krankheitsvertretung für knapp zwei Monate.“

„Umso bemerkenswerter das Zeugnis, das man für Sie unaufgefordert abgegeben hat!“, brummelte er in seinen Zierbart und fuhr sogleich in überaus offiziellem Tone fort: „Bei der zu besetzenden Position handelt es sich um die Stelle eines Hilfsheizers in Ausbildung.“

„Ich muss da erst eine Ausbildung durchlaufen?“, fragte Herkommer überrascht.

„Oh ja, aber das geschieht während ihrer Einsätze, daher das Wort ‚Hilfsheizer‘; erst später werden sie zum Heizer ernannt, übrigens bei uns als einer Privatbahn – unter der Voraussetzung eines entsprechenden Einsatzes und eines guten Lernfortschritts – schon wesentlich früher als bei der Deutschen Reichsbahn. Ich nehme an, Sie haben von diesem Beruf noch nicht die richtige Vorstellung. Lokheizer ist eine recht schwierige und sehr verantwortungsvolle Tätigkeit! Kohleschaufeln ist dabei das allerwenigste. Es kommt auf das richtige Disponieren an und vor allem auf die ständige gewissenhafte Kontrolle der Betriebsdaten und natürlich auch auf die vorschriftsmäßige Wartung und Pflege des Geräts. Hier habe ich eine Dienstvorschrift für Sie, da können Sie mal reinschauen, aber das wird Ihnen der ausbildende Lokführer, dem Sie zugeteilt werden, alles noch genau erläutern. Ich pflege zu sagen: Auch der beste Lokomotivführer ist nur so gut wie sein Heizer!“

Nach Erledigung von allerlei Formalitäten erfuhr Herkommer, dass er bereits am kommenden Montag anfangen könne, spätestens bis dahin müsste er die noch fehlenden Papiere vorlegen. Herkommer war ebenso überrascht wie erfreut, aber er war auch nüchtern genug in seinem Urteil, um zu erkennen, dass das knapp werden könnte. Denn es war ja in seinen Unterlagen noch das Geburtsjahr unauffällig abzuändern, sonst würden sie ihn gleich wieder als zu jung nach Hause schicken, und eine solche Korrektur geht nicht von jetzt auf gleich. Im Übrigen wurde ihm empfohlen, sein Zimmer in Nürnberg zunächst ruhig beizubehalten. An allen Endpunkten des Streckennetzes habe man für das Personal ordentliche Schlafstellen in den Bahnhöfen oder in allernächster Nähe eingerichtet. Es sei überhaupt besser, sich für einen möglichst dichten Einsatzplan einteilen zu lassen und abends am Zielort Feierabend zu machen, ohne eine umständliche Heimfahrt, um in der Früh mit einem zeitigen Zug gleich wieder den Dienst aufzunehmen. Dann komme nämlich am Schluss viel mehr zusammenhängende Freizeit heraus, und auch da sei ja dann sein Zimmer in Nürnberg von Nutzen.

„Wann immer Sie eine Frage haben sollten, wenden Sie sich bitte an mich, Herr Herkommer!“

Herkommer machte, dass er so schnell wie möglich zurück nach Nürnberg kam, um vielleicht Eugen noch anzutreffen. Der könnte ihm bei diesem verdammten Geburtsjahr sicherlich helfen.

Eugen zeigte sich von der Idee gar nicht angetan.

„Ludwig! Das ist Urkundenfälschung, Gopferdammi!"

„Ach was, alles hat so schön geklappt! Nicht die geringste Schwierigkeit im Personalbüro in Bayreuth, im Gegenteil, die wollen mich unbedingt haben! Dieser Polizeidirektor ist auch dafür, sonst hätte er mich nicht empfohlen. Und ich will auch hin. Das Einzige, was noch im Weg ist, sind ein paar winzige, eingetrocknete Tintenspritzer in meinem Ausweis, die nicht genau an der richtigen Stelle sind – und da soll ich aufgeben? Das werden wir gleich behoben haben!“

„Du bist verrückt, Ludwig! Sei ja vorsichtig, Menschenskind!“

„Ich bin sogar sehr vorsichtig. Was ich jetzt brauche, ist eine neue Rasierklinge, ein bisschen schwarze Tinte oder Tusche und eine ganz spitze Feder. Eine Nadel dazu wäre auch nicht schlecht. Vielleicht noch eine Lupe, wenn du so was hast. Es wird ja niemand auch nur im Geringsten geschädigt!“

Eugen holte murrend das Zeug herbei. Herkommer ging mit sichtlicher Routine und äußerster Vorsicht ans Werk. Als er nach über einer halben Stunde fast fertig war, flog die Tür auf, und Gaski stürmte herein, direkt auf Herkommer zu, während der Horlacher Karl, sein Diensthundeführer, die Tür wieder schloss, die ihm Gaski aus der Hand gestoßen hatte. Es war eine heftige und von beiden Seiten begeistert betriebene und immer wieder aufgenommene Begrüßung; Herkommer war so überrascht und durch Gaskis Erscheinen derart abgelenkt von seiner Arbeit, dass ihm gar nicht in den Sinn kam, seinen Ausweis mit dem ganzen Werkzeug, das drum herumlag, abzudecken. Der Hundeführer Horlacher Karl, immerhin ein geschulter Polizist, sah mit einem Blick, was Herkommer da bearbeitete, sagte aber weiter nichts.

Gaski brauchte Minuten, bis er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, und während Herkommer sein Zeug zusammenräumte und in den Nebenraum schaffte, hörte er, wie Horlacher bei Eugen klagte und jammerte. Sein Hund sei während seiner Krankheit in schlechte Hände gegeben worden und habe sich in der kurzen Zeit schrecklich an diesen Herkommer gewöhnt, der ja nicht einmal eine Ausbildung zum Hundeführer aufweisen und höchstens als besserer Hundeliebhaber gelten könne, sodass ihm nun der Hund noch mehr Schwierigkeiten als früher mache und im Grunde doch nach wie vor ziemlich lahm und lustlos sei und längst nicht so tüchtig, wie es überall hieß.

Herkommer hätte heulen mögen – der wird mir den Gaski total versauen, in kürzester Zeit! Gaski würde wieder zu einem unglücklichen Durchschnittshund werden, genau so unglücklich wie sein Hundeführer. –

Herkommers Ausbilder bei der Oberfränkischen Eisenbahn war ein gemütlicher Lokomotivführer aus Wunsiedel, dem er an den meisten Tagen als Heizer zugeteilt wurde. Der konnte gut erklären, und Herkommer lernte viel.

„Noch viel wichtiger als stets genügend Kohle auf dem Rost zu haben“, so lautete seine stehende Rede, „ist es, dass man stets genügend Wasser im Kessel hat.“ Diesen Satz flocht er, stets entsprechend variiert, in die verschiedensten Sachzusammenhänge mit ein, manchmal noch mit der Mahnung verbunden „Du wirst noch an mich denken, Ludwig!“

Er hätte nie gedacht, was man da als Heizer alles wissen und dann freilich auch berücksichtigen muss. Da war die Farbe der Abgase zu beurteilen, weil dunkler Qualm immer Zeichen einer unvollkommenen Verbrennung ist; da war die Unterscheidung zwischen Nassdampf und Heißdampf zu büffeln, auf der sein Lokführer immer wieder herumritt, genauso wie auf den Begriffen Grund- und Bereitschaftsfeuer; da war die Dampfstrahlpumpe richtig zu handhaben, die Herkommer in ihrer Ingeniosität besonders beeindruckte, weil mit ihr gegen den Dampfdruck Frischwasser aus dem Tender in den Kessel hineinbefördert werden konnte; da war das auswendige Aufsagen der bahneigenen Wasserkräne in der Region, die das weichste Wasser hatten; und da war das fließende Herunterbeten sämtlicher Hahnen, Schieber, Klappen und Armaturen mit gleichzeitigem Deuten in die Richtung, in der sie sitzen – oh, der Lokführer konnte ihn stundenlang mit Fragen und kleinen Aufgaben beschäftigen. Gewöhnlich schloss er seine Lektion mit einem Leitsatz wie: „Die Kohleschaufel ist unersetzlich, aber wichtiger noch ist die Dampfstrahlpumpe.“ Und meistens folgte dann wieder: „Eines Tages wirst du noch an mich denken!“

Die größte Kunst von allem aber schien Herkommer die richtige Vorausplanung bei der Feuerbeschickung und Dampferzeugung zu sein. Zum Glück befuhr sein Lokführer schon seit über dreißig Jahren diese bergigen Strecken und konnte ihm wegen der Steigungsverhältnisse, auf die es vor allem ankommt, Hinweise geben wie kein anderer. Aber man musste auch den Fahrplan genau studieren, um ihm die Anzahl und Dauer der Aufenthalte und die Fahrzeiten dazwischen zu entnehmen, was alles von Einfluss auf den Dampfbedarf war. Am meisten machte ihm dabei zu schaffen, wenn sich die planmäßigen Aufenthalte durch Überholungen oder Kreuzungen verlängerten und er die Dauer des voraussichtlichen Stillstands abschätzen musste, um vor der Weiterfahrt das Feuer rechtzeitig herrichten zu können.

Lästig war Herkommer nur der Frühdienst mit dem allzu zeitigen Aufstehen, wenn eine kalte Lok anzuheizen war. Manchmal, je nach Fahrplan, musste er schon vor Mitternacht bei der Lokomotive sein. Dort waren dann alle möglichen Prüfungen in der vorgeschriebenen Reihenfolge und etliche Abschmier- und Wartungsarbeiten durchzuführen und das Grundfeuer, wie es genannt wurde, anzusetzen. Da es auf eine gleichmäßige Erwärmung ankam, waren für das Anheizen einer kalten Lokomotive mindestens drei Stunden zu veranschlagen, was aber nur bei einer kupfernen Feuerbüchse galt, war es eine stählerne, so waren als Mindestzeit vier Stunden einzuhalten.

Bis der Lokführer eintraf, der alles noch einmal überprüfte, war Herkommer ohne Pause beschäftigt, doch machten ihm diese Arbeiten Freude. Es war für ihn jeden Morgen wieder fesselnd zu beobachten, wie diese tonnenschweren Massen kalten und leblosen Stahls unter seinem Zutun ganz langsam nach und nach zum Leben erwachten, bis schließlich alles lief und die Zeiger zitterten und die Lokomotive mit leisem Knistern und Zischen ihre zunehmende Startbereitschaft kundtat. Bis dahin hatte sich dann auch ein intensiver Geruch aus Schmierfett und erhitztem Stahl, aus heißem Öl und Kohlestaub, aus Rauch und Qualm und Ruß ausgebreitet, den Herkommer schon deshalb liebte, weil er fast vergessene Erinnerungen an die Kindertage in unerwarteter Leuchtkraft aufsteigen ließ, als sie auf der Überführung zum Lindenhof spielten und sich in die dichten Dampfwolken der unter ihnen durchfahrenden Rangierlokomotiven stürzten – das war in allen Nuancen genau der gleiche Geruch gewesen.

Schließlich wurde es dann Zeit, dass sie aus dem Lokomotivschuppen hinaus- und zum Bahnhof hinüberfuhren. Wenn die Lokomotive dann nach den ersten zögernden Vorwärtsbewegungen allmählich Fahrt aufnahm, war Herkommer manchmal versucht, mit der Dampfpfeife ein kurzes Signal des Aufbruchs abzugeben, und als es tatsächlich einmal tat, wirklich nur ganz kurz, erhielt er von seinem Lokführer einen gehörigen Rüffel, es sei fünf Uhr in der Früh, und das sei ein grober Missbrauch der Dampfpfeife, die nur zur Warnung, zum Beispiel vor einem unbeschrankten Bahnübergang verwendet werden dürfe.

Weil sein Lokomotivführer ein guter Lehrmeister war, erlernte Herkommer nicht nur die einzelnen Kontrollen und Handgriffe, sondern er erfuhr auch genauestens, warum sie auszuführen waren und vor allem, was geschehen konnte, wenn man sie nachlässig oder fehlerhaft erledigte oder sie womöglich vergaß. Das erhöhte seine Einsicht in das Ganze und gab ihm das rechte Gefühl dafür, wie wichtig seine Tätigkeit war. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er, dass er wirklich Verantwortung trug, nicht nur für Gaski, wie das vor Kurzem noch war, sondern für eine mächtige Lokomotive, ja, für einen ganzen Zug mit vielleicht Hunderten von Passagieren darin. –

In den ersten Wochen hatte Herkommer keine Gelegenheit, nach Hause zu fahren, wobei er sich über sich selbst wunderte, dass er von ‚zu Hause‘ sprach. Die Ausbildung war ihm wichtiger, hoffte er doch, schon bald zum planmäßigen Heizer ernannt zu werden, dann würde er eine schwarz-silberne Kordel an seine Schirmmütze bekommen. Als er das erste Mal nach Wochen wieder in Nürnberg die Treppen hinaufstürmte und in sein Zimmer trat, kam es ihm fremd und seltsam leer vor. Ah, Frau Bohner hatte Gaskis Lager weggeräumt, was gewiss vernünftig war, doch Frau Bohner traf er nicht an, was ihm hätte gleich sein können, aber er fragte im Haus herum und erfuhr schließlich unten im Ladengeschäft, dass sie für ein paar Tage zu Verwandten verreist sei. Zu Verwandten? Insgeheim schien er sich doch auf Frau Bohner gefreut zu haben, dachte er, aber diese Einsicht passte ihm auch wieder nicht. Wo sie wohl hingefahren ist? Und wo sie wohl diese Verwandten hatte? Sie hat nie davon gesprochen. Was waren das überhaupt für Verwandte? Er ärgerte sich über diese Leute, obwohl er wusste, dass ihn das nicht das Geringste anging. Auch ihr Bademantel war weggeräumt.

Er ging früh ins Bett und wollte mal wieder richtig ausschlafen. Oh, welch himmlisches Gefühl, Arme und Beine weit von sich strecken zu können; zu schlafen ohne diesen engen Schlafsack wie in den letzten Wochen; sich richtig breit machen zu können in den frischen Leintüchern, für die Frau Bohner in der Zwischenzeit gesorgt hatte.

Er schlief viel zu lange, was ihm noch nie gut getan hatte. Nach dem Aufstehen fühlte er sich gerädert und stellte fest, dass Frau Bohner immer noch nicht zurückgekehrt war. Verdrossen erledigte er am späten Vormittag noch ein paar Belanglosigkeiten und setzte sich dann missmutig und ohne noch einmal bei Eugen hereingeschaut zu haben mit dem Vorsatz in den Zug, so bald nicht wieder nach Nürnberg zu kommen. Die etwas engen, aber tadellos sauberen Personalschlafstellen an den Streckenenden reichten ihm bis auf Weiteres aus. Er tat sich selbst ein wenig leid und wollte sich wieder ganz auf die Arbeit und in die Ausbildung stürzen.

Aber schon am nächsten Samstag saß er entgegen seiner ursprünglichen Absicht dann doch wieder im Zug nach Nürnberg. Im Dienstplan hatte sich für das Wochenende eine kleine Verschiebung ergeben, und er dachte sich, dass er ja dumm wäre, wenn er nicht den kleinen Spielraum, der sich ihm plötzlich bot, für eine Fahrt nach Hause ausnutzen würde. Frau Bohner sollte inzwischen doch längst zurückgekommen sein.

Als Herkommer am Abend in sein Zimmer trat, stutzte er, denn da lag das große Polster für Gaski wieder am Boden – Frau Bohner musste zurück sein! Er eilte sofort zu ihr hinüber, doch sie hatte ihn kommen hören und wollte ihn ebenfalls gleich sehen, und so stießen sie auf dem dunklen Flur erschrocken aufeinander und konnten nur knapp einen heftigeren Zusammenprall vermeiden. Das anschließende Gelächter geriet auf beiden Seiten unangemessen ausgiebig. Ausgelöst, aber nur ausgelöst war es durch das beiderseitige kurze Beschwichtigungslachen, zu dem ja viele Menschen bei solchen kleinen Missgeschicken aus einer Art angeborener Höflichkeit heraus neigen. Seine Fortsetzung und Kraft aber fand das Lachen durch die unterdrückte Freude über das von beiden ersehnte Wiedersehen. Die fand so eine willkommene Gelegenheit, in unverfänglicher Weise hervorzubrechen. Einmal angekurbelt, ließ sich das Gelächter dann durch allerlei vergnügte Albernheiten leicht noch eine Weile weiterführen, und schließlich fasste Ludwig Frau Bohner am Handgelenk und zog sie, die sanft folgte, mit in sein Zimmer, wo er sie, auf Gaskis Polster weisend, in übertrieben gespielter Traurigkeit fragte, was er damit wohl anfangen solle.

„Ich hatte die Matratze neulich bloß herausgenommen, um sie im Hof tüchtig auszuklopfen. Wer weiß, vielleicht kommt der Gaski doch noch einmal wieder?“

„Den bin ich los.“

„Dann nimmst halt mich dafür!“, alberte Frau Bohner weiter und ließ sich auf das Polster fallen, wo sie sitzen blieb und zu ihm hinaufblickte, wie Gaski das tat, und dabei dessen schräge Kopfhaltung nachzuahmen versuchte. Herkommer ging sogleich darauf ein, kniete auf den Polsterrand nieder, rief ihr streng „Gaski“ zu, mit dem er ja ebenfalls häufig gebalgt hatte, und warf Frau Bohner, nicht ohne Behutsamkeit, auf den Rücken. Er beugte sich lachend über sie, die Arme rechts und links von ihrem Kopf auf das Polster gestützt, und er hätte nun gewiss von ihr abgelassen, wäre da nicht plötzlich wieder dieser Duft gewesen, von dem er besessen war.

Ludwig ließ seine Arme einknicken, sodass sein Kopf dicht neben ihrem auf das Polster zu liegen kam, und sein Oberkörper halb auf ihr lag. Er hätte aufstöhnen mögen, so deutlich nahm er jetzt diesen Duft auf, an den er sich in den ganzen Wochen immer wieder zu erinnern versucht hatte, den er sich aber nicht mehr hatte vergegenwärtigen können. Frau Bohner lag regungslos und rührte sich über Minuten nicht, nicht die geringste Zuwendung, aber auch keine Abkehr. Herkommer drehte sein Gesicht, mit dem er auf dem Polster lag, langsam zu ihr hin, und sie spürte seine Nase und dann auch seinen Mund an ihrem Hals. Das ist die Stelle, an der ich neulich schnuppern wollte, dachte Herkommer, jetzt werde ich sie auf diese Stelle küssen, aber es war nicht mehr als eine Andeutung. Sie blieben noch eine Zeitlang ganz nah beieinander liegen. Später stand Herkommer langsam auf, während Frau Bohner immer noch bewegungslos mit geschlossenen Augen dalag, und dann rief er ihr sehr freundlich, vielleicht sogar zärtlich zu:

„Komm, Gaski, steh auf!“

Frau Bohner nickte, erhob sich und ging dann verträumt lächelnd mit gesenktem Kopf zur Tür.

Am nächsten Morgen musste Herkommer beizeiten aufbrechen. Als er gerade aus der Küche gehen wollte, kam Frau Bohner herein und sagte, wie auch früher immer, leise und ganz unbefangen: „Guten Morgen!“, und schaute ihn nur freundlich an.

Herkommer legte im Vorbeigehen seine Hand an den Mund, beugte sich nah an ihr Ohr und flüsterte nach einer Sekunde des Zögerns zärtlich: „Gaski!“, nur um etwas zu sagen, und sie wusste, dass das mit dem Herumbalgen und dem Herumalbern gestern nicht mehr viel zu tun hatte. –

Die Beziehung zwischen Herkommer und Frau Bohner entwickelte sich dank einer gewissen scheuen Behutsamkeit beider nur langsam, aber überaus beständig weiter, was freilich bei Frau Bohner, der viel Älteren, einen gänzlich anderen Ursprung hatte als beim vorsichtig-unerfahrenen Herkommer.

Wenn Herkommer Dienst hatte, war er oft eine ganze Woche und manchmal auch zwei Wochen lang weg, das waren für Frau Bohner dann meistens Tage voller Sehnsucht, was sie sich aber nicht eingestehen wollte und worüber sie sich ärgerte, und sie spürte dann, wie sehr sie in ihrem ganzen Befinden schon von ihm abhängig geworden war. Umso schöner und ausgefüllter die dienstfreien Tagen mit ihm. Ihre Fürsorge breitete sich immer weiter aus, je genauer sie seine Bedürfnisse und Vorlieben kennenlernte. Und je besser es ihr gelang, die Zeit zwischen ihren viel zu seltenen gemeinsamen Tagen mit kleinen Fürsorglichkeiten für ihn auszufüllen – mit einem Pullover, den sie ihm strickte, mit einem Kuchen, den sie ihm backte –, umso eher kam sie mit den Vorwürfen zurecht, die sie sich immer noch machte. Aber nach wie vor würde man auf die Hausbewohner achten müssen, um ja keinen Anlass für ein Gerede zu bieten. Je vertrauter sie miteinander wurden, desto deutlicher wurde ihr das. Keine zu lauten Gespräche miteinander, möglichst kein gemeinsames Verlassen des Hauses, ja überhaupt: keine gemeinsamen Unternehmungen in der Stadt und auch keine Ausflüge in die Umgebung. Aber darunter litt Frau Bohner. –

Die Eisenbahnerkarriere Herkommers ließ sich gut an und wäre in ihrem Fortgang nicht weiter berichtenswert, wenn sich nicht bald nach seiner Ernennung zum planmäßigen Heizer ein schweres Unglück ereignet hätte, eine Katastrophe geradezu, die bei Herkommer besondere Eigenschaften und Fähigkeiten zu Tage treten ließ, die allgemein und auch von kompetenten Beurteilern als Hinweis auf eine außergewöhnliche Begabung gehalten wurden und die ihn als Führungsnachwuchs qualifizierten.

Es war ihm schon früher gelegentlich aufgefallen – und bei einem Unfall einige Wochen vor dem großen Unglück wurde es ihm noch einmal ganz offenkundig –, dass er ‚enorm hart war im Nehmen‘, wie er sich das selbstbewusst zugutehielt, offenbar viel härter als alle anderen. Er ahnte, dass er diese Härte allein Tante Georgette zu verdanken hatte, damals bei der Tötung der jungen Kätzchen, an der er, wie er glaubte, beinahe zugrunde gegangen wäre; aber er hatte es, gestützt durch Tante Georgettes Lob, eben geschafft, so pries er sich selber, und sei dadurch schließlich zu einem stahlharten Mann geworden, der keinerlei Gefühlen unterlag. Viktor hatte geweint, er jedoch hatte sich durchgebissen! Das sah man eben auch bei diesem Unfall neulich, der der Katastrophe vorangegangen war.

Bei ihrer Einfahrt in die Station von Neusorg war bei einem unseligen Spiel auf dem Bahnsteig ein kleines Mädchen im letzten Augenblick auf die Schienen geraten und von ihrer Lokomotive erfasst und überrollt worden. Frauen schrien auf und selbst raue Männer konnten die Tränen nicht unterdrücken, als sie Sekunden später das grauenhaft zerteilte Kind unter dem zweiten Wagen des mit der Notbremse gestoppten Zuges liegen sahen. Herkommer und sein Lokführer waren von ihrem Führerstand gesprungen, der Lokführer hatte sich auf eine Bank fallen lassen und saß nun zusammengekauert da, die Hände vor dem Gesicht, und schluchzte und rief stöhnend immer wieder, als ob er das Geschehene damit noch abwenden könne, „Nein!“, „Nein!“, „Nein!“, und dann packte er Herkommer, der neben ihm stand, mit beiden Händen am Unterarm und schüttelte ihn verzweifelt.

Inzwischen waren atemlos der Stationsvorsteher und noch ein paar andere Bahnbedienstete herbeigeeilt, alle redeten sie gestikulierend und in erhöhter Stimmlage laut aufeinander ein und liefen dabei ziellos hin und her, keiner hörte auf den anderen, und nicht einer wusste, was er sagte.

Herkommer stieg ruhig zu dem toten Kind hinunter auf das Gleisbett und legte die blutigen und schier nicht mehr identifizierbaren Teile nahe der Bahnsteigkante zu einem armselig kleinen Häuflein zusammen, über das er eine alte Decke breitete. In der Ruhe, die dabei von ihm ausging, wirkte er keineswegs gleichgültig, im Gegenteil, er strahlte einen viel größeren Ernst aus als all die Aufgeregten und Verzweifelten auf dem Bahnsteig. Er war wohl ebenso traurig über den Tod des Kindes und über den ganzen Vorfall, dachte er sich, aber ernsthaft berührt von diesem Unglück oder aufgewühlt oder gar fassungslos wie all die anderen war er nicht. Das Einzige, was ihn wirklich irritierte, das war nicht das Unglück und der Tod des Kindes, sondern dass die Frauen so unbeherrscht schrien und auch die Männer weinten, und sich alle so ganz anders verhielten als er, der wie ein stolzer Fels im Tosen der Gefühle stand und nicht zu erschüttern war.

Das schrieb er seiner besonderen ‚Seelenstärke‘ zu, wie er später Eugen gegenüber prahlte, die aber in Wahrheit nichts anderes als eine Form zunehmender Gefühlsblindheit war, vielleicht tatsächlich ausgelöst, wie er meinte, durch das schreckliche Erlebnis der Katzentötung vor vielen Jahren, als sie noch Kinder waren. Eugen hatte dazu geschwiegen, während Frau Bohner, der er ebenfalls von dem Vorfall in der Station Neusorg und vor allem von seiner Bewährung dabei erzählte, nach erstem Entsetzen ein paar Tage später ihm erklärte, dass ihr schon öfter einmal der Gedanke gekommen sei, dass er, seelisch betrachtet, in vielem Bleisohlen an den Füßen haben müsse, was aber keineswegs unfreundlich gemeint sei, das wäre bei den meisten Männern so. –

Es war schon fast Mitternacht, als Herkommer im Schirndinger Lokomotivschuppen vom Führerstand seiner Lok herunterstieg. Er hatte noch einige kleine Wartungsarbeiten erledigt, sein Lokführer war schon voraus ins Quartier gegangen. Eine der Lokomotiven fehlte noch, der Lokführer hatte vor einer Viertelstunde aus Mitterteich bei der Lokleitung angerufen, dass sie kein Wasser mehr im Tender hätten und wahrscheinlich noch frisches Wasser aufnehmen müssten.

Aber da hörte er sie in der Stille der Nacht ganz in der Ferne schon kommen. „Das ist doch schneller gegangen“, dachte er, „vermutlich haben sie doch kein Wasser mehr aufgenommen.“ Und so konnte er das Tor des Lokomotivschuppens offen lassen. Dann verschob er unter großem Krafteinsatz an der Kurbel die leere Schiebebühne noch so, dass sie direkt einfahren konnten. Erst wollte er noch auf die beiden Männer warten, dann machte er sich aber doch auf den Weg ins Quartier.

Seine Schritte hallten wider von der Häuserwand auf der anderen Straßenseite, und er lauschte auf die kleine Zeitverzögerung der Echos und setzte seine eisenbeschlagenen Absätze noch härter auf, dann hörte er den Zug langsam einfahren. Doch er war noch keine hundert Meter weitergegangen, als vom Bahngelände her überlaut ein ganz kurzes schrilles Zischen ertönte, fast wie ein Pfiff, mit einem unmittelbar folgenden und noch ungleich lauteren mächtigen Donnerschlag, während ihn fast im gleichen Augenblick eine gewaltige Druckwelle erfasste, die ihn beinahe zu Boden geworfen hätte.

Das berstende Krachen und das Getöse der herumfliegenden Gebäudeteile – halbe Dachstühle, Stahltüren, Glassplitter, Dachziegel – und das vielfältige Echo dann von den Bergen herüber waren noch nicht verhallt, als Herkommer mit ebensolcher Plötzlichkeit klar wurde – augenblicklich und in allen Einzelheiten klar wurde –, was geschehen war.

Das war kein logisches Schließen Schritt für Schritt, sondern eine sich spontan einstellende plötzliche Einsicht in ein kompliziertes Geschehen, das mit mehreren ineinandergreifenden Fehlern von Lokführer und Heizer begonnen hatte und mit einem katastrophalen Schlusspunkt endete. Diese Einsicht war schlagartig auf Herkommer eingestürzt, und schlagartig, das heißt: gleichzeitig mit allen aufeinander folgenden Phasen des Geschehens vom Anfang bis zum Ende. Dabei überraschte ihn nicht einmal so sehr die Vollständigkeit und auch nicht die Plötzlichkeit dieser Einsicht, sondern es überraschte ihn vor allem, wie diese Einsicht vom ersten Augenblick an mit der Gewissheit absoluter Richtigkeit ausgestattet war, ein Gefühl, wie es ihm bis dahin noch nie begegnet war.

Und wie um die Bestätigung dafür einzuholen, blickte er zum Bahngelände zurück und sah im Staub und Qualm genau das, was er erwartet hatte. Die Lokomotive, die vom Zug schon abgekuppelt war, aber den Lokomotivschuppen noch nicht erreicht hatte, war, in tausend Stücke zerrissen, in die Luft geflogen; nur noch die Reste ihres Unterbaus waren zu erkennen, nicht einmal alle Räder standen mehr auf den Schienen.

Dann trat erneut Stille ein, aber das war jetzt eine andere Stille. Eine lauernde und drohende Stille, eine Stille, die nur ausholte und die nur so lange währen sollte, bis die entsetzlichen Folgen erfasst worden sind, und die nichts gemein hatte mit jener sanften Stille, die noch vor wenigen Sekunden wie eine weiche Decke für die Nacht über dem kleinen Marktflecken ausgebreitet war.

Schreiend und durcheinanderrufend kamen einige Bahnmitarbeiter angelaufen, die meisten nur halb bekleidet. Sie waren derart verwirrt, und manche von ihnen wirkten geradezu verzweifelt, dass Herkommer sofort klar wurde, dass er der Einzige war, der noch Überblick hatte und dass jetzt seine wichtigste Aufgabe darin bestehen würde, diesen Überblick zu bewahren. Er würde jedem nur eine einzige, klar umrissen Aufgabe zuweisen dürfen, sagte er sich, sonst rennen die alle nur hin und her, und es geschieht nichts.

Als Erster stand plötzlich der Disponent, der von der Lokleitung herübergekommen war, hilflos neben ihm und schaute ihn mit offenem Mund fragend an.

„Was wollen Sie hier, Menschenskind?“, fuhr er ihn barsch an. „Haben Sie denn schon die ganzen Notrufe abgesetzt? – Also los“, rief er möglichst laut, damit es alle hörten, „stehen Sie nicht herum, hauen Sie ab in ihr Büro, das ist jetzt das Allerwichtigste!“

Dann nahm er sich einen großgewachsen älteren Lokführer vor, der völlig außer Atem war, aber wenigstens seine Dienstmütze dabeihatte, wenn er sie auch nur in der Hand hielt.

„Sie sind mir dafür verantwortlich, dass das Bahngelände sofort abgesperrt wird. Schnappen Sie sich dazu noch ein paar Leute! Der einzige Zugang, der offenbleibt, ist dieser hier. Befugte Fahrzeuge winken Sie hier herein, das sind Sanitätskraftwagen, Feuerwehr, Ärzte, Polizei. Sonst kommt hier keine Maus durch! Verstehen Sie? Und setzen Sie Ihre Dienstmütze auf, Sie sind der Vertreter des Hausherrn!“

Der Lokführer nickte, fast dankbar für die präzisen Vorschriften, die ihn jeder Entscheidung enthoben, und Herkommer sah, dass seine Unterlippe zitterte.

„So, und Sie sorgen dafür“, wandte er sich an die beiden Nächsten, „dass alle Verletzten sofort zu den ersten Sanitätsautos, die in Kürze eintreffen, geleitet werden oder selber dorthin kommen, vorrangig lassen Sie die Schwerverletzten von den Sanitätern mit ihrer Trage abholen. Durchsuchen Sie sicherheitshalber den ganzen Zug, vorne beginnen! Eine Trage von uns hängt im Lokomotivschuppen, ganz links. Anschließend breiten Sie über Tote, die Sie im Gelände finden, eine Wolldecke“, wobei er sah, wie da der Jüngere von beiden doch ein wenig zurückzuckte, während der andere es bei einem Schlucken beließ. „Decken, ebenso Karbidlampen“, fuhr Herkommer unbeirrt fort, „holen Sie sich drüben in der Lokleitung. Wenn Sie fertig sind, kommen Sie wieder zu mir!“

So bekam jeder der eingetroffenen Bahnbediensteten eine Aufgabe – der eine hatte zu prüfen, ob noch alle Lokomotiven im Lokomotivschuppen, dessen Dach ziemlich beschädigt war, einsatzfähig waren, denn mit der Lokleitung war wohl nicht mehr zu rechnen; ein anderer sollte klären, ob die Ausfahrgeleise dort und die Schiebebühne noch intakt waren; wieder ein anderer hatte eintreffende Ärzte und Sanitäter sofort in den Sanitätsbereich zu bringen, wohin auch weitere Sanitätsfahrzeuge zu geleiten seien; und einer schließlich sollte unbedingt versuchen, auf dem schnellsten Wege, über den Bahntelegrafen oder irgendwo telefonisch, eine Meldung nach Bayreuth abzusetzen. Dann rief er allen noch laut zu:

„Noch etwas, ganz wichtig! Keinerlei Auskünfte an die Presse! Wenn da welche von der Zeitung kommen, sofort zu mir schicken!“

Bald schon wurde ihm gemeldet, dass alle Lokomotiven bis auf eine unbeschädigt seien und auch die Ausfahrt über die Schiebebühne bei einiger Vorsicht möglich sein müsste. Daraufhin rief er mit der Trillerpfeife noch einmal alle Schaffner, Lokführer und Heizer zu sich und ordnete in forschem Ton an, dass der Dienstplan und somit auch Fahrplan und Abfahrtszeiten in der Frühe so weit wie nur irgend möglich einzuhalten seien. Herkommers Kopf arbeitete präzise und kalt wie eine Rechenmaschine, schnell, fehlerfrei, unbeeinflusst, leidenschaftslos – es gab keine törichten Gefühle, es gab nichts, was hätte stören können.

Er wunderte sich selbst, wie widerspruchslos sich alle fügten. Sie waren die ersten Augenblicke wohl noch zu verwirrt und zu weichgeklopft vom Entsetzen, um gegenüber diesem jungen Mann, der da so sicher auftrat, aufzubegehren, und als dann doch Einzelne Widerspruch vielleicht erwogen, war er von den meisten schon als Anführer akzeptiert. Ein alter Schaffner antwortete sogar mit einem strammen ‚Jawoll!‘ und legte die Hand an die Mütze, froh, dass wenigstens einer da war, der ihnen sagte, was zu tun sei – ganz egal was. Inzwischen waren die ersten Rettungsfahrzeuge eingetroffen, und auch ein paar Mann von der Freiwilligen Feuerwehr erschienen. Auch denen sagte er in der gleichen Weise, was zu geschehen habe, und sie spurten ebenso.

„Achten Sie als Uniformierte vor allem darauf“, sagte er den Feuerwehrleuten, „dass nicht Unbefugte das Bahngelände betreten!“ Denn inzwischen waren auch viele Neugierige herbeigekommen, die von seinen eigenen Leuten kaum mehr in Schach zu halten waren, und er zeigte den Männern die zu sichernden Zugänge zum Bahngelände.

Herkommer beherrschte seine Rolle als Kopf des Ganzen mit einer solchen Selbstverständlichkeit und er gab seine Anweisungen so perfekt und mit so viel ungerührter Kompetenz, dass man hätte glauben können, das alles sei vorher einstudiert und geprobt worden, und da sich alle fügten, weil eben jeder mit einer wichtigen Aufgabe beschäftigt und alle Unbeteiligten ferngehalten wurden, konnte es gar nicht anders sein, als dass allmählich doch eine gewisse Ordnung in das Chaos kam.

Umso schlimmer aber waren dann die Meldungen, die nach und nach bei Herkommer eintrafen. Mindestens sechs Tote bis jetzt, darunter der Lokführer und sein Heizer, den hatte Herkommer gekannt; an die zwanzig Verletzte, darunter acht Schwerverletzte mit großflächigen Verbrühungen; die anderen durch Glassplitter und herumfliegende Trümmer mehr oder weniger schwer verletzt. Er fragte sich, wo diese vielen Leute hergekommen waren; der Gefährdungskreis musste jedenfalls einen erheblichen Durchmesser gehabt haben, und genau im Zentrum dieses Kreises hatten der Lokführer gestanden und sein Heizer, ein netter Kerl, dessen Tod Herkommer, dem es nur um die möglichst perfekte Bewältigung dieser Katastrophe ging, zwar mit Bedauern zur Kenntnis nahm, der ihn aber nicht wirklich berührte.

Herkommer spürte nicht das erste Mal, dass er jetzt eigentlich traurig oder gar bestürzt sein müsste oder dass er in eine Situation geraten war, in der er Furcht oder Angst haben sollte oder Mitgefühl aufbringen und vielleicht sogar Mitleid entwickeln müsste; er wusste also, dass es da noch etwas gab, was bei ihm aber nicht ansprang. Als ob er blind geworden sei dafür. –

Sogar der Zeitungsreporter aus Marktredwitz war inzwischen aufgetaucht, es war derselbe, der ihm schon in Neusorg nach dem Unfall mit dem kleinen Mädchen auf die Nerven gegangen war.

„Wissen Sie denn schon, was überhaupt passiert ist? Eine Explosion oder was?“

„Ganz genau wissen wir das!“, sagte Herkommer. „Das werde ich Ihnen nachher gern erklären, alles ziemlich kompliziert. Warten Sie drüben im Goldenen Stern auf mich!“

Der Goldene Stern war inzwischen hell erleuchtet, aber der Reporter sah auf die Uhr und jammerte, dass keine Minute zu verlieren sei, der eigentliche Redaktionsschluss sei längst vorüber, und wenn das erst einen Tag später erscheint, klagte er, kriege ich dafür höchstens halb so viele Zeilen. Nun ja, dachte Herkommer, gehe ich halt gleich mit ihm hinüber, bevor er dummes Zeug schreibt, aber wie das alles kam und was die beiden auf der Lokomotive alles falsch gemacht haben, das werde ich ihm nicht sagen, das weiß man ohnehin erst nach der Untersuchung genau.

Als er mit dem Reporter im Schlepptau schnellen Schritts dem Hoteleingang zustrebte, traten die Schaulustigen und Gaffer, die sich vor dem Goldenen Stern angesammelt und seine Befehlsausgabe aus der Ferne mitverfolgt hatten, ehrfurchtsvoll zur Seite und bildeten eine Gasse, was er wie selbstverständlich hinnahm, obwohl er es genoss.

Sie saßen noch nicht recht, da hatte Herkommer schon das beklemmende Gefühl, dass der Reporter jedes einzelne Wort, das er ihm sagte, mitstenografierte. Da musst du aufpassen, Ludwig, dachte er. Er nannte ihm als erstes die Zahl der Toten und Verletzten und schilderte die enormen Sachschäden, soweit sie schon zu übersehen waren. Der Reporter schrieb ununterbrochen mit. Dass der zerfetzte Kessel fünfzig Meter weit geflogen war, schien ihn besonders zu beschäftigen. ‚Ein Bild der Verwüstung‘, hörte ihn Herkommer sich selbst leise diktieren.

„Aber wie ist das alles passiert? Vielleicht eine Explosion im Gepäckwagen?“

„Ach was, der Zug war schon abgestellt am Bahnsteig. Er ist nur wenig beschädigt, der Frachtwagen schon gar nicht. Vorwiegend Glasschäden durch die Druckwelle. Und natürlich unter den paar Passagieren, die sich noch auf dem Bahnsteig befanden, etliche Verletzte durch herumfliegende Trümmer und Glassplitter. Nein nein, im Zentrum der Zerstörungen stand die Lokomotive. Die hatte vermutlich Wassermangel.“

„Wie kann das passieren?“

„Nun, beispielsweise durch eine unbemerkt gebliebene Leckage“, antwortete Herkommer. Der Kerl bohrt doch genau an der richtigen Stelle, dachte er, jetzt muss er mich bloß noch nach dem Wasserstandsanzeiger und dem Sicherheitsventil fragen!

„Und wieso ist dann alles in die Luft geflogen, nur weil die Lokomotive kein Wasser mehr hatte?“

„Das ist ein komplizierter Vorgang. Er heißt Kesselzerknall und kommt zum Glück nur selten vor, aber er ist der Schrecken eines jeden Heizers und Lokführers, schlimmer als jede Explosion. Wenn Wassermangel herrscht, ist ein Teil der Feuerbüchse, in der sich die Glut befindet, nicht mehr mit Wasser bedeckt, sodass sie unheimlich heiß wird. Beim Abbremsen vor der Schiebebühne – das hätte genauso schon vorher beim Anhalten auf dem Bahnsteig passieren können, da haben wir noch großes Glück gehabt! –, ist das Restwasser über den trockengeheizten Teil der Feuerbüchse, der wahrscheinlich sogar schon glühte, hinweggeschwappt und vom einen Augenblick auf den anderen ist schlagartig eine enorme Dampfmenge entstanden. Der Druck schnellte trotz Sicherheitsventil empor und an irgendeiner Stelle, vielleicht im Bereich der überhitzten Feuerbüchse, war ihm der Kessel nicht mehr gewachsen und riss auf.“

„Aha, so ist also der Kessel explodiert.“

„Nein, das wäre im Vergleich dazu noch harmlos, die eigentliche Katastrophe folgte erst, und zwar schon im nächsten Moment! Der Druck im Kessel fiel also schlagartig ab, als der Kessel riss, – und man möchte meinen, dass das ja nur gut ist! –, aber dadurch verdampfte im gleichen Augenblick das gesamte Restwasser, das da im Kessel noch herumschwappte. Es war ja bis weit über die Siedetemperatur erhitzt und ist vorher nur deshalb nicht verdampft, weil im Kessel ein entsprechend hoher Druck geherrscht hat. In dem Moment, wo der Druck weg war, verwandelte sich das ganze Wasser schlagartig und restlos in eine riesige Dampfmenge mit einem Vielfachen des Kesselvolumens, die alles wegfegt, was im Weg steht. Das erst ist die eigentliche Katastrophe.“

Herkommer bemühte sich, dem Reporter den Zerknall nicht nur verständlich, sondern so drastisch wie nur möglich darzustellen, was schon aus seinen heftigen Gesten ersichtlich war, denn er wollte ihn von erneuten Fragen zu den Ursachen des Wassermangels weglocken. Herkommer war ja schon wenige Sekunden nach dem Zerknall, als ihn die Druckwelle beinahe zu Boden geworfen hätte, die ganze Kette der Ereignisse klar geworden, die zu dem Unglück geführt hatte. Er war sich dabei seiner Sache völlig sicher und wusste genau, was die beiden in der Lok alles falsch gemacht hatten: Sie hatten kein Wasser mehr im Tender, wie er aus ihrem Telefonanruf wusste – das war schon der erste Fehler; ohne Wasserreserven fährt man nicht oder höchstens nur bis zum nächsten Wasserkran. Zwar erwogenen sie, wie ebenfalls dem Telefonanruf zu entnehmen war, noch Wasser aufzunehmen, hatten es dann aber wohl in der Hoffnung, dass das Kesselwasser noch bis Schirnding reichen würde, doch unterlassen – das war der zweite Fehler. Sicherlich haben sie dann auf der Weiterfahrt ihre Armaturen genau beobachtet und gesehen, dass sie nicht nur längst schon unterhalb der zulässigen Betriebsdaten fuhren, sondern sich inzwischen sogar schon hart an der Grenze des technisch noch Möglichen bewegten. Aber da haben sie dann, den Bahnhof von Schirnding schon fast vor Augen, nicht den Mut aufgebracht, die Lokomotive auf offener Strecke kalt zu machen, also das Feuer vom Rost zu entfernen, weil das unter Lokführern und Heizern als Blamage sondergleichen gilt – das war der dritte Fehler. Und was dann zwingend folgte, hatte er dem Zeitungsmenschen ja schon erläutert.

Als Herkommer mit dem Reporter, der immer häufiger auf die Uhr geschaut hatte, wieder ins Freie trat, stand der Frühzug schon abfahrbereit auf dem Bahnsteig und zwei weitere Loks verließen gerade den Lokomotivschuppen.

Das Gröbste war getan. Im Tschechischen drüben wurde der Himmel schon hell. Er würde nachher ausführlich mit Bayreuth telefonieren müssen. –

Milchbrüder, beide

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