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12_Viktors und Ludwigs Wiedersehen und der Umsturz am 30. Januar 1933

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Vor ein paar Jahren schon, mit dem Einzug in das Internat, war bei Viktor ein gewisser Wandel eingetreten, den er wohl verspürte, den er aber noch immer nicht zu benennen, ja nicht einmal recht nachzuerleben vermochte. Er war ein anderer geworden. Ein anderer – aber welcher? Jedenfalls war er nicht mehr der Frühere. Aber auch der ging ihm in seiner Erinnerung immer mehr verloren. Weder der eine noch der andere zu sein, das war sein schwebender Zustand in den ganzen Jahren des Internats.

Er wusste, er war lange nicht so vorlaut wie Ludwig, dieser alte Rüpel, von dem er so gerne wieder einmal gehört hätte; ja er war überhaupt nicht vorlaut; aber was ihn vor allem, gleich von Anfang an, gewürgt und ihm den Mund zugeschnürt hatte, das war dieses Heimweh gewesen, das alles ergriff, das alles, jede Regung, jedes Gefühl, jeden Gedanken sogleich überflutete und sodann aushöhlte und seines Sinnes beraubte und das manchmal so heftig war, dass er es als körperlichen Schmerz zu spüren glaubte. Als es ihm nach Monaten endlich bessergegangen war, hatte die Klasse seine Position als der Stille, der Nachdenkliche und der Zurückhaltende längst festgelegt, und er hatte sich auch selbst daran gewöhnt. Dabei war es geblieben, bei den Mitschülern, bei den Lehrern und bei den Mentoren, da kam er nicht mehr heraus.

Viktor fiel nicht auf, niemandem, nicht im Guten und nicht im Bösen. Dabei war er keineswegs unbeliebt, aber er spielte im Gesamtbild der Klasse kaum eine Rolle. Dieter Pilgrim, der Klassensprecher, Sohn eines Generals, der ihn eigentlich mochte, das wusste er, und der neulich für ein Geländespiel die Besatzung der Burg, die verteidigt werden sollte, zusammenzustellen hatte und dabei immer wieder andere Strategien und Konstellationen ausprobierte, hatte schließlich alle Namen in der Klasse genannt, manche auch mehrmals, aber ihn einfach übersehen. Nicht ein einziges Mal war sein Name bei der Planung vorgekommen.

Viktor war freundlich zu allen, aber er hatte keinen engen Freund, außer vielleicht einen gewissen Kontakt zu Dieter Pilgrim. Zu den Mädchen in der Klasse hielt er, obwohl sie ihm im Sport imponierten, scheue Distanz. Sein Blick auf die vergangenen Internatsjahre, aber auch jetzt noch auf die Gegenwart, das war wie der Blick durch eine daumendicke Glasscheibe; kristallklar, gewiss, aber alles, was er durch diese Scheibe sah, sein ganzes Internatsdasein, betraf ihn eigentlich nicht selbst.

Von seinem Vater hatte er dieser Tage einen Brief erhalten, ziemlich ausführlich sogar, aber im Ganzen doch kühl wie meistens, was wohl daher rühren mochte, dass sein Vater auch seine private Post der Sekretärin zu diktieren pflegte. Er trug diesen Brief den ganzen Tag über mit sich herum, um immer wieder einmal hineinzuschauen und vielleicht doch noch etwas mehr herauslesen zu können als beim ersten gierigen Überfliegen. Es waren stets perfekte Briefe, die da von seinem Vater kamen, mit Schreibmaschine geschrieben, selbstverständlich fehlerfrei und auf teurem Briefpapier, aber wie gern hätte er doch einmal eine vollgekrakelte Ansichtskarte von ihm erhalten, mit kleinen Schreibfehlern und Korrekturen darin und ein paar Wasserflecken auf der Adresse und vielleicht mit einer noch schnell auf den Rand gekritzelten Schlussbemerkung, eine bunte Ansichtskarte von irgendwoher, vielleicht von einer seiner Geschäftsreisen in alle Welt, auch wenn dann viel weniger drinstünde als in diesen wohl abgezirkelten Briefen.

Sein Vater hatte ihm geschrieben, es sei eine gute Idee, dass er die wenigen Ferientage verwenden wolle, sich in Erlangen erst einmal umzusehen, bevor er eine Entscheidung über seinen künftigen Studienort treffe; er möge aber nichts übers Knie brechen, er habe ja noch Zeit. Natürlich könne er gut verstehen, dass ihn neulich in Heidelberg diese vielen Braunhemden im Gebäude der Studentenschaft gestört oder sogar erschreckt hätten, zumal deren Träger ja besonders laut und zackig aufzutreten pflegten, aber er möge bei Gott nicht annehmen, dass das in Erlangen grundsätzlich anders sei und sollte deshalb Heidelberg, schon der Nähe wegen, weiterhin in der engeren Wahl belassen. Denn in Erlangen würde das über kurz oder lang genauso werden, die Franken seien seinem Eindruck nach für diese Hitlerideen besonders empfänglich, das habe er bei seinen häufigen Besuchen im Nürnberger Werk immer wieder gesehen, empfänglicher jedenfalls als die katholischen Bayern, und ihn schmerze eigentlich nur, dass auch die akademische Welt auf diese ebenso wirren wie gefährlichen Ideen so unglaublich anspreche. Dass Teile des Proletariats und vor allem das Kleinbürgertum leicht verführbar sind und da schnell Hurra schreien, das überrasche ihn nicht, aber dass die Akademiker in so großer Zahl mindestens ebenso engagiert mittun, darauf hätte er nicht einen Pfennig gewettet, und das sei eine seiner großen Enttäuschungen und beunruhige ihn. Es seien eben vor allem die Völkischen in allen möglichen Schattierungen, die es während seines Studiums, lange vor dem Krieg, auch schon gegeben habe – nationalistisch, rassenideologisch und militärbesessen. Und ihre heutigen Nachfahren, oft ehrgeizige Aufsteiger, neuer Mittelstand, glaubten nun, mit ihren verworrenen mystisch-fantastischen Idealen und ihren puppenstubigen Ordnungssehnsüchten am ehesten bei den Nationalsozialisten ein Echo zu hören. ‚Blubo und Brausi‘, so hätten sie sich schon damals über die Völkischen lustig gemacht – Blut und Boden, Brauchtum und Sitte. Im Übrigen solle er keinesfalls versäumen, seinen alten Busenfreund Ludwig aufzusuchen, der ja, wie er von dessen Vater wisse, jetzt in Nürnberg lebe. Es sei immer gut, einen Ortskundigen als Stützpunkt zu haben, bei allen seinen Reisen sei das stets eines seiner wichtigsten Prinzipien gewesen.

Dieser Ratschlag seines alten Herrn wird sich leicht befolgen lassen, dachte Viktor, nachdem er ja, was er in seinem Brief an seinen Vater zu erwähnen vergessen hatte, nach Erlangen zusammen mit Dieter Pilgrim fahren würde, der in Nürnberg zu Hause war. Dessen Vater hatte ihn eingeladen, für die paar Tage bei ihnen in Nürnberg zu wohnen, und so würde er von dort aus den Ludwig ganz bestimmt mal aufsuchen. –

Obwohl sie schon seit Jahren in derselben Klasse waren, wussten Viktor und Dieter Pilgrim nur wenig voneinander. Dieter war in der Schule der überragende Star, nicht nur Primus schon seit Jahren, sondern auch Klassensprecher und seit neuestem sogar der Schulsprecher. Daneben war Viktor fast unsichtbar. Auf der langen Bahnfahrt jedoch kamen sie sich rasch näher. Das war vor allem Dieters Verdienst, der sich auch wirklich Mühe gab; doch auch Viktor hatte sich vorgenommen, auf alles einzugehen und Dieter jede Antwort zu geben, so er sie wusste, und mit nichts hinterm Berg zu halten.

Viktor hatte Dieter Pilgrim zwar stets für einen imponierenden Kerl, aber doch auch für einen ehrgeizigen Streber gehalten, dem nichts wichtiger war, als in allem an erster Stelle zu stehen. Aber das stimmte nicht, je länger er Dieter zuhörte, desto klarer wurde ihm, Dieter war ein extremer Perfektionist: Jede Aufgabe, ganz egal was, die man übertragen bekommt oder aus eigenen Stücken übernimmt, ist so perfekt wie nur irgend möglich zu lösen; sie ist ohne Rücksicht auf Aufwand, Einsatz und persönliches Risiko – und dazu noch in gehörigem Tempo – zum bestmöglichen Ende zu bringen. Das war es, was ihn in allen Fächern, ja überhaupt bei allem, an die Spitze brachte, und nicht, weil er den Lehrern gefallen wollte, denen er zum Teil doch bemerkenswert kritisch gegenüberstand.

Ehrgeiz und Strebertum, das waren eigentlich ziemlich unbrauchbare Wörter, fand Viktor. Ehrgeiz, das heißt, so wie er das Wort verstand, Leistungsbereitschaft, das musste ja nichts Schlechtes sein, aber Strebertum, das war zu verwerfen. Wie schlecht die Wörter passten, das sah man an Dieter, denn eigentlich sind doch Ehrgeizige wie er einfach nur strebsam – ohne dass sie unbedingt mit der Ehre geizen würden, und für Streber hält man doch eher solche, die sich bloß anstrengen, weil sie sich beim Lehrer ein rotes Röckchen machen und ihre Klassenkameraden ausstechen wollen. Ja, so ähnlich muss das wohl sein. –

Schon am Tag nach ihrer Ankunft hatten sie sich aufgemacht, Ludwig zu besuchen. Auf dem Klingelschild stand ‚Violeta Bohner‘ und ganz klein ‚L. Herkommer 2 x‘ darunter, doch als sie geläutet hatten, zweimal, öffnete Frau Bohner.

„Entschuldigen Sie bitte – Viktor Zabener“, verbeugte sich Viktor, „wir wollten Herrn Herkommer besuchen, ich bin ein früherer Schulkamerad von ihm.“

„Oh, da haben Sie Glück“, rief Frau Bohner, „er ist da“, und dann lauter: „Ludwig! Du hast Besuch, zwei Herren.“

Viktor war grenzenlos gespannt, als sie eintraten, und da kam er ihnen auch schon laut lachend über die knarrenden Dielen entgegen: immer noch eher klein, aber doch größer, als er ihn in Erinnerung hatte, dazu athletisch, breitschultrig und kurzhalsig, mit einem Wort bullig, dabei breitstirnig und großspurig und grölend. Das ist ja ein richtiger Mann geworden, dachte Viktor, und er kam sich blass und käsig dagegen vor, ein linkischer Internatsschüler, hoch aufgeschossen und staksig. Herkommer dagegen sah Viktor ganz anders. Ihm imponierte Viktor geradezu in seiner etwas unbeholfenen Vornehmheit. So sehen junge Herren eben aus, dachte er, als er ihn mit sich selbst verglich. Noch mehr aber beeindruckte ihn der mitgekommene Dieter Pilgrim in seinem weltmännischen Auftreten, der in so perfekten Sätzen daherreden konnte.

Frau Bohner, erfreut über das unverhoffte Leben in ihrer Wohnung, bot an, einen gedeckten Apfelkuchen zu servieren.

„Tee oder Kaffee dazu?“

„Kaffee, Kaffee“, entschied Herkommer ohne die Wünsche seiner Gäste abzuwarten, „aber du kommst mit dazu!“

Es entfaltete sich, so verschieden diese Vier auch waren, ein Geplauder, das sich erst gegen Ende plötzlich verdunkeln sollte.

Herkommer erzählte nicht uninteressant von seinen Erlebnissen als Eisenbahner, trug dabei jedoch reichlich dick auf und tat erhaben, was manchmal doch etwas blasiert wirkte; es war spürbar, dass er vor allem Dieter Pilgrim imponieren wollte. Aber der Jubel, den er anstimmte, als er hörte, dass Viktor erwäge, sein Studium in Erlangen zu beginnen, klang dann wieder ganz natürlich.

Fast besser noch als Ludwig Herkommer beherrschte Dieter Pilgrim die Kunst, mittels kleiner Kopfbewegungen und Blicke zu reden. Als Frau Bohner in die Küche ging, schaute er zu Viktor hinüber, und sobald er Blickkontakt mit ihm hatte, hob er mit einem kleinen Ruck den Kopf, wie eine Art Nicken nach oben, wobei er die Augenbrauen leicht hochzog – das war aber nur der erste Teil der Nachricht. Noch in der gleichen Sekunde machte er mit schräg gehaltenem Kopf noch einmal eine solche kurze Bewegung, mehr zur Seite, in Richtung Küche; danach schaute er mit einem kaum sichtbaren Schmunzeln versonnen auf Herkommer. Viktor verstand sofort. Das sollte wohl heißen: Achte auf diese Frau, sie ist hier nicht nebensächlich; und es hieß außerdem noch: ei, dieser Ludwig!

Frau Bohner war glücklich, sie fühlte sich unter den jungen Leuten wie unter Gleichaltrigen und von diesen auch aufgenommen. Wenn Ludwig und sie zusammen waren, was sich selten genug ergab, so waren sie stets allein miteinander gewesen, nie hatten sie Gäste, nie waren sie zusammen in der Öffentlichkeit, nicht einmal in einem Biergarten oder im Kino, auch vor den Hausbewohnern hielten sie sich als Paar stets verborgen.

Viktor und Dieter erzählten ausführlich vom Internatsleben und was es dort alles an Misstaten gegeben habe, Frau Bohner sprach von Erlebnissen auf ihren Fotoreisen, die fast schon Expeditionen waren, und Herkommer berichtete am Schluss noch von seiner beruflichen Entwicklung und, etwas verwirrend, von seinen Plänen, die eigentlich schon mehr seien als nur Pläne. Der Polizeidirektor Steinwald, der mächtigste Mann in ganz Nürnberg, direkt unter dem Polizeipräsidenten, habe einen Narren an ihm gefressen und wolle ihn unbedingt wiederhaben.

„Wieso wiederhaben?“, fragte Viktor.

„Oho“, schaltete sich Frau Bohner lachend ein, „Ludwig war eine Berühmtheit in der Nürnberger Polizei!“ Und schon stand sie auf, um die Zeitungsausschnitte mit den Berichten über die großen Erfolge Herkommers als ziviler Polizeihundeführer herbeizuholen.

„Nichts da“, wehrte Herkommer, plötzlich bescheiden geworden, ab, „nicht ich! Das war der Gaski, einer der besten Polizeihunde, die es je gab. Aber dieser Steinwald will mich halt haben, übrigens nicht wegen der Hundeführerei, von daher kennt er mich nur, sondern durch die Eisenbahnkatastrophe in Schirnding ist das gekommen. Unser Betriebsvorstand hatte ihm davon erzählt, das sind irgendwie Parteifreunde. Jedenfalls scheide ich bei der Oberfränkischen Eisenbahngesellschaft aus, am Freitag ist mein letzter Tag, unser Betriebsvorstand gab mich sogar gerne ab, sagte er, ohne dass ich nun darüber enttäuscht sein müsste. ‚Solche Kerle sind bei uns in der Partei noch wichtiger als bei der Bahn. Besonnene und vor allem harte Männer, die werden wir bitter brauchen!‘, soll er gesagt haben“, freute sich Ludwig.

Frau Bohner, die von all dem offenbar noch nichts Genaueres gehört hatte, freute sich: „Dann kommst du also wirklich wieder ganz nach Nürnberg?“

„Freilich!“

„Ja sag mal“, wollte Viktor noch wissen, „dann bist du also ab nächster Woche wieder bei der Polizei?“

„Nicht direkt –“, rückte Herkommer zögernd heraus, „ich habe einen Posten bei der deutschen Arbeiterpartei –“, ‚nationalsozialistischen‘ ließ er lieber weg, „als hauptamtlicher Mitarbeiter bei der SA, die hat aber ebenfalls gewisse Ordnungsfunktionen.“

„Pah“, platzte Dieter Pilgrim da heraus, „Schlägerfunktionen meinen Sie wohl, Ludwig! Das würde ich mir an Ihrer Stelle doch noch gut überlegen!“

„Aus der SA, nicht aus dem Militär, wird sich das künftige Volksheer entwickeln, Herr Pilgrim, und je früher ich dabei bin, desto besser meine Aussichten.“

Bei dem Wort Volksheer war Pilgrim, immerhin Sohn eines Generals der Reichswehr, zusammengezuckt und wollte noch eine Bemerkung dazu machen, sagte dann aber nichts mehr. Frau Bohner, die Herkommer gegenübersaß, war, nachdem sie das mit der SA erfahren hatte, ebenso verstummt und blickte mit plötzlich ausdruckslos gewordenem Gesicht an Herkommer vorbei.

Danach wollte kein rechtes Gespräch mehr aufkommen. Frau Bohner, die fast die Lebhafteste gewesen war, schluckte nur noch und brachte nicht ein Wort mehr heraus. Schon bald rüsteten sich die Gäste zum Aufbruch. Man versprach, sich wiedersehen zu wollen, und keiner ahnte, dass sie sich nie wieder zu viert treffen würden.

Herkommer ging zusammen mit den Gästen, um noch etwas zu erledigen. Frau Bohner blieb allein in der Wohnung zurück. –

Nach einer verzweifelten Nacht fuhr Violet Bohner in aller Frühe zu ihrer Tante Constanze nach München. Tante Constanze, wohlhabende Witwe ohne eigene Kinder, war die Schwester ihres Vaters und ihr immer zärtlich zugetan gewesen. Ach, sie hätte sie schon viel früher einmal besuchen sollen! Seit der letzten Begegnung sind doch Jahre vergangen, und der Anfang ihres Gespräches, ja das Gespräch überhaupt wird schwierig werden. Aber sie wüsste sonst keinen Menschen, an den sie sich wenden könnte. Sie brauchte einfach jemanden, dem sie alles erzählen, vor dem sie ihre ganze Pein ausbreiten konnte. Ob das Verrat ist an Ludwig, wenn sie nun alles mit Tante Constanze bespricht? War es nicht überhaupt schon Verrat an Norbert, ihrem Mann, dass sie sich mit Ludwig eingelassen hat? Wie viele Jahre bin ich inzwischen schon allein? Ich bin doch immer noch eine ziemlich junge Witwe, oder nicht? Stammen denn nicht meine besten Arbeiten aus der Zeit, wo ich nur für die Fotografie lebte?

Sie quälte sich mit immer neuen Fragen. Während der ganzen Fahrt hielt sie ein verknäultes Taschentuch zusammengepresst in der Hand.

Tante Constanze empfing sie strahlend und mit prallem Wohlwollen. Sie hat sich wundervoll gehalten, dachte Violet Bohner, noch immer unverkennbar eine Dame der Gesellschaft, eine Dame, die im rechten Verhältnis zu ihrem eigenen Alter steht. Ich sehe so etwas als Fotografin. Sie muss eine ausnehmend schöne Frau gewesen sein, und auch heute noch – oh, ich hätte einen Apparat mitnehmen sollen.

„Dass du zu mir kommst, Kindchen, um deine kleinen Sorgen mit mir zu besprechen, das freut mich besonders! – Ja, das ehrt mich geradezu“, fügte sie mit gut gespieltem Stolz und blitzenden Augen noch hinzu. „Ihr jungen Leute seid sonst nicht so offenherzig gegenüber uns Alten.“

Sie gingen durch eine helle Diele und – sieh da! – in einem weiten Erker hingen im Großformat, sauber aufgezogen, einige ihrer schönsten Aufnahmen an den Wänden. Sie war selbst überrascht, dass es so viele waren, die sie da im Lauf der Jahre Tante Constanze zu allen möglichen Anlässen geschickt hatte.

Trotz des herzlichen Empfangs und der überraschenden Begegnung mit ihren eigenen Bildern verspürte Violet immer noch arge Beklemmung, und das Reden über sich selbst fiel ihr schwer. Ich hätte vielleicht doch erst einmal versuchen sollen, mit mir allein ins Reine zu kommen, so suchte sie, noch ehe sie recht saßen, ihren inneren Rückzug vorzubereiten; was kann mir da Tante Constanze schon helfen.

Violet, die so Selbständige und Erfolgreiche, kam sich Tante Constanze gegenüber klein vor wie ein junges Mädchen, das von zu Hause weggelaufen war und nun beichten muss. Dabei hätte es keinen Menschen gegeben, der ihr liebevoller zugehört hätte als Tante Constanze. Violet sprach fast tonlos und in verkürzten Sätzen, als lese sie aus einem gedrängt geschriebenen Tagebuch vor.

Sie erzählte zögernd, manchmal auch stockend, wie sie Ludwig Herkommer kennengelernt hat, wie unbefangen und frisch er damals das Zimmer besichtigt hatte, wie sie sich allmählich freundschaftlich näher gekommen sind – „er war mir einfach sympathisch, verstehst du, so grenzenlos sympathisch“ –, wie sich alles weiterentwickelt hat, ohne ihr Zutun, und welche Zweifel sie manchmal überkamen.

„Weißt du, ich bin immerhin fast 16 Jahre älter, er könnte mein Sohn sein.“

„Nun ja, fast“, korrigierte Tante Constanze trocken. „Du kannst ganz frei und unbefangen zu mir reden, mein liebes Kind. Ich weiß doch selbst, wie das ist. Nach Carls Tod, wirklich, erst ein paar Jahre nach seinem Tod“, Violet kannte Onkel Carl nur dem Namen nach, „da hatte ich auch einen guten Freund. Fast bis zu dessen Tod. Das war ein wunderbarer Mann. So unternehmenslustig, dabei so zärtlich und viel vergnügter und ausgelassener als mein würdiger Carl gewesen war. Und viel Lebensfreude heißt immer auch viel Lebenskraft! Oh, die hatte er!“

Tante Constanze schien noch immer begeistert von dieser Verbindung, und man sah ihr an, wie gern sie an diese Zeiten zurückdachte.

„Eines Tages aber kam unser Rabbiner zu mir – eigentlich ein lieber und herzlicher Mensch. Mein guter Carl war mit ihm fast befreundet gewesen, kann man sagen, aber ich hatte ihn schon seit vielen Jahren, ich glaube seit Carls Beerdigung, nicht mehr gesehen – und der machte mir arge Vorhaltungen, das war ganz schlimm. Ich war fassungslos und den Tränen nahe. Er komme im Rahmen seiner allgemeinen Verpflichtung zur Seelsorge bei allen Gemeindemitgliedern, meinte er fast entschuldigend. Carl war ja sehr gläubig gewesen, er zählte wohl zur Gruppe der Konservativen, die aber immer noch viel moderner sind als die Orthodoxen, und meine Gleichgültigkeit hat ihn sicherlich geschmerzt, obwohl wir immer wieder gute Gespräche über Glaubensfragen geführt haben. – Aber wie die in der jüdischen Gemeinde doch sofort alles erfahren, was man macht! Selbst in einer so großen Stadt wie München! Und wie sie sich auch um das Leben von Leuten kümmern, die sie im Grunde gar nichts mehr angehen!“

Violet fühlte sich erleichtert. Sie berichtete nun freier über den Wandel ihrer Gefühle, und erzählte von Gaski, diesem merkwürdig begabten Hund.

„– genauso, wie er Gaski sich zum Gefährten gemacht hatte – ohne ihn zu knechten –, genauso mühelos unterwarf er auch mich. Ohne Anstrengung oder gar Gewalt, abwartend nur – einfach indem er da war.“

Sie stockte wieder und fuhr dann fort:

„Er ist für mich die Kraft und das Leben, ich möchte ihn in mich – hereinsaugen geradezu.“

„Vergiss nicht, mein Kind“, fügte Tante Constanze hinzu, und da klang Kenntnis auf, „ein Liebhaber ist umso besser, je mehr er auch dem Partner Lust bereiten will. Das gilt für beide, und gleichzeitig.“

Violet berichtete, wie sich später dann ihr Verhältnis immer mehr stabilisierte, aber eben auf einer schmalen Basis – „wir trafen uns nur zu Hause, nirgends sonst und mit niemandem sonst“ – und sie beklagte die langen Unterbrechungen, weil er wochenlang dienstlich unterwegs sein musste, bis er dann in einer Nacht plötzlich und ungestüm wieder erschien.

„Aber gestern kam der totale Absturz. Obwohl man ihm eine besondere Karriere bei der Oberfränkischen Eisenbahn versprochen hat, will er dort weg. Wahrscheinlich gerade deshalb, weil er sich so bewährt hat, wollen ihn die Neuen haben – da scheint es irgendwelche Verbindungen zu geben! Er hat einen festen Posten angeboten bekommen, also hauptberuflich, bei der SA, das sind die mit den Braunhemden in der Hitlerpartei.“

„Ja, ich weiß, aber um Gottes willen, was verspricht er sich denn da davon?“

„Ich weiß noch nichts Genaueres. Ich weiß nur, dass es jetzt aus ist, aus sein muss! Aber meine Leidenschaft“, und sie sagte tatsächlich Leidenschaft, „hat sich ja nicht geändert. Das macht alles so schlimm.“

„Ist er denn ein fanatischer Anhänger?“

„Nein, sicherlich nicht. Da hätte er sich irgendwann einmal zustimmend zu Hitler geäußert. Nein, die SA ist für ihn einfach ein besonders aussichtsreicher Arbeitgeber. Er hat sich ja dort nicht beworben. Umgekehrt, so könnte man sagen, die haben sich beworben. In seiner Berufung, hat er erklärt – aber das Wort ‚Berufung‘ stammt sicher nicht von ihm –, sieht er eine Auszeichnung für seine Tätigkeit bei der Oberfränkischen. Beim Wechsel davor war das genauso gewesen! Dabei kommt er bei der SA in eine ganz untergeordnete Position, sagt er. Aber der wird überall Karriere machen. Wer weiß, was sie ihm alles versprochen haben.“

„Nun, wenn er nicht fanatisch ist, dann hast du eine Chance! Wirke auf ihn ein!“

„Du meinst also, ich soll weiterhin –“

„Ja, das ist jetzt geradezu deine Aufgabe! Sprich mit ihm! Immer wieder! Verhindere, dass er ihnen verfällt! Sollte er allerdings zum Fanatiker werden – das kommt immer wieder vor, dass ein Posten bei irgendeiner Firma zum Glaubensbekenntnis wird –, dann hast du da nichts mehr zu suchen.“

„Ich will es versuchen“, antwortete Violet ziemlich kleinlaut.

„Als Allererstes musst du ihm sagen, dass du eine Jüdin bist. Mit Stolz musst du ihm das sagen, nicht mit ‚leider‘! Bis jetzt bestand noch keine Notwendigkeit dazu, aber jetzt ist das zwingend. Das Bekenntnis sind gerade wir assimilierten Juden unseren Mitjuden – ich will nicht einmal sagen unseren Glaubensgenossen – und ebenso natürlich allen anderen hier schuldig.“ –

Auf der Heimfahrt nach Nürnberg war Violet fast glücklich. Sie wunderte sich, wenn sie an die Hinfahrt nach München dachte, wie anders die Welt jetzt aussah, obwohl sich an ihrer elenden Lage nichts geändert hatte. Aber nun hatte sie eine Aufgabe, und sie fasste den festen Vorsatz, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit Ludwig aufzuhalten, mit ihm zu sprechen und sich ihm als Jüdin zu offenbaren. Kein Tag sollte ungenutzt verstreichen, sofort!

Im Treppenhaus legte sie sich noch einmal ihre Sätze zurecht. Als sie die Wohnungstür aufschloss, läutete drinnen das Telefon. Der Anrufer war Viktor Zabener, der sich auf das Höflichste erkundigte, ob Ludwig zu sprechen sei.

„Ah, Sie sind es, Herr Zabener! Ich bin soeben zur Tür hereingekommen, ich war in München. Ich will nachsehen, ob Ludwig da ist, einen Augenblick bitte –“

Und dann: „– hallo, Herr Zabener, sind Sie noch da? – Er hat sich etwas hingelegt, soll ich ihn wecken?“

Violet spürte, wie Viktor zögerte; es schien wichtig zu sein.

„Sagen Sie ihm doch bitte, am Marienplatz stünde die Polizei mit Maschinengewehren –“

„Moment, ich werde ihn fragen –“

Da kam Herkommer auch schon von hinten und nahm noch ein wenig schläfrig den Hörer ans Ohr – „Ludwig hier“ – und lächelte dabei freundlich zu Violet hin, doch schon nach den ersten Worten, die er vernahm, war sein Blick, sein ganzes Gesicht, voller Anspannung und in einer Art erfreuter Wachsamkeit auf etwas Fremdes in der Ferne gerichtet.

„Ich muss sofort los, Bohne!“, rief Herkommer im Auflegen, band seine Schuhe zu und langte nach seinem Mantel an der Garderobe.

„Der Viktor hat ja keine Ahnung! Das ist der Umsturz! Ich muss sofort zur Kreisleitung, so ist das ausgemacht, zum Sammeln. Die meisten kennen mich noch gar nicht – und keine Angst, Bohne, was der Viktor da sagt; die Polizei verfügt nicht über Maschinenwaffen.“

Herkommer stand schon unter der Wohnungstür, aber Violet, die schon ein paar Mal angesetzt hatte, wollte wenigstens, so schlecht das im Augenblick auch passen mochte, den wichtigsten Teil ihrer Botschaft loswerden und rief ihm etwas gepresst nach:

„– ich bin doch eine Jüdin, Ludwig!“

Herkommer, der nicht wollte, dass das im ganzen Treppenhaus zu hören sei, wehrte unwillig ab – „Weiß ich doch längst!“ – und zog die Wohnungstür hinter sich zu. Violet war perplex. Wie hatte er das erfahren?

Dass er es längst schon wusste, das war freilich übertrieben. Als er in der vergangenen Woche auf der Kreisleitung bei dem Vorstellungsgespräch seine Adresse nannte – Schraderstraße 15 –, hatte einer seiner Gegenüber beiläufig gefragt:

„Schraderstraße 15 …, Schraderstraße 15 – sag mal, wohnt da nicht auch diese junge alleinstehende Jüdin mit im Haus, diese Fotografin? Kennen Sie die?“ –

Milchbrüder, beide

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