Читать книгу Europäisches Privatrecht - Bettina Heiderhoff - Страница 61

a) Vorrang der Grundfreiheiten vor dem Mindeststandardgebot?

Оглавление

70

Eine besonders problematische Konstellation liegt vor, wenn nationales Recht über den Schutzstandard einer europäischen Richtlinie hinausgeht und zugleich die Grundfreiheiten berührt. Betroffen davon sind die wichtigen und häufigen Fälle, in welchen nationales Recht einen höheren Standard an Verbraucherschutz gewährt als das EU-Recht. Ein Beispiel ist der Fall, dass das deutsche Recht eine AGB verbietet, welche nach der europäischen Klausel-RL zulässig wäre.[135] Noch erheblicher ist der Eingriff, wenn bestimmte Haustürgeschäfte in einem Mitgliedstaat ganz verboten sind, obwohl die Richtlinie nur die Widerruflichkeit vorsieht. So war in Frankreich der Verkauf von Bildungsmaterialien an der Haustür untersagt.[136]

71

Im Beispiel 4 (Rn. 69) sieht sich S einer österreichischen Gewerberegelung ausgesetzt, die den Vertrieb von Schmuck im Wege von Haustürgeschäften verbietet. Dieses Verbot ging über die damalige Haustür-RL, die lediglich ein Widerrufsrecht für solche Geschäfte vorsah, weit hinaus. Die Regelung macht es inländischen, aber eben auch ausländischen Händlern unmöglich, in Österreich Schmuck an der Haustür zu verkaufen. Daher fragt sich, ob sie gegen die Grundfreiheiten verstößt. Insbesondere könnte die Warenverkehrsfreiheit (Art. 34 AEUV) beeinträchtigt sein. Dazu müssten zunächst Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten durch das Verbot mehr berührt sein als inländische Erzeugnisse. Im Fall A-Punkt konnte der EuGH dies aus dem Sachverhalt nicht entnehmen.[137] Leicht lässt sich der Fall aber entsprechend entwickeln. Wenn beispielsweise in Österreich gar kein Silberschmuck hergestellt wird, während gerade der Haustürverkauf solcher Waren aus den Nachbarländern ganz üblich ist, muss eine Verletzung des Art. 34 AEUV im Sinne einer „Maßnahme gleicher Wirkung“ bejaht werden.

72

Einige Richtlinien enthalten weiterhin eine Mindeststandardklausel (näher schon Rn. 21). Sie sehen also das Festhalten der Mitgliedstaaten an einem höheren Schutzstandard grundsätzlich vor. Fraglich ist aber, was gilt, wenn durch diesen höheren Schutzstandard zugleich die Grundfreiheiten berührt werden. Wenigstens wenn ausländische Unternehmen von einem solchen Verbot verstärkt betroffen sind, muss eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten zunächst bejaht werden.

In der Lehre ist versucht worden, für diesen Konflikt zwischen Mindeststandardgebot und Grundfreiheiten eine grundsätzliche, dogmatische Lösung zu finden. Folgt man diesem Versuch, so scheint der Kern in der grundlegenden Frage zu liegen, in welchem Verhältnis das Subsidiaritätsprinzip (mit dem daraus abgeleiteten Mindeststandardgrundsatz – zu dieser Beziehung schon Rn. 20) zu den Grundfreiheiten steht. Was hat Vorrang: Die Grundfreiheiten oder das in den Mindeststandardklauseln verkörperte Subsidiaritätsprinzip? Die Frage ist umstritten.[138] Im Ergebnis ist sie wahrscheinlich fruchtlos.

Denn die Antwort auf die konkrete Frage nach der Ausschöpfung der Mindeststandardklausel steht ohnehin fest. Es ist sicher, dass die Mitgliedstaaten die Grundfreiheiten auch dann nicht ungerechtfertigt einschränken dürfen, wenn ihnen in einer Maßnahme der Rechtsangleichung ausdrücklich die Befugnis zu strengerem nationalen Recht eingeräumt wird. Das spricht auch der EuGH immer wieder klar aus: Die Mitgliedstaaten müssen bei der Ausschöpfung von Mindeststandardklauseln die Grundfreiheiten wahren.[139]

Europäisches Privatrecht

Подняться наверх