Читать книгу Aus dem Schlaf gerissen - Birgit Vobinger - Страница 2
Kapitel 1
ОглавлениеDie letzten Wochen waren nervenzerreißend gewesen. Heute würde er dem Täter, den er vor Wochen „Das Wiesel“ getauft hatte, näher auf den Pelz rücken. Trotzdem war Peter erstaunlich ausgeglichen. Er war am Ziel. Er hatte den Fall so gut wie gelöst. Genau, wie der Pathologe es aus der Gerichtsmedizin kannte. Alles lag klar vor ihm, nur das letzte Analyseergebnis fehlte noch. Das letzte Teil in diesem grausamen Puzzle, und er würde dem Ungeheuer ein Gesicht geben.
Der warme Herbstabend ließ die Abendsonne durch das Küchenfenster scheinen. Der pensionierte Pathologe holte sich nach seinem reichhaltigen Abendessen eine Flasche Rotwein aus dem Keller und ging auf die überdachte Terrasse, um den lauen Oktoberabend zu genießen. Jeden Augenblick würde Ernst aus dem Labor anrufen und ihm das Ergebnis mitteilen. Er setzte sich in den Rattansessel, legte die Füße hoch und genoss den Ausblick. Der Werlower See grenzte an sein Grundstück. Das Wasser war wie gebügelt. Nur einige Fische brachten, während ihrer Jagd nach Fliegen und Wasserläufern, eine kleine Wellenbewegung zustande. Ein Anblick, der jedes Anglerherz höher schlagen ließ. Peter trank einen Schluck Wein und genoss, wie lange nicht mehr, den Anblick des Sonnenuntergangs über dem See. Am anderen Ufer erstrahlten die Lichter der Kleinstadt Werlow.
Peter fing an zu schwitzen und fühlte, dass sein Kreislauf durcheinander war. Kein Grund für ihn zur Beunruhigung. Nach wochenlangem Stress verlangte jeder Körper eine Zwangspause. Eiskalter Schweiß lief ihm am Körper herunter und sein Bauch krampfte. Auf dem Weg in die Küche musste er sich am Türpfosten festhalten, um nicht die Orientierung zu verlieren. Er bemerkte die Person, die sich im Haus befand nicht. Unbemerkt huschte die dunkle Gestalt, an der Küchentür vorbei, hinaus auf die Veranda, schnappte sich das Mobiltelefon vom Gartentisch und suchte Schutz hinter den Büschen.
Peter kochte sich einen Pfefferminztee. Er wusch sich mit kaltem Wasser durch das Gesicht und ging langsam wieder in Richtung Veranda. Er taumelte und stieß dabei an den Esstisch. Mit lautem Klirren fielen eine Bierflasche und ein Glas auf den Fliesenboden. Endlich erreichte er seinen Sessel, saß da und versuchte seine Gedanken zu sortieren. Wie die Trommelschläge auf einer Galeere hämmerte sein Herzschlag. Das Atmen fiel ihm zunehmend schwerer. Die Luft schien dick wie Glyzerin zu sein. Peter öffnete sein dunkelblaues Oberhemd.
„Verdammt! Was ist denn bloß los? Das Herz? Ich muss Helmut anrufen.“ Ohne einen Blick auf den Tisch zu werfen, tastete er nach seinem Handy. Nichts. Eine Hand schützend vor die schmerzende Brust gelegt, suchte er auf dem Tisch und auf dem Boden nach dem Mobiltelefon. „Wo ist dieses blöde Handy?“
Im Schutz der Dunkelheit lauerte das Wiesel. „Hier ist es. Glaubst du etwa ich lasse es auf dem Tisch?“, dachte es. „Bei dir muss ich vorsichtig sein. Du kannst dir helfen. Den Anderen hätte ich ein Gegenmittel in die Hand geben können, ohne dass die geschnallt hätten, was sie damit machen können. Ja Peter, du bist schon ein ganz besonderer Fall.“
Der überhebliche Gesichtsausdruck des Wiesels änderte sich. Die Augen schienen plötzlich ins Leere zu blicken. Es rieb sich das Kinn. Eroberten Zweifel den Wahnsinnigen?
„Was mache ich nur? Ich mag dich.“
In seinen Gedanken tauchten die Bilder der gemeinsamen Stunden auf. Bisher hatte der Täter keinen privaten Kontakt zu den Opfern. Er kannte sie nur oberflächlich. Heute war er hier um einen guten Bekannten, einen liebenswerten Menschen zu töten.
„ Das kann ich nicht tun. Ich muss ihm helfen, alles erklären. Wenn ich ihm meine Mission erkläre, wird er es verstehen. Nein, wird er nicht. Es wäre zu riskant.“
Geschwächt saß Peter in seinem Gartensessel. Er zwang sich, nachzudenken. Er musste herausfinden, was seinen Körper verrückt spielen ließ. Herzschlag dröhnte immer stärker in seinem Kopf. Schweißtropfen lösten sich von seiner Stirn, liefen über den Nasenrücken, vorbei an den Wangen und sammelten sich zu einem großen Tropfen an seinem Kinn. Er hatte Angst. Er versuchte aufzustehen, um ins Haus zu gehen und Helmut anzurufen. Dumpf nahm er hinter sich ein Knacken wahr. Es sah sich um, konnte aber seinen Garten nur noch schemenhaft erkennen. Er spürte die Bedrohung, die Kälte der Augen, die ihn beobachteten. Wie durch einen milchigen Vorhang sah Peter in die Dämmerung. Irgendetwas stimmte nicht. Durch die Kopfschmerzen und Magenkrämpfe fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Dann erblickte er den Umriss eines Menschen, versteckt zwischen den Büschen. Er kniff die Augen zu einem Sehschlitz zusammen, um seinen Blick zu schärfen. Sollte ihm das Wiesel auf die Schliche gekommen sein und ihn nun, so kurz vor dem Ziel, heimsuchen? Und warum? Peter passte nicht ins Profil der Opfer.
„Wer ist da?“, fragte er ängstlich und tastete auf dem Tisch nach Gegenständen, mit denen er sich zur Wehr setzen könnte. Doch dann erkannte die dunkle Gestalt.
„Gut, das du da bist. Hilf mir“, fragte Peter.
Wortlos betrat der Besucher die Veranda und setzte sich zu Peter.
„Mein Kreislauf“, keuchte Peter, „Mein Herz spielt verrückt. Ich brauche einen Krankenwagen. Ich kann mein Telefon nicht finden. Bitte geh' ins Haus und ruf' den Notarzt.“
„Ich weiß, wie es dir geht. Suchst du dieses Telefon?“
Peter stutzte über diese Bemerkung. Trotz der schlechten körperlichen Situation bemerkte er die ihm entgegengebrachte Feindseligkeit.
Der Gesichtsausdruck des abendlichen Besuchers veränderte sich. Der Täter zog seinen rechten Mundwinkel zu einem überheblichen Grinsen nach oben. Der Blick war hasserfüllt.
„Die Krämpfe sind ganz schön schlimm, was?“
Peter musterte die Person. Erneut reihte er Puzzle für Puzzle aneinander.
„Du bist das Wiesel! Du hast mich vergiftet! Warum ich? Ich gehöre nicht in dein Profil.“
„Es tut mir Leid aber ich konnte kein Risiko eingehen.“
Peters konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.
„WAAARUUM?“
„Es hätte nicht mehr lange gedauert, dann wärst du hinter meinen Auftrag gekommen. Das kann ich nicht zulassen. Musst dich ja in alles einmischen. Vielleicht tröstet es dich, dass mir dein Tod sehr schwer fallen wird. Ich muss meinen Auftrag erfüllen. Ich habe meine Mission. Da darf ich keine Rücksicht nehmen. Nimm es nicht persönlich. Mir fällt dieser Schritt wirklich besonders schwer. Das verstehst du doch, oder? Ach, ist auch egal. Es muss getan werden, was es zu tun gilt.“
Der ungebetene Gast lachte. Die Stimme des Wahnsinns durchdrang die Abendruhe.
Peter zwang sich, nicht weiter zu zuhören. Als guter Diagnostiker würde er das Gift erkennen und wissen, was zu tun sei. Magenkrämpfe, Temperaturanstieg. Langsamer aber hämmernder Herzschlag. Beginn einer Bradykardie? „Du kennst das Zeug, denk nach, dir läuft die Zeit weg. Mein Gott, diese Krämpfe.“ Peter ahnte, womit er vergiftet worden war. Er musste ins Haus und medizinische Kohle einnehmen, um die weitere Resorption zu stoppen. Kraftlos drückte Peter sich aus dem Sessel hoch und versuchte ins Haus zu gelangen. Sein Peiniger packte ihn bei den Schultern und warf ihn zurück zu seinem Sessel. Peter schlug an die Armlehne. Der Rattansessel fiel um und der 57Jährige schlug mit dem Kopf auf den gepflasterten Boden. Als er sich, benommen vom Schmerz zu dem Wiesel umdrehte, lief warm das Blut über sein Gesicht. Der Aufschlag hatte eine Platzwunde an der Stirn hinterlassen.
Sein Herzschlag war auf ca. 40 Schläge pro Minute gesunken. Bradykardie.
Das Telefon läutete.
„Du wirst nicht mehr erfahren wer dich sprechen will. Tja, die Diagnose wird wohl Herzinfarkt lauten, wenn man dich hier findet. Du bist 57, hast in letzter Zeit ganz schön zugelegt. So etwas passiert.“
Das Läuten des Telefons schien sich immer weiter von ihm zu entfernen. Peter kannte das Gift aber erst jetzt wusste er, was diese Menschen im Augenblick ihres Todes fühlten. Er konnte nicht entkommen. Zu viel war bereits in seinem Kreislauf. Ihm blieben nur noch wenige Minuten. Der dunkelhaarige Mann war am Ende und es gab noch so viel, was er gerne getan hätte. Nun, im Angesicht seines Todes, gab es keine Chance mehr all den geliebten Menschen zu sagen, was längst hätte gesagt werden sollen. Vor allem Kerstin. Peter war schuld, dass sie ihn verlassen hatte. Oft verbrachte der Pathologe 16 Stunden im Sektionssaal. Stunden, die dem Paar fehlten. Erst als sie gegangen war, wurde ihm die Größe des Verlustes klar.
Mit dem vorzeitigen Austritt aus dem Berufsleben und dem Kauf des Hauses, versuchte Peter, das Leben zu führen, dass Kerstin sich damals für sie beide gewünscht hatte. Die Hoffnung sie zurückzugewinnen konnte er nicht aufgeben. Oft betrachtete er das Foto von ihr in seiner Brieftasche und träumte davon, wieder mit ihr zusammen zu sein. Auch als Ernst ihm von ihrem neuen Lebensgefährten erzählte, blieb ein kleiner Funke Hoffnung in seinem Herzen zurück. Erst jetzt, wenige Minuten vor seinem Tot erlosch auch dieser.
Das Telefon verstummte. Das Wiesel stellte das Mobilteil wieder auf die Station. Einen Moment lang blickte es, fast betroffen, auf den leblos daliegenden Körper des Pathologen. Dann wandte es sich um und ging, berufen seine Mission zu erfüllen.