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Kapitel 19
ОглавлениеGelangweilt saß Peter vor dem Fernseher und zappte durch die Programme. Welches geringere Übel sollte er wählen. Ob Musikantenstadl, Ratespielchen und Kochsendungen, begeistern, konnte ihn nichts. Das Ertönen der Türglocke bereitete dieser Tristesse ein Ende. Helmut stand mit einer Flasche Wein vor der Tür und fragte ihn, ob er auch etwas Zerstreuung gebrauchen könnte.
„Hallo Kollege. Schön, dass du vorbeikommst. Komm rein.“
„Hallo. Ja, ich dachte, wir machen es uns gemütlich und trinken dieses edle Tröpfchen.“
„Super Idee. Ich werde alt. Ich hatte doch wirklich keine bessere Idee als mich vor die Glotze zu setzen und mich über das Fernsehprogramm zu ärgern.“
„Dann versuche am besten gar nicht erst, dir eine Nebenbeschäftigung als Freizeitberater zu suchen. Hey, hübsches Aquarium. Das hattest du doch letztes Mal noch nicht, oder? Soll ich mal deine Lieblingsfische erraten?“
„Ist nicht schwer, sind ja nur Guppys drin.
„Das Aquarienwasser ist aus dem See. Um genau zu sein, habe ich es in der Nähe des Abwasserrohrs entnommen.“
„Ah, verstehe. Wenn sich nicht mal mehr diese Fische vermehren, stimmt was mit dem Wasser nicht. Hast du von deinem Freund aus Berlin schon ein paar Ergebnisse?“
„Nein, leider noch nicht. Er hat sich nach der Geburtstagsfeier erst einmal zwei Wochen Urlaub genommen. Helmut, du untersuchst doch die halbe Stadt. Sind dir irgendwelche Abnormalitäten aufgefallen?“
„Woran hast du gedacht? Verstärktes Aggressionsverhalten bei älteren Damen?“
„Das kam mir noch nicht in den Sinn, eher Kinder mit Allergien, eine angestiegene Krebsrate oder ähnliches?“
„Nein, spontan nicht. Alles ist durchmischt, wie damals in meiner ersten Praxis. Obwohl - eines war schon komisch. Gestern Abend. Eine schwangere Frau, die ich vor drei Tagen in meiner Praxis untersucht hatte, erlitt eine Fehlgeburt. Bei der Kontrolle war alles nach Lehrbuch. Mutter und Kind waren kerngesund. Kräftige Herztöne, perfekte Blutergebnisse. Sie war schon am Ende des 4. Monats. Ihr Mann sagte, dass sie ganz ruhig schlief, als er vom Bowling nach Hause kam.“
„Wie alt ist die Mutter? Risikopatientin?“
„Das ist es ja. Die ist noch keine dreißig und topfit.“
„Ich habe eine Statistik gelesen, dass 20% aller Schwangerschaften mit einer Fehlgeburt enden. Aber das passiert eigentlich fast immer in den ersten drei Monaten. Bei späteren Aborten liegen Risikopatienten vor, die Mütter sind überdurchschnittlich alt, krank oder hatten diverse Unfälle. Ist das schon häufiger passiert?“
„Tja. Nagel mich nicht auf die Zahl fest. Es kam vor aber wie häufig? Ich habe keine Ahnung.“
„Helmut, wir müssen der Sache nachgehen. Wir sollten deine Karteikarten durchforsten. Wir suchen alle Schwangerschaften raus. Sortieren nach Geburt und Abort. Die Fehlschläge dann nach Schwangerschaftswochen. Dann sortieren wir nach Zeit. Also, vor Inbetriebnahme der Fabrik und danach. Dann haben wir es doch.“
Helmut sah seinen, vor Enthusiasmus übersprühenden Freund mitleidig an. „Werlow hat über 5000 Einwohner und ich bin der einzige Arzt. Hast du Scherzkeks eine Ahnung, wie lange das dauert?“
„Hier wohnen aber nicht 5000 Frauen im gebärfähigen Alter. Ziehen wir die Männer, Kinder und ältere Frauen ab, bleiben höchstens 500 bis 1000 über. Nur Oma Mitschke checke ich auch durch. Die ist mir unheimlich!“
Helmut hob die Flasche Wein hoch. „Eigentlich hatte ich mich auf einen gemütlichen Abend eingestellt.“
Peter nahm ihm die Flasche aus der Hand, warf dem Arzt seine Jacke wieder entgegen. „Die nehmen wir einfach mit. Los, komm schon.“ Peter wollte die Recherche nicht auf die lange Bahn schieben und so fuhren sie gleich in die Praxis. Er liebte es, sich Nächte um die Ohren zu schlagen und Detektiv zu spielen.
„Sind in diesem Schrank alle Karteien oder lagerst du ältere aus?“
„Nein, sind alle drin. Nur die Verstorbenen sind aussortiert. Am besten fange ich bei A und du bei Z an, dann treten wir uns nicht auf die Füße.“
„O.k. Wir sollten die Geburtsdaten 1957 bis 1990 raus suchen. Dann haben wir auch die Frauen, die vor 10 Jahren 40 Jahre alt waren.“
Unermüdlich sortierten und lasen die beiden Ärzte die Karteikarten. Es entstand ein beträchtlicher Stapel Karten über Frauen, bei denen eine Schwangerschaft diagnostiziert wurde. Danach sortierten sie nach dem Jahr der Schwangerschaft. Abtreibungen wurden wieder in den Schrank geräumt. Es zeigte sich, dass entsprechend des Bundesdurchschnitts etwa 35 Frauen pro Jahr schwanger wurden. Danach nahmen sie eine weitere Einteilung vor. Fehlgeburten während der ersten drei Monate, spätere Aborte und Geburten. Die Sonne ging bereits auf, als die beiden Ärzte völlig übermüdet ein überraschendes Ergebnis vor sich liegen hatten.
„Schau dir das an, Helmut. Von 1997 bis 2003 haben wir durchschnittlich sieben Fehlgeburten pro Jahr. Normal, vor allem wenn man sieht, dass sie innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate waren. Aber hier. Vor vier Jahren fand ein Wechsel statt. Die Rate stieg auf etwa 13 an. Und jetzt pass auf. Etwa 6 waren ab dem 4. Monat. Das, mein Freund, ist ganz und gar nicht mehr normal.“ Er hob sein Glas und stieß mit Helmut an. Der Allgemeinmediziner las die Notizen in den Karteikarten durch.
„Das gibt es doch nicht. Ich habe in jedem Fall einen normalen Verlauf festgestellt. Keine Risikopatientin. Was geht hier vor?“
„Keine Ahnung. Nur, vor fünf Jahren war die Fabrik auch schon da. Irgendetwas hat sich in den letzten fünf Jahren geändert. Wir müssen herauskriegen, was passiert ist.“
„Ich achte auch drauf, ob sonst etwas auffällig ist. Was du schon sagtest, Allergien oder so.“
Die beiden beschlossen, dass sie für diese Nacht genug geleistet hatten. Es war immerhin schon nach vier Uhr und viel Schlaf blieb ihnen nicht.