Читать книгу Aus dem Schlaf gerissen - Birgit Vobinger - Страница 4
Kapitel 3
ОглавлениеDie Ladenglocke meldete den ersten Kunden am Morgen an. Die kleine 79jährige Witwe, mit blau/grauen Haaren, betrat das Geschäft und schüttelte ihren Regenschirm heftig aus. Die Wassertropfen spritzten zu allen Seiten und sammelten sich zu einer Pfütze auf dem Fliesenboden.
„Guten Morgen Sonja, Kindchen. Ist ja wieder ein Wetter zum Mäusemelken.“
„Morgen Frau Mitschke. Ja, furchtbar. Ich habe meinen Wecker heute gehasst wie 'nen Besuch beim Zahnarzt. Man hat im Haus gehört, wie schlimm es regnet", erwiderte die hübsche 35jährige.
Sonja ging zu den Backwaren. Frau Mitschke kam jeden Morgen um 8.00 Uhr, kaufte zwei Körnerbrötchen. Der kleine Tratsch mit der Ladenbesitzerin gehörte für die Witwe zum Frühstück wie eine Tageszeitung.
„Wussten Sie, dass das kleine Haus am See wieder bewohnt ist?“, erzählte Sonja.
„Nein, sagen Sie bloß. Wer wohnt denn da? Eine nette junge Familie vielleicht? Mit kleinen Kindern muss man am Wasser aber gut aufpassen.“
„Nein, ein Doktor Döring. Er ist bestimmt alleinstehend. Jedenfalls hat er nur für eine Person eingekauft.“
Wieder ertönte die Ladenglocke. Die beiden Damen blickten erstaunt zur Tür. Normalerweise kam niemand um diese Uhrzeit herein. Der zweite Kunde, Dr. Peschke kam täglich um 8:30 Uhr, um sein Frühstück einzukaufen. Peter grüßte freundlich und lies sich vom Duft frischer Brötchen leiten.
„Das ist er", tuschelte Sonja.
„Oh, Herr Doktor“, die alte Dame streckte ihm ihre knochige Hand zum Gruß entgegen, „Herzlich willkommen in unserer kleinen Gemeinde.“
„Guten Morgen, und vielen Dank, Frau ...“
„Mitschke Herr Doktor. Werden Sie hier eine Praxis eröffnen?“
„Nein, nein, ich habe mich zur Ruhe gesetzt. Außerdem bin ich Gerichtsmediziner.“
Die alte Dame zog ihre Augenbrauen hoch. Ein durchdringender Blick traf Peter. Sie kniff die Augen zusammen.
„Wollen Sie sagen Sie schneiden Leichen auf“, erwiderte sie. Von ihrer sanften Stimme war nichts übrig geblieben.
„Ja, ich bin Pathologe.“
Sie riss ihre trüben Augen entsetzt auf, holte tief Luft und kündigte damit das folgende Redegewitter an.
„Der Herrgott gibt uns unser Leben, und wenn er es für richtig hält, nimmt er es uns wieder aber nicht, damit Leute wie Sie im Körper herumschnippeln, wie in einem toten Fisch“, zischte die Witwe.
„Frau Mitschke, manchmal werden Menschen gewaltsam umgebracht. Die Täter müssen betraft werden. Ich weiß, wie schwer es für die Angehörigen ist, wenn ihre Lieben obduziert werden müssen. Aber ich weiß auch, dass sie, wenn die Täter bestraft werden, mit ihrer Trauer besser umgehen können.“
„Blödsinn, vor Gottes Gericht werden die Mörder stehen. In der Bibel steht - Mein ist die Rache sprach der Herr. Da steht nichts davon, wie -Sucht euch doch 'nen Pathologen und klärt das unter euch.“
Wutentbrannt riss sie die Tür auf und stieß mit Dr. Peschke zusammen, der gerade das Geschäft betreten wollte.
Erstaunt blickte der schwarzhaarige Mann ihr nach. „Was hat Frau Mitschke denn?“, fragte der Allgemeinmediziner.
Der schlanke, 1,70m große Mediziner ging kopfschüttelnd auf Peter und Sonja zu. Trotz seiner 65 Jahre hatte er so gut wie keine grauen Haare. Es war mit den Jahren nur etwas dünner geworden.
„Ach, die Mitschke und ihr Autopsieproblem“, entgegnete Sonja.
„Ja, sie dachte ich sei ein ehrwürdiger Arzt. Aber ich musste sie enttäuschen. Ich bin Gerichtsmediziner. Guten morgen erst einmal. Döring, ich bin Einwohner Nummer 5461.“ Peter konnte das gerade Erlebte noch nicht ganz fassen.
„Dr. Peschke ich habe hier eine Praxis ein paar Häuser weiter.“
„Ich bin anscheinend aus Berlin hergezogen, um mir mit meinen 57 Jahren von einer älteren Dame den Hosenboden strammziehen zu lassen.“
Die drei lachten. Sonja wandte sich wieder ihrer Arbeit zu und sortierte die Brote in die Holzregale.
„Aber mal was anderes. Gibt es hier ein gutes Restaurant, das Sie mir empfehlen würden?“, wollte Peter wissen.
„Restaurant ist übertrieben. Ich gehe immer zu Jürgen. Zum grünen Jäger heißt sein Gasthof. Kein 5 Sterne Koch aber gemütlich. Wir könnten doch heute Abend zusammen dahin gehen. Haben Sie Zeit und Lust?“
„Ja, gerne.“
„Treffen wir uns doch um 20:00 Uhr. Es ist am Werlower Weg. Einfach Richtung Fabrik fahren.“
„Prima, ich freu mich schon. Bis dann.“
Peter fuhr sichtlich gut gelaunt nach Hause, kochte sich einen starken Kaffee und musste über die alte Dame schmunzeln.
*
Es war 10 Minuten vor eins. Sonja schloss heute ihren Laden etwas früher. Sie hatte einen Termin bei Dr. Peschke. Sie ging die Straße herunter und klingelte an der Tür der Arztpraxis. Britta, die Arzthelferin, öffnete ihr.
„Hallo Sonja, alles klar bei dir?“
Die ehemaligen Klassenkameradinnen waren nie befreundet, kamen aber immer gut miteinander aus.
„Naja, ist halt so alles beim Alten. Kennst du schon Dr. Döring? Ich find' ihn ganz nett. Und er sieht gut aus.“
„Der Chef hat was erwähnt. Komm, du kannst schon rein.“ Die Arzthelferin nahm die Karteikarte und brachte Sonja ins Sprechzimmer.
Sie ging ins Sprechzimmer. Helmut Peschke strahlte eine väterliche Art aus. Seine Patienten kamen manchmal zu dem Allgemeinmediziner, nur um sich auszusprechen.
„Sonja, wie geht es ihnen. Ich hatte eigentlich vor", der Arzt blätterte in seinem Kalender, „drei Wochen schon mit ihrem Besuch gerechnet. Die Tabletten müssten doch schon leer sein.“
„Nö, ich hab' noch welche“, Sonja wurde etwas verlegen. Ihr war bewusst, dass der Arzt genau merkte, wenn sie die Psychopharmaka nicht regelmäßig nahm. Sie stellte sich schon innerlich auf eine Standpauke ein.
„Sonja, wir kennen uns jetzt, seit Sie 15 Jahre alt waren. Sie waren früher quirlig wie ein Laubfrosch. Wir wollen doch beide, dass das wieder so wird, oder? Dazu müssen Sie ihre Pillen nehmen. Arbeiten Sie an ihrem Problem. Besuchen Sie wenigstens noch die Therapiegruppe?“
„Ich, ... ich“, Tränen rannen über ihr Gesicht, „Das bringt doch alles nichts. Ich habe gehört, dass Rainer schon zum zweiten Mal Vater geworden ist. Es hat alles nur an mir gelegen.“ Sonja war völlig aufgelöst.
Beruhigend redete der Arzt auf seine Patientin ein. Riet ihr die Vergangenheit abzuhaken, vorauszuschauen. Peschke wusste, dass sie schwere Zeiten hinter sich hatte, zeigte ihr aber auf, dass es auch nach vielen Enttäuschungen wieder bergauf gehen wird, dass das Leben noch reichlich Schönes zu bieten hat. Der Mediziner machte der jungen Frau bewusst, wie wichtig sie und ihr Laden für die Gemeinde seien.
„Sonja, überlegen Sie, wenn Sie nicht wären, wo hätte sich dann Frau Mitschke heute so aufregen können?“ Sonja fing an zu lachen.
„Genau, lernen Sie wieder zu Lachen und gehen Sie mal wieder unter die Leute. Die Zukunft hält noch viel für Sie bereit, warten Sie es ab.“
Der Arzt stand auf und ging zu Sonja. Er verstand ihre Situation. Sie war mit Rainer verheiratet gewesen. Als sich der Kinderwunsch nicht erfüllte, hatte er sie behandelt. Ohne Erfolg. Das Paar hatte es in Schwerin mit künstlicher Befruchtung versucht. Zweimal wurde sie schwanger aber innerhalb der ersten Wochen bekam Sonja eine Fehlgeburt. Die Belastung war für das Paar zu groß. Sie trennten sich. Als Rainer wieder heiratete und dann auch noch Vater wurde brach Sonja zusammen. Seitdem ist sie in Behandlung, nimmt Psychopharmaka und sollte eigentlich an einer Gruppentherapie in Neubrandenburg teilnehmen. Es war eine knappe Autostunde entfernt aber in Werlow gab es kein passendes Angebot.
Peschke legte ihr die Hand auf die Schulter. „Kopf hoch Mädel.“ Sie verließ die Sprechstunde.
*
Peter machte sich auf den Weg zum grünen Jäger. Eine urige kleine Dorfkneipe. Nach Ende der 60er Jahre hatte kein neues Möbelstück hier einen Platz gefunden. Auf den Tischen standen Vasen mit künstlichen Nelken. Der Wirt, ein langer dürrer Mann, mit einem für sein Alter viel zu faltigen Gesicht. Seine blauen, stechenden Augen blickten zu dem neuen Gast.
Peter sah sich um aber Peschke war noch nicht da. Nachdem er an einem Tisch, nahe der Tür Platz genommen hatte, bestellte der Pathologe sich ein Glas Bier und die Speisekarte.
Der Wirt lächelte, als auch schon die Tür aufging und Peters Verabredung hereinkam.
Peschke bestellte sich ein Bier und setzte sich zu Döring an den Tisch.
„Schön, dass Sie es geschafft haben. Haben Sie den Gasthof gleich gefunden?“, fragte Peschke.
„Ja, war kein Problem. Aber von mir aus können wir Du sagen. Ich bin Peter.“
„Gerne. Helmut.“ Sie prosteten sich zu und genossen den Gerstensaft.
„Man, was war das denn heute Morgen? Ist die alte Dame immer so scharfzüngig?“ Peter schüttelte nur mit dem Kopf.
„Tja, ein Sonnenschein war sie nie aber, als man ihr mitteilte, dass ihr Ehemann zur Gerichtsmedizin gebracht würde, drehte sie fast durch.“
„Wieso, wurde ihr Mann obduziert? Wie ist er gestorben?“ Sofort kam der routinierte Pathologe zum Vorschein.
„Der Mann war kerngesund. Mal abgesehen von seinem Frauen Geschmack.“ Helmut grinste. „Er hat regelmäßig Sport getrieben, nicht geraucht und nur in Maßen getrunken. Kurz um, kein Patient, der mir zu Reichtum verhalf. Eines Tages ist er die Treppe heruntergefallen, Genick gebrochen. Bei der Autopsie stellte man als Todesursache ein gerissenes Aneurysma fest.“
„Klar bei so einem Unfall geht’s ab zur Sektion. Jetzt hat sie auch noch einen Pathologen in ihrer Nähe. Natürlich projiziert sie ihre Wut gegen mich.“
Jürgen brachte die Getränke und die beiden bestellten sich Bratwurst mit Pommes. Peschke machte Peter und Jürgen Granz miteinander bekannt.
„Freud mich, immer schön, wenn neue Leute herziehen. Hört sich an als hätten Sie die alte Mitschke schon kennengelernt.“ Jürgen kannte die Frau zu genüge. Sie hatte ihm oft an den Kopf geworfen, rechtschaffene Bürger mit Alkohol zu verderben. Dabei hatte Jürgen selbst in seinem ganzen Leben keinen Tropfen Alkohol getrunken. Als Willkommensgeste spendierte er die nächste Runde und brachte zwei Malteser und für sich ein Glas Wasser zu den Ärzten.
Langsam füllte sich die Gaststätte. Eine Stammtischrunde kam und nahm lautstark ihre Plätze ein. Ein verliebtes Pärchen zog sich an einen abseits liegenden Tisch zurück und an der Theke saßen drei Fernfahrer. Aus den Lautsprechern dröhnte Dein ist mein ganzes Herz von Wolfgang Petri. Die Atmosphäre einer ländlichen Dorfkneipe war perfekt.
Helmut erzählte von Jürgens schwerer Kindheit. Sein Vater, von dem er die Gaststätte geerbt hatte, war selbst sein bester Kunde. Wenn er betrunken war, hat er Frau und Kind verprügelt. Jürgen hat als kleiner Junge seiner Mutter versprochen, nie Alkohol zu trinken. Aber die Einnahmen des Betriebes sicherten ihren Lebensunterhalt. Im Laufe der Jahre intensivierte sich die Bindung zwischen Mutter und Sohn, die noch heute zusammen im Anbau der Wirtschaft leben. Die schwer an Arthrose erkrankte Frau saß seit langer Zeit bereits im Rollstuhl.
„Sag mal Peter, warum so ein Wechsel? Heute noch Großstadt und 12 Stunden Job. Morgen schon Rente und Kleinstadt.“
„Mein Privatleben ist auf der Strecke geblieben. Plötzlich war der Bekanntenkreis weg. Nur Leichen, Organentnahme, Analysen, Gutachten. Ich hatte das Gefühl etwas zu verpassen. Ich wollte mein Leben genießen, solange ich mich noch bewegen kann. Man wird ja nicht jünger. Prost.“
Er hob sein Glas hoch und prostete Helmut zu.
„Was ist mit dir? Hast du immer schon hier gelebt, Familie und so?“
„Nein, ich habe die Praxis vor zwanzig Jahren übernommen. Als meine Frau starb, brauchte ich einen Tapetenwechsel.“
Helmut blickte betroffen. Peter sah, dass es für ihn schwer war, über seine Frau zu reden und wechselte das Thema. Im Laufe des Abends wurde noch viel gelacht. Gegen 23:30 Uhr fuhren sie nach Hause. Ihnen war klar, dass sie noch häufiger gemeinsam etwas unternehmen würden.