Читать книгу Die sieben Siegel der Dakyr - Band 3 - Attravals Grab - Christian Linberg - Страница 5
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Ich zögerte einen Augenblick, bevor ich antwortete. Eine falsche Antwort könnte mich den Kopf kosten.
„Wisst ihr, dass ihr das falsche Grab bewacht?“, fragte ich den Befehlshaber.
„Was?“, erwiderte er verwirrt.
Das war eindeutig nicht das, was er erwartet hatte.
„Das Grab von Attraval. Das kleine Haus da hinter mir. Ihr verteidigt es, als wäre es wichtig, aber es ist nicht das richtige Grab, es…“
„Still!“, befahl der Kommandant energisch.
Doch der Schaden war bereits angerichtet. Die Soldaten, die uns bewachten, blickten unsicher von ihrem Befehlshaber zu mir und zurück. Ich hörte überraschte und verärgerte Bemerkungen, denen ich aber keine Gesichter zuordnen konnte.
Wenn es etwas gab, auf das man sich bei Soldaten verlassen konnte, dann dass sie ihre Leben nicht gerne sinnlos opferten.
Das war dem kommandierenden Offizier anscheinend ebenfalls klar, denn er blickte sich nur kurz um, dann erteilte er sofort Befehle.
Für jeden von uns blieben zwei Männer zur Bewachung zurück, die übrigen begaben sich wieder auf ihre Posten. Drei weitere Offiziere hatten sich hinzugesellt.
„Also ist euch bewusst, dass dies nicht das richtige Grab von Attraval ist“, kommentierte ich das Verhalten der Männer: „Dann wisst ihr vermutlich auch, dass sich das wahre Grab ungefähr zwei Bogenschussweiten weiter nordöstlich befindet. Also genau mitten innerhalb der Armee von Morak.“
Kaum hatte ich meinen Satz beendet, gab es ein donnerndes Krachen und genau in der Richtung, in der ich das Grab vermutete, schoss plötzlich eine Rauchsäule empor, in der kleine glühende Punkte im Wind tanzten. Es gab knackende, berstende und donnernde Geräusche, Bäume stürzten um, Menschen schrien vor Pein und Qual auf, dann rauschte ein gewaltiger Schatten blitzartig über die Stelle hinweg und schraubte sich steil nach oben in den Himmel. Das konnte nur Hordennarsalhakg sein. Er kreiste ein paar Mal um die Rauchsäule, dann verschwand er durch die Wolken.
Niemand sagte ein Wort.
„Wir können wohl davon ausgehen, dass jetzt auch die Armee aus Morak weiß, dass uns klar ist, worauf sie es abgesehen haben“, unterbrach Jiang schließlich die Stille.
Trotz der Fesseln hatte sie eine aufrechte Haltung und ihren schneidenden Tonfall. Sie sah mich direkt an: „Also, was hast Du jetzt wieder gemacht?“
Wieso hielten mich immer alle für schuldig, wenn etwas passierte, das niemand erwartet hatte?
Ich setzte meine unschuldigste Mine auf: „Ich weiß gar nicht was Du von mir willst. Ich habe das Biest heute zum ersten Mal getroffen. Glaubst Du wirklich, ich könnte irgendwas tun, um ihn dazu zu bewegen, das zu tun?“ Dabei deutete ich mit meinem Kinn auf die Rauchsäule.
„Ist das eine Fangfrage?“, mischte sich Anaya ein: „Natürlich glauben wir das“
„Hey! Hier stelle ich die Fragen!“, mischte sich der sehr wütende Kommandant ein.
„Letzte Chance. Entweder ihr erklärt mir sofort, worum es hier geht, und was ihr hier macht, oder ich lasse euch auf der Stelle töten. Für Gefangene habe ich keine Verwendung, und für Spione noch weniger.“
Bevor ich die Gelegenheit hatte, etwas zu sagen, fing Droin mit tiefer, ruhiger Stimme an zu erzählen. Er ließ eine Reihe Dinge aus, aber trotzdem berichtete er sehr ausführlich von unseren Erlebnissen.
Wie wir vor der Armee aus Morak bis nach Kalteon geflohen waren, nur um dann festzustellen, dass diese das gleiche Ziel hatte, wie wir. Droin stellte es so hin, als wären wir aus Versehen über eine Patrouille von Soldaten aus Morak gestolpert, statt Phyria vor ihnen zu retten, wie es wirklich gewesen war. Mit Mühe hatten wir das Südtor von Kalteon erreicht und den dortigen Kommandanten davon überzeugt, dass ein Angriff unmittelbar bevorstand. Nur durch das umsichtige Verhalten von Kommandant Ord Teranok war es gelungen, die Tore rechtzeitig zu schließen. Genutzt hatte das leider wenig, denn die Armee Moraks hatte zwei Felswürmer mitgebracht, die sich in Windeseile durch die Steinwände der Torfestung gegraben hatten.
Die Toranlage war vor Jahrhunderten von den Naurim erbaut worden, und lag vollständig im Berg. Ein Tunnel verband das äußere Tor mit einem zweiten Inneren, von dem man in das eigentliche Kalteon vordringen konnte. Da Droin solche Anlagen kannte, war es ihm möglich gewesen, nicht nur einen geheimen Weg zu finden, sondern auch den gesamten Tunnel zum Einsturz zu bringen.
Wir waren gerade so dem sicheren Tod entkommen. Anschließend waren wir zusammen mit den überlebenden Soldaten aus Kommandant Teranoks Kommando in Richtung auf die östliche Wachfestung geflohen. Unterwegs hatten wir eine große Zahl Flüchtlinge und Soldaten aufgesammelt, die uns berichteten, dass die beiden anderen Tore im Norden und Nordosten vom Feind überrannt worden waren.
Wieder lieferten wir uns ein Wettrennen mit der Armee Moraks während dem wir gleichzeitig an verschiedenen Stellen in Kämpfe mit der Vorhut geraten waren.
Nur knapp war es uns gelungen, die Flüchtlinge sicher in die Festung zu bringen. Droin war dortgeblieben, um Steinwächter Solon, dem Kommandanten der Festung seine Kenntnisse in Kriegsführung gegen Bezahlung zur Verfügung zu stellen. Er war der Einzige in unserer Gemeinschaft, der darin Erfahrung hatte. Mit seinen mehr als dreihundert Wintern hatte er bereits zwei Kriege erlebt.
Der Rest von uns war weitergezogen und hatte nach einigen kleineren Unannehmlichkeiten Kaltarra erreicht, die Hauptstadt des Landes.
In Erwartung einiger ruhiger Tage der Erholung waren wir dort stattdessen sogleich in neue Schwierigkeiten verwickelt worden.
Tödliche Bogenschützen, die wie Geister auftauchten und wieder verschwanden, terrorisierten die Stadt und ihre Bewohner. Gleichzeitig verschwanden immer wieder Bürger, nur um einige Tage später als tote, knochenlose Hüllen wieder aufgefunden zu werden.
Die Armee Kalteons war überfordert und größtenteils bereits abwesend, um den Feind zu stellen, der nicht nur aus Osten, sondern auch aus dem Westen und dem Norden über das Land hereingebrochen war. Wie im Osten, hielten auch die Festungen im Westen den Angriffen stand. Aber hier im Norden war das Gelände offener und so war der König mit seiner gesamten Streitmacht hierher ausgerückt. Auf den Ebenen vor Arinna hatte er den Vormarsch von Morak zum Stehen gebracht. Jedenfalls für eine Zeit.
Unterdessen hatten wir in Kaltarra Bekanntschaft mit der Königin gemacht, Phyria aus ihrem langen Koma geweckt und herausgefunden, dass die Knochenjäger, wie die Bevölkerung die unheimlichen Bogenschützen nannte, in Wahrheit direkt aus ihrer Mitte stammten. Denn die Frau, die sich uns als Königin vorgestellt hatte, war tatsächlich eine Vulshara gewesen, eine gestaltwandelnde Dämonin, die mit Morak verbündet war. Wir hatten sie mit äußerster Mühe in den Katakomben unter der Festung von Kaltarra besiegt. Für diesen Sieg und die Vernichtung der Knochenjäger hatte und Enid, die Cousine der wahren Königin fürstlich belohnt und uns gleichzeitig den Auftrag gegeben, hier im Norden Attravals Kompass zu bergen, der der einzige Grund dafür war, dass Morak den Krieg gegen Kalteon überhaupt begonnen hatte.
Was genau sich dahinter verbarg, wusste niemand so genau. Alte Legenden der Naurim deuteten an, dass man mit dem Kompass alles und jeden finden konnte, egal wo sich das Objekt oder die Person verbarg.
Droin überspielte in seinem Bericht geschickt die Tatsache, dass wir sehr wohl wussten, was die Armee Moraks damit anfangen wollte. Sie versuchten die Ritualorte zu finden, an denen der Kelch von La’har mit neuer Kraft versorgt werden musste, um eine schreckliche Dämonenhorde weiter gefangen zu halten. Phyrias Orden hatte diese Aufgabe seit Jahrtausenden ausgeführt, doch in diesem Jahr hatte eine Streitmacht aus Morak die versteckte Abtei überfallen und fast alle Mitglieder getötet. Nur Phyria und wenige andere waren dabei entkommen. Seither wurde sie von den Soldaten Moraks verfolgt. Am Rand des großen Schattenwalds war sie schließlich eingeholt worden. Ohne mein zufälliges Erscheinen und Eingreifen, hätte sie nicht überlebt.
So aber wussten wir durch Phyria jetzt, worum es ging und hatten die Aufgabe übernommen, Attravals Kompass entweder zu bergen und aus Kalteon heraus zu schaffen, oder ihn vor Ort zu vernichten.
Ich war mir nicht ganz sicher, ob uns das überhaupt gelingen konnte, aber Phyria hatte uns so eindringlich vor den Folgen gewarnt, sollte ihre Mission scheitern, dass ich bereit war alles zu versuchen, was in meiner Macht stand. Ich grübelte darüber nach, wie der Kompass wohl aussehen mochte, und was notwendig sein würde, um ihn zu bergen oder zu zerstören, dass ich Droins Ausführungen nicht weiter zuhörte.
„…durch Hordennarsalhakg waren wir in der Lage innerhalb weniger Kerzenlängen hierher zu gelangen. Wir können nur hoffen, dass wir nicht zu spät kommen“, schloss er gerade die Erzählung.
Die Gesichter der Offiziere hatten anfänglich noch offenes Misstrauen gezeigt, das im Laufe der Erzählung allmählich über schlichten Unglauben in nachdenkliche Mienen verwandelt.
Sie wichen ein paar Schritte zur Seite und fingen an sich leise zu beraten. Dabei wurden sie immer wieder von Meldern unterbrochen, die Nachrichten brachten oder auf Befehle warteten.
Schließlich wandte sich der Kommandant in unsere Richtung: „Wirklich eine tolle Geschichte. Hat es lange gedauert, sich das Ganze auszudenken?“, fragte er in sarkastischem Tonfall.
„Nein, eigentlich war es ganz einfach“, gab ich in der gleichen Tonlage zurück: „Und das nächste Mal, wenn ich von einem drohenden Krieg gegen Kalteon erfahre, werde ich einfach ein Bier bestellen und die Ereignisse genießen“, fügte ich ätzend hinzu.
„Soll das heißen, ihr wünscht unserem Land Schlechtes?“, fragte der Offizier drohend.
Als ich den Mund öffnete, um ihn mit einer weiteren, herzlichen Bemerkung zu beglücken, fuhr Jiang dazwischen: „Natürlich nicht. Aber eure Manieren im Umgang mit euren Freunden und Verbündeten sind mangelhaft. Ihr seid ein unverschämter Rüpel und solltet uns dankbar sein, aber scheinbar gilt Gastfreundschaft in eurem Land nichts. Wir werden gehen. Phyria, Anaya, die Fesseln.“
Der Offizier öffnete ein paar Mal den Mund, ohne dass er einen Ton herausbrachte.
Phyria schüttelte sich unterdessen, dann nahm ich den Geruch von verbrannter Wolle war. Innerhalb weniger Augenblicke hatte sie sich von ihren Fesseln befreit. Verbrannte Reste der Seile fielen um sie herum zu Boden. Ihre Hände glühten und Flammen züngelten über ihre Fingerspitzen.
Anaya tat irgendetwas mit den Seilen und in Windeseile wuchsen kleine Blätter daraus, es bildeten sich Knospen und schließlich Blüten. Dann vertrockneten sie und fielen als tote Pflanzenfasern zu Boden.
„Haltet sie auf!“, brachte einer der Offiziere hervor.
Doch bevor einer der Soldaten reagierte, hatte Jiang irgendwie die Knoten gelöst und aus ihrem Gewand zwei gut verborgene Pinsel gezogen, deren Haare in grünlichem Ton vor arkaner Macht leuchteten. Mit einem deutete sie anklagend auf den völlig verblüfften Kommandanten, mit dem anderen auf Droins Fesseln. Die Seile wanden sich wie lebendige Wesen und wickelten sich von alleine auf.
Ich hatte den Trick schon einige Male gesehen, aber wie sie zuerst an die Pinsel gekommen war, konnte ich mir nicht erklären. Die Fesseln waren nicht die besten, aber zu sicher, um sich in so kurzer Zeit unbemerkt daraus zu befreien.
Die Soldaten drangen auf uns ein, beschränkten sich aber darauf, mit ihren Speeren nach uns zu stechen. Gefesselt hatte ich einige Mühe, den Stichen auszuweichen. Auch ein unerfahrener Soldat würde wenig Mühe mit mir haben, also hüpfte ich vorsichtig rückwärts auf die anderen zu.
Zum Glück zögerten sie, ihre Waffen ernsthaft zu benutzen, da sie soeben Zeugen davon geworden waren, wie wir uns von den Fesseln befreit hatten. Zumindest…
„Hey, könnte mich mal jemand losbinden?“, schimpfte ich, während ich rückwärts stolperte und schmerzhaft auf dem Hintern landete.
„Ach, ich finde, Dir stehen die Seile“, bemerkte Anaya trocken. Dabei bewegte sie ihre Hände sanft hin und her, als würde sie ein Baby schaukeln. Erst konnte ich nicht sehen, warum sie das tat, aber dann fielen mir die kleinen Dornenranken auf, die sich soeben aus dem matschigen Schnee räkelten, wie die Schlange bei einem Schlangenbeschwörer.
Droin marschierte zu einem der Soldaten, die wie hypnotisiert auf die Ranken starrten, und riss ihm den Speer aus den Händen, mit dem er uns bedroht hatte.
Phyria hob einfach nur ihre Hände und lies die Flammen darin tanzen.
Das Ganze hatte so sehr etwas von einem Zirkus an sich, so dass ich anfangen musste, zu lachen.
„Ich kann hier nichts Komisches finden“, schalt mich Jiang: „Wir haben zu tun. Hör auf faul herum zu liegen und steh wieder auf. Du kannst Dich ja wohl selbst von den Fesseln befreien.“
Konnte ich vermutlich, aber das würde ich nur dann tun, wenn ich darauf angewiesen war. Ich hatte den Eindruck, dämonische Kräfte zu benutzen, würde mir hier nicht unbedingt Sympathien einbringen. Also zwang ich mich, darauf zu vertrauen, dass Jiang die Situation unter Kontrolle bringen konnte. Mit ihrem autoritären Tonfall gelang es ihr oft, gefährliche Momente zu entschärfen. Auch ich ertappte mich nach der langen Zeit noch immer dabei, ihr erst einmal zuzuhören.
Auch hier hatte ihre Art zunächst den gewünschten Erfolg.
„Kommandant. Ihr seht, wir hätten euch töten können, wenn wir gewollt hätten. Wir sind mit einem Drachen angekommen. Meint ihr nicht, wenn es in unserer Absicht gelegen hätte, hätten wir Hordennarsalhakg darum bitten können, all eure Leute zu Asche zu verbrennen, wie er es gerade mit einem Teil der angreifenden Armee getan hat?“
Dabei sah sie zunächst noch den Offizier an, bevor sie sich bei den letzten Worten direkt an mich wandte.
Ich hatte den Eindruck, sie vermutete, dass ich etwas damit zu tun hatte, womit sie ja auch richtiglag, allerdings würde ich das nicht zugeben. Der Handel mit dem Drachen war nicht unbedingt klug, aber praktisch. Ich vermutete, dass unser Weg zu Attravals Grab einigermaßen frei sein würde, zumindest wenn wir schnell waren. Ich bezweifelte jedoch, dass wir hier so bald aufbrechen konnten. Bislang hatten nur unsere Wachen und die Offiziere bemerkt, dass wir unsere Fesseln abgestreift hatten. Doch ich vermutete, dass das nicht lange so bleiben würde. Die Soldaten um uns herum hatten ihre Aufmerksamkeit den Angreifern zugewandt, doch wenn sich auch nur einer umdrehen würde, wären wir im Handumdrehen wieder vollständig umzingelt.
Während ich mich umsah, fiel mein Blick auf eine der Wachen, die mich kritisch betrachtete. Sie hielt ihren Kopf schräg, so als überlege sie, ob sie mich zuvor bereits irgendwo gesehen hatte.
„Ja?“, fragte ich sie direkt.
Sie reagierte überrascht und zögerte einen Moment: „Wart ihr jemals im Gasthaus „Zum steinernen Baum“ und habt dort einen Soldaten namens Nordin getroffen?“
Ich musste einen Moment überlegen: „Ja, das ist aber schon ein paar Tage her, auf dem Weg von der Zollfeste nach Kaltarra, haben wir dort eine Nacht verbracht. Mehr nicht. Warum?“
„Speerträgerin Amia! Hier wird nicht mit den Gefangenen geredet! Worum geht es hier?“
Die Soldatin nahm Haltung an: „Major Atross, in der dritten Lanze haben einige Männer erzählt, vor einigen Tagen sei ein wahrer Riese von einem Mann in dem Gasthof aufgetaucht und hätte beinahe die gleiche Geschichte erzählt. Mit ein paar Details über Zollinspektor Oribas, die der Naurim ausgelassen hat.“
„Das ist eine private Angelegenheit zwischen mir und Oribas und hat nichts mit dem Krieg zu tun“, unterbrach ich sie, damit sie nicht erzählen konnte, wie sich Jiang dem fetten Schwein hingegeben hatte, nur weil der in ihren Augen einen höheren Rang einnahm.
In ihrem Herkunftsland war es so üblich, dass ranghöhere Beamte von ihren Untergebenen alles verlangen durften, und dies dem auch nachkamen, weil sie es als ihre Pflicht ansahen. Oribas hatte das anscheinend gewusst und ausgenutzt.
Aber das waren Dinge, über die ich bestimmt nicht vor einem solchen Publikum reden würde.
Die Soldatin nickte nur: „Kommandant, seine Reaktion bestätigt, was ich gehört habe.“
„Bericht!“, bellte der Offizier unbeeindruckt.
Sie zögerte, als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkte. Dann blickte sie vorsichtig zu Jiang, deren Wangen eine rötliche Färbung angenommen hatten.
„Nun ja, es ist eine etwas delikate Angelegenheit. Oribas und die Mystikerin aus Shâo…“
Sie wand sich sichtlich unter den auffordernden Gesten ihres Vorgesetzten.
„Was? Komm zur Sache Mädchen!“, schnaubte einer der anderen Offiziere.
„Oribas hat die Bräuche der Shâi ausgenutzt und sie damit gezwungen, ihm sexuelle Gefälligkeiten zu erweisen“, mischte sich Anaya ein: „So, habt ihr sie jetzt genug gedemütigt? Es gibt wichtigere Dinge zu tun. Zum Beispiel Attravals Kompass vor der Armee von Morak zu schützen.“
Der Major sah wie ich und alle anderen zu Jiang hinüber, deren Gesichtszüge zu einer Maske ohne Regung erstarrt waren.
So recht schien er nicht zu wissen, was er sagen sollte.
„Es tut mir leid, dass ein einfacher Zollinspektor Euch zu einer solchen Handlung genötigt hat“, begann er schließlich: „Trotzdem! Das beweist nicht, dass eure Geschichte der Wahrheit entspricht. Aber ich kann nicht leugnen, dass der Drache uns hätte töten können. Und Ihr“, damit wandte er sich an mich: „besitzt einen Ring der Ritter von Kaltarra und mehrere Schreiben, die eure Angaben bestätigen. Mir gefällt euer Auftritt nicht, denn ihr kommt zu einer schlechten Zeit und der Drache hat außerdem drei meiner Männer getötet. Auch wenn das ein Unfall gewesen sein mag, sind sie doch tot. Ihr wollt Freunde von Kalteon sein, und seid doch für die Tode verantwortlich.“
„Meint Ihr, wir hätten Hordennarsalhakg davon abhalten können? Wir sind nicht mehr als Insekten für ihn. Nur ein alter Pakt zwischen Kalteon und dem Drachen hat ihn davon abgehalten, uns zu seiner nächsten Mahlzeit zu machen“, entgegnete Anaya hart: „Währen Eure Leute schneller gerannt, wären sie nicht gestorben. Das ist der Weg der Natur.“
Der Major starrte sie wütend an: „Nur weil ihr eine Aliana seid, heißt das nicht, dass ihr das Leben meiner Soldaten geringschätzen dürft!“
Anaya hatte nicht nur das Blut von Waldgeistern in ihren Adern, sondern war auch eine Druidin. Sie hatte grünliche Haut, ein Geweih, das aus ihren Schläfen wuchs und Hufe, statt Füße. Sie war sehr schlank und mit sieben Fuß deutlich größer, als die meisten Menschen.
„Ich bin eine Druidin des Zirkels von Zar'gan'f. Ich schätze alles Leben gleichermaßen. In der Natur überleben meistens nur die Besten, Schnellsten und Stärksten. Manchmal die mit Glück, aber immer die, die sich einer Situation am besten anpassen können. Ich kenne eure Soldaten nicht, und sie bedeuten mir nichts, aber deshalb verachte oder verurteile ich sie auch nicht“, erwiderte Anaya sichtlich verärgert.
Sichtlich deshalb, weil die Dornenranken größer geworden waren und sich gierig in Richtung der Wachen bewegten.
„Ruft die Ranken zurück oder meine Männer werden Euch töten!“
„Könnten wir uns alle beruhigen? Wir Naurim sind keine Freunde von Drachen, trotzdem habe ich mich von einem hierherbringen lassen, weil ich einen Auftrag habe – der zufällig auch eurem Land helfen wird.
Wäre mir egal, was hier passiert, hätte ich mit meinen Freunden einfach in Kaltarra bleiben können. Wir sind aber hier, um nochmals unsere Leben für ein Land zu riskieren, dass nicht unsere Heimat ist. Ihr könnt uns daran hindern, dann bleiben wir hier und ihr könnt hoffen, dass wir gelogen haben.
Wenn unser Bericht aber der Wahrheit entspricht und wir Erfolg haben, könnte der Krieg schon bald zu Ende sein, oder an anderer Stelle weitergeführt werden, weil wir Attravals Kompass weggebracht haben. Ein Objekt, dass euch weder gehört, noch für das ihr während der vergangenen Jahrhunderte eine Verwendung gefunden habt. Ihr riskiert nichts dabei, uns gehen zu lassen, aber alles, wenn ihr es nicht tut.“
Droins kurze Rede hatte es eindeutig auf den Punkt gebracht. Mir wären nur Beleidigungen eingefallen. Immerhin einige sehr kreative.
Auch der Major schien beinahe überzeugt. Er stand grübelnd vor uns, und winkte die Wachen zurück. Sie bildeten einen lockeren Ring um uns herum, während ich der Soldatin dankbar zunickte.
Ich kam mit der Hilfe von Droin und Anaya mühsam auf die Füße. Dabei nutzte Anaya ihren Körper, um das kleine Messer zu verbergen, mit dem sie die Seile durchtrennte, die mich gefesselt hielten.
„Anscheinend sind Fesseln tatsächlich nützlich, um Dein loses Mundwerk im Zaum zu halten“, fügte sie lachend hinzu. Auch Droin konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Ja, ja, amüsiert euch ruhig. Es wird schwer genug werden, bis zum Grab vorzustoßen. Habt ihr schon eine Idee, wie wir es durch die Reihen der Angreifer schaffen sollen? Noch dazu ohne die Hilfe von Jiang?“
Ihr Lachen erstarb, als sie meinem Blick folgten. Jiang wirkte wie eine Statur. Jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. – Jedenfalls dachten sie das, bis beiden auffiel, dass sie eine sehr dünne, weiße Porzellanmaske ohne Konturen angelegt hatte. Darunter war absolut nichts mehr zu erkennen.
Wir alle wussten, dass dies eine Schandmaske war. Bislang hatte sie erst einmal eine angelegt. Es hatte beinahe drei Monde gedauert, bis wir sie dazu bewegen konnten, sie abzulegen.
Großartig. Genau das, was wir jetzt gebrauchen konnten.
„Oh nein! Nicht auch das noch“, seufzte Anaya.
„Was ist denn mit ihr?“, wollte Phyria verwirrt wissen, die offensichtlich nicht verstand, was hier vor sich ging. Ich konnte es ihr nicht verübeln, hatte aber trotzdem keine Lust, es ihr zu erklären.
Zum Glück erbarmte sich Droin: „Wenn eine Shâi Schande auf sich lädt, legt sie eine Maske an, um ihr Gesicht vor der Welt zu verbergen, bis sie ihre Ehre zurückgewonnen hat.“
„Aber was ist den passiert? Wenn sie dieser Oribas dazu gezwungen hat, mit ihm zu schlafen, ist das doch nicht ihre Schuld“, entgegnete Phyria verblüfft.
„Das ist auch nicht das Problem. Aber Anaya hat den Vorfall offen angesprochen und sie damit beschämt. Deshalb hat sie die Maske angelegt.“
„Und wo ist das Problem? Soll sie doch eine Maske tragen, bis sie sich beruhigt hat.“
Sie hatte nichts verstanden.
„Das Problem ist, dass sie so lange sie die Maske trägt, mit niemandem reden wird, und so unauffällig sein wird, wie sie nur kann. Und glaub mir, das macht sie praktisch unsichtbar. Sie wird fasten, nur trockenes Brot, Reis und Obst essen und nichts anderes außer Wasser trinken. Außerdem wird sie von uns erwarten, dass wir sie darin unterstützen und bewusst so tun, als wäre sie nicht da. Wir dürfen ihr nicht helfen, sie nicht ansprechen und durch nichts zeigen, dass sie überhaupt existiert. Ist das jetzt angekommen?“, herrschte ich sie an.
„Ja. Kein Grund, gleich so unfreundlich zu sein“, gab Phyria beleidigt zurück: „Und wie lange dauert es, bis sie sich wieder beruhigt?“
„Gute Frage. Das letzte Mal haben wir drei Monde gebraucht, bis wir sie dazu gebracht hatten, die Maske abzulegen“, antwortete ich ihr.
„Und da hatte sie sich nur in einer Taverne betrunken und ein unanständiges Lied gesungen“, fügte Droin mit düsterer Miene hinzu.
„Erinnere mich nicht daran“, ergänzte Anaya.
„Warum nicht? Weil Du mitgesungen hast? Oder weil ihr dabei fast nackt auf einem Tisch gestanden habt?“, fragte ich grinsend.
Das war kurz nachdem wir von der Stadthalterin von Rigadein für die erfolgreiche Jagd auf den Attentäter und seine Hintermänner ausgezeichnet worden waren, der versucht hatte, sie zu töten.
Wir hatten drei Tage lang gefeiert, die Vorräte der Taverne praktisch aufgebraucht und uns mehrere Schlägereien geliefert, bei denen fast das gesamte Mobiliar zu Bruch gegangen war, einschließlich der Theke und der Eingangstür.
Wir hatten Barden und Sänger bezahlt, unsere Geschichte zu verbreiten und hatten ihre Werke grölend mitgesungen. Wir hatten in der Taverne auf, unter oder neben den Tischen geschlafen.
Nach drei Tagen Gelage waren unsere Sachen so dreckig, dass wir kaum noch etwas anzuziehen hatten. – Nicht das es uns noch etwas ausmachte, da wir auch eine ganze Armee an Freudenmädchen und Männern bezahlt hatten, uns Gesellschaft zu leisten. Unser Gelage war schnell zu einer Orgie geworden, in der die Schamgefühle im Alkohol ertrunken waren.
Irgendwann hatte Jiang ihre sonstige Zurückhaltung aufgegeben und sich zu Anaya begeben, die gerade bis auf einen Schal nackt auf dem Tisch tanzte. Uns allen war das gar nicht so richtig aufgefallen, aber Jiang war ebenfalls nackt gewesen und hatte sogar ihr Haar gelöst, das ihr daraufhin fast bis zu den Fersen gereicht hatte. Ich hätte der Vorstellung gerne mehr Aufmerksamkeit gewidmet, aber ich war – nun ja – abgelenkt gewesen. Die beiden schwarzhaarigen Schwestern, die mich gerade beschäftigten, hatten beleidigt reagiert.
Erst einen Tag später, als wir halbwegs nüchtern waren, hatte Droin eine Bemerkung über die Tanzkünste von Jiang gemacht, die daraufhin praktisch erstarrt war. Sie war regelrecht geflüchtet und mit der Maske zurückgekehrt.
Danach war sie praktisch zwei Monde lang unsichtbar gewesen, hatte mit niemandem geredet, kaum gegessen, sich von niemandem helfen gelassen. Hätten wir in Rigadein nicht einen Händler aus Shâo getroffen, der uns die Sache mit der Maske erklärt hatte, würde sie das verdammte Ding vermutlich noch immer tragen.
In einer Stadt, ohne konkreten Auftrag und mit ausreichend Zeit, war das kein Problem gewesen, höchstens lästig, aber es gab vermutlich keinen unpassenderen Ort als hier, mitten in einem Krieg, um noch mal durch das ganze Prozedere von Vergebung und Sühne zu gehen, dass es in Rigadein bedurft hatte, um sie wieder in ihr normales Selbst zu verwandeln.
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