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Sharon: Unwohl mit dem Eigenwohl

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Sharon suchte mich zum ersten Mal mit 51 Jahren auf und klagte über Hitzewallungen und Schlaflosigkeit. Als ich sie nach ihrer sportlichen Betätigung und ihren Ernährungsgewohnheiten fragte, zuckte sie nur mit der Schulter und entgegnete: »Wer hat schon Zeit, Sport zu treiben oder sich gut zu ernähren?« Obwohl Sharon etwa 14 Kilogramm Übergewicht hatte und gerne abnehmen wollte, sah sie einfach keine Möglichkeit, wie sie die Zeit finden sollte, ihre Lebensweise zu verbessern. Wie ich herausfand, war Sharon die Älteste von fünf Geschwistern und die einzige Tochter. Als ihre Mutter starb, war sie es, die sich um ihren Vater kümmerte, einen 72-jährigen Mann, der sich den größten Teil von Sharons Leben seinen Kindern gegenüber tyrannisch und distanziert verhalten hatte. Nachdem Sharons Mutter gestorben war, hatte sich sein Gesundheitszustand leicht verschlechtert. Obwohl Sharons Vater keine fachmännische Krankenpflege benötigte, brauchte er jemanden, der zu ihm kam, ihm seine Mahlzeiten kochte, die Wäsche wusch und das Haus sauber hielt – Aufgaben, die bis dato stets seine Frau erledigt hatte.

Automatisch übernahm Sharon diese Aufgaben zusätzlich zu ihren eigenen alltäglichen Pflichten, obwohl ihr Vater etwa eine halbe Stunde von ihr entfernt wohnte und sie vollberuflich als Krankenschwester arbeitete, verheiratet war und zwei Söhne im Teenageralter hatte, die noch zu Hause lebten. Das Erste, was ich Sharon fragte, war: »Wo sind Ihre Brüder?« Sie erzählte mir, dass zwei in einem anderen Staat lebten, die beiden anderen jedoch in derselben Stadt wie sie und ihr Vater wohnten. Die Frage, die sich als nächste anbot, war: »Helfen Ihre Brüder Ihnen dabei, sich um Ihren Vater zu kümmern?« Sharon entgegnete, sie könne sich nicht wirklich auf deren Unterstützung verlassen. Schließlich waren sie berufstätig, verheiratet und hatten eigene Kinder. »Außerdem«, fügte sie hinzu, »stellen sie sich beim Kochen und Putzen nicht gerade sehr geschickt an. Und überdies wünscht mein Vater, dass ich es bin, die zu ihm kommt und ihm hilft.«

Ich wies Sharon darauf hin, dass sie mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit selbst gesundheitliche Probleme bekommen würde, wenn sie keine Hilfe bei der Versorgung ihres Vaters erhielt. Dann würde sie ihrem Vater gar nicht mehr helfen können! Ich habe dieses Muster in meiner Praxis und in meinem Leben viele Male gesehen. Ich konnte auch ihre Befürchtung nachvollziehen, dass sich ihre Brüder ihrem Hilfeersuchen gegenüber ziemlich taub stellen könnten und dass sie ihr dieses Drängen auf Unterstützung möglicherweise eine Weile übel nehmen würden. Ihre Bereitschaft, die ganze Arbeit allein zu übernehmen, hatte es den Brüdern sehr bequem gemacht, ein Zustand, den sie vermutlich nicht so ohne Weiteres aufgeben würden. Und Sharons Bereitschaft, sich zu opfern, um die Zustimmung ihrer Brüder zu gewinnen, brachten ihr Liebe, Dankbarkeit und das Gefühl ein, gebraucht zu werden.

Obwohl sich Sharon in ihrer Situation wie ein Opfer fühlte, war ihr niemals in den Sinn gekommen, ihre Brüder um Hilfe zu bitten. Und auch von mir hörte sie diesen Vorschlag nicht gern. Doch als ich sie darauf hinwies, dass ihr Gewichtsproblem und ihr erhöhter Blutdruck möglicherweise mit ihrer gegenwärtigen Arbeitsüberlastung in Zusammenhang stehen könnten, erkannte sie, dass etwas geschehen müsse. Das Erste, was ich Sharon riet, war, sich einmal grundsätzlich und ehrlich damit auseinanderzusetzen, was es eigentlich für sie bedeutete, für andere zu sorgen.

Wie ihre Mutter vor ihr war Sharon davon überzeugt: »Wenn ich es nicht tue, dann wird es nicht getan.« Sie war in einem Haushalt voller Jungen aufgewachsen, von denen keiner kochte, putzte oder Geschirr spülte. Sie und ihre Mutter, die von der ganzen Familie als »Heilige« beschrieben wurde, erledigten die gesamte Hausarbeit. Kaum überraschend heiratete Sharon einen Mann, der sich ebenfalls nicht an der Hausarbeit beteiligte. Und ihre Brüder heirateten allesamt Frauen, die wie ihre Mutter gern zu Hause blieben und sich um Haushalt und Familie kümmerten. Leider hatte diese Art von Selbstaufopferung bereits einen hohen Preis von Sharons Mutter gefordert, die erst 68 Jahre alt war, als sie einem Herzinfarkt erlag. Wenn Sharon dem Schicksal ihrer Mutter entgehen wollte, musste sie ihre Überzeugungen und Verhaltensweisen im Hinblick auf Selbstaufopferung und Für-andere-da-Sein revidieren.

Ein derartiges Verhaltensmuster zu verändern ist jedoch meist alles andere als einfach, denn wenn eine »Fürsorgerin« wie Sharon endlich einmal den Mund aufmacht und ihre eigenen Interessen artikuliert, wird eine Art emotionaler Dominoeffekt in Gang gesetzt. Als ich Sharon mehrere Monate später wiedersah, hatte sie ihre Brüder aufgefordert, sich an der Versorgung ihres Vaters zu beteiligen. Einer wurde daraufhin so wütend, dass er einen ganzen Monat lang nicht mit ihr sprach. Doch der andere war etwas verständnisvoller. Während ich diese Zeilen schreibe, erzählt Sharon mir, dass es in ihrer Familie zu einer Spaltung über den Standpunkt gekommen ist, den sie eingenommen hat. Ihre Brüder haben inzwischen rund 40 Prozent der Versorgung ihres Vaters übernommen. Ihr Vater lernt, mehr selbst zu tun, und Sharon hat etwas an Gewicht verloren, und ihr Blutdruck ist niedriger. Auch wenn sie wegen des »Risses« in der Familie, den sie herbeigeführt hat, Gewissensbisse hat, fühlt sie sich doch durch die positiven Veränderungen ihres Gesundheitszustands ermutigt. Sie weiß, dass sie auf dem richtigen Weg ist.

Weisheit der Wechseljahre

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