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Die Fesseln der Selbstaufopferung sprengen

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Jeder von uns trifft jeden Tag Entscheidungen. Und jede Entscheidung, die wir treffen, hat Folgen. Je ehrlicher wir uns selbst gegenüber über die Motive sind, die uns dabei antreiben, desto gesünder werden wir sein. Das gilt für das Sich-um-andere-Kümmern genauso wie für andere Gebiete unseres Lebens, vielleicht sogar mehr. Die folgenden Schritte sollen Ihnen helfen, sich bewusst um sich selbst zu kümmern – und um andere in dem Maße, wie es wirklich nötig ist.

Schritt eins: Machen Sie sich klar, dass Frauen ein kulturelles und persönliches Vermächtnis der Selbstaufopferung geerbt haben, das seit Generationen an uns weitergegeben wird. Wenn Sie sich gewohnheitsmäßig für andere aufopfern, entspannen Sie sich. Sie sind normal. Wir sind dazu erzogen worden, unseren Beitrag zur Familie oder zu unserer sozialen Gruppe – unseren sozialen Wert – höher zu schätzen als uns selbst und unsere Beziehung zu unserer Seele. Zumindest die letzten 5000 Jahre hindurch, wenn nicht länger, ist der Wert einer Frau weitgehend dadurch bestimmt gewesen, wie gut und wie fleißig sie denjenigen dient, die mächtiger und schlagkräftiger sind als sie. Wenn Sie daran zweifeln, dann erinnern Sie sich daran, dass sich Frauen in den Vereinigten Staaten erst in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts das Wahlrecht erkämpften, also vor knapp 100 Jahren. Zuvor wurden Frauen von der Regierung nicht einmal offiziell zur Kenntnis genommen. Wir haben noch nicht viel Zeit gehabt, die automatische Rolle der Fürsorgerin abzuschütteln, die uns Jahrtausende lang so viel Lob eingebracht hat, geschweige denn, sie durch neue Überzeugungen und Verhaltensweisen zu ersetzen, bei denen es darum geht, unser Leben ebenso ernst zu nehmen wie das von anderen, insbesondere von Männern. Im Angesicht dieses Erbes machen sich Tausende Frauen weltweit daran, für sich und ihre Bedürfnisse einzustehen. Wir sind mittendrin in einer spannenden – und oft ganz wunderbaren – Evolution auf diesem Gebiet.

Schritt zwei: Lernen Sie, den Unterschied zwischen Fürsorge und übertriebener Fürsorge zu erkennen. Echte Fürsorge für andere, die aus bedingungsloser Liebe erwächst, stärkt unsere Gesundheit. Das ist einer der Gründe dafür, dass die freiwillige Übernahme von gesellschaftlichen Verpflichtungen und Ehrenämtern oft mit einer Verbesserung der Gesundheit einhergeht. Aber eine übertriebene Fürsorge und das Gefühl, dadurch wie ausgebrannt zu sein, zerstören Ihre Gesundheit und entladen Ihre inneren Batterien. Übergroße Fürsorglichkeit ist oft durch Schuldgefühle und ungelöste Probleme motiviert, die wir durch unsere Rolle als Fürsorgerin auf irgendeine Weise zu kompensieren hoffen. Um den Unterschied zwischen beidem zu erkennen, ist es sehr wichtig, sich klarzumachen, wie Sie sich fühlen, wenn Sie für andere sorgen. Sie müssen sich selbst gegenüber auch wirklich vollkommen ehrlich sein, wenn Sie sich die Frage zu beantworten versuchen, was Sie durch Ihre Fürsorge gewinnen.

Eine meiner Freundinnen meinte dazu: »Wenn ich Dinge tue, um meine Familie glücklich zu machen, fühle ich mich gut und geliebt. Je mehr ich solche Dinge tue, wie backen, kochen oder das Haus blitzblank halten, desto mehr Komplimente bekomme ich. Obwohl das kräftezehrend sein kann und obwohl ich mir sage, dass mein Leben aus mehr bestehen müsste als arbeiten und hinter jedem herzuräumen, fürchte ich insgeheim, dass mich meine Familie ablehnen und nicht mehr so lieben wird, wenn ich mich dem widersetze und einen Teil der Verantwortlichkeiten für den Haushalt an andere delegiere. Daher ist die Belohnung dafür, alles selbst zu tun, die Liebe meiner Eltern und meines Ehemannes.« Wenn ich so etwas höre, dann muss ich mich fragen, ob es wirklich Freude ist, die diese Fürsorge motiviert, wie meine Freundin glaubt, oder doch eher Verlustangst.

Jede von uns muss sich Rechenschaft darüber ablegen, was wir daraus gewinnen, uns selbst aufzuopfern. Eine meiner Patientinnen, die von ihrer Mutter als Kind physisch und verbal misshandelt worden war, lernte bereits früh, dass die einzige Möglichkeit, Schläge zu vermeiden, darin bestand, alle Mahlzeiten zuzubereiten, den Boden zu schrubben und das ganze Haus zu putzen. Bis heute fühlt sie sich, sobald sie neue Leute trifft, dazu gezwungen, zu kochen, zu putzen und ihnen Geschenke zu machen, um ihre Liebe zu gewinnen. Vor Kurzem erzählte sie mir, sie habe folgende Einsicht gehabt: »Wenn du dich wie eine Heilige benimmst, greift dich niemand an – niemand schlägt dich zusammen. Du wirst zu einem geschätzten Teil jeder Gruppe, in der du bist.«

Heiligkeit dieser Art erscheint mir als Vermeidungsstrategie. Andererseits ist der Wunsch, für andere – einschließlich Tiere und Pflanzen – zu sorgen, eine positive Emotion, die offenbar direkt in die biologische Programmierung der meisten Frauen (und auch vieler Männer) eingebaut ist. Wenn freiwillige Helferinnen in Pflegeheimen zum Beispiel lernen, wie sie den Bewohnern Massagen verabreichen können, dann verbessert sich Untersuchungen zufolge sowohl die Gesundheit der Massierten als auch die der Massierenden. Wer hat nicht schon einmal die Genugtuung verspürt, die es mit sich bringt, einem Kind einen besonderen Nachtisch zuzubereiten, der es überrascht und freut, oder einer kranken Freundin zu helfen, die eine warme Mahlzeit oder einen Babysitter braucht?

Es vermittelt uns ein gutes Gefühl, denjenigen zu helfen, die leiden. Tatsächlich basiert meine ganze berufliche Karriere darauf, anderen zu helfen, sich besser zu fühlen. Oft, wenn ich jemandem dabei helfe, gesund zu werden, fühle ich mich, als stünde ich mit einer Kraft in Verbindung, die größer ist als ich, mich jedoch durchströmt und mir ebenso hilft wie meiner Patientin. Doch wie ich selbst haben viele Frauen im Laufe der Jahre – manchmal durch die Weisheit einer persönlichen Erkrankung – gelernt, dass wir nicht in gesunder Weise für andere da sein können, wenn wir nicht dafür sorgen, dass unsere eigenen Bedürfnisse ebenfalls erfüllt werden. Und diese umfassen auch Zeit für Erholung, gut zu essen und ausreichend Schlaf.

Schritt drei: Lernen Sie die gesundheitlichen Vorteile eines gesunden Eigeninteresses kennen. Hierzu eine grundlegende wissenschaftliche Tatsache: Unserer Gesundheit ist am besten damit gedient, dass wir Dinge tun, die in unserem besten eigenen Interesse sind. Das ist keine Selbstsucht. Es ist die Grundregel eines gesunden Lebens. Es gibt keine einzige Zelle in unserem Körper, die dadurch gedeiht, dass sie ihre eigene Gesundheit für die Gesundheit der umliegenden Zellen opfert. Es macht einfach keinen Sinn. Stattdessen kommunizieren Zellen ständig miteinander. Die Gesundheit einer Zelle beeinflusst die Gesundheit aller. Je mehr Sie die Dinge tun, die Ihnen am meisten Spaß machen, umso gesünder werden Sie und Ihre ganze Gruppe werden.

Schritt vier: Machen Sie sich klar, dass die Sorge für Eltern oder alternde Verwandte ein Versuch sein kann, ungelöste Probleme aus unserer familiären Vergangenheit zu heilen. Claris, eine meiner Patientinnen in den Wechseljahren, deren Zuckerkrankheit besonders schwierig unter Kontrolle zu bringen war, als sie ihren sterbenden Vater pflegte, erzählt mir, dass sie allein bei dem Gedanken, ihren krebskranken Vater nicht zu pflegen, von Schuldgefühlen überwältigt wurde. Sie meinte dazu: »Papa wollte keine Fremden im Haus, sodass ich das Gefühl hatte, ich könne keine Krankenschwester oder einen häuslichen Pflegedienst beauftragen, obwohl Geld genug da gewesen wäre. Um die Wahrheit zu sagen, sein Beharren darauf, ich sei die Einzige, die ihm helfen könne, gab mir das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.«

Als Claris nach dem Tod ihres Vaters eine Therapie begann, erkannte sie, dass sie stets das Gefühl gehabt hatte, ihr Vater schätze sie nicht so wie ihre Brüder. Darum hatte sie versucht, ihren Wert zu beweisen, indem sie etwas tat, das sie besser konnte als ihre Brüder: Sie kümmerte sich um ihn. Sie realisierte schließlich, dass dies ein Versuch gewesen war, die Liebe und die Zuneigung zu gewinnen, die sie von ihm in ihrer Kindheit nie gespürt hatte. Für manche Frauen ist die Sorge für einen sterbenden Elternteil eine sehr erfüllende und befriedigende Aufgabe. Auf der anderen Seite kann die Pflege eines sehr selbstbezogenen Elternteils eine sehr zehrende Aufgabe sein, die auch gesundheitliche Risiken birgt. Machen Sie sich nicht ohne Unterstützung daran.

Schritt fünf: Lernen Sie zu delegieren und um Hilfe zu bitten. In der Lebensmitte ist Sorge für andere eine weitere Möglichkeit zu lernen, gesunde Grenzen zu ziehen und die anderen Familienmitglieder aufzufordern (nicht zu bitten), einen Teil der Last mitzutragen oder Sie für Ihre Hilfe zu bezahlen. Wenn Ihr Mann nicht berufstätig ist oder zeitlich weniger belastet ist als Sie selbst, dann gibt es beispielsweise keinen Grund, warum er nicht einspringen kann.

Ich bin mir durchaus bewusst, dass viele Frauen nicht in der finanziellen Position sind, Hilfe von außen zu bezahlen, um Familienmitglieder zu pflegen. Doch in fast allen Fällen gibt es für derartige Probleme eine Lösung, bei der die ganze Last nicht nur auf der Schulter einer einzigen Frau abgeladen wird. Es ist an der Zeit, dass alle Männer die Grundregeln des Kochens und Putzens lernen. Wenn niemand sonst in Ihrer Familie einspringen kann oder will, dann besteht eine andere Möglichkeit darin herauszufinden, was es kosten würde, jemanden anzustellen, der kommt und die Arbeit erledigt, die Sie tun. Dann können Sie Ihre Brüder oder andere Familienmitglieder auffordern, Sie direkt zu bezahlen, sodass Sie Ihre Arbeitszeit außerhalb des Hauses reduzieren können. Auf diese Weise bliebe Ihnen mehr Zeit, Ihre Batterien täglich aufzufüllen, sich genügend körperliche Bewegung zu verschaffen und sich gesund zu ernähren.

Wie Sharon müssen Sie sich unter Umständen von der familiären Programmierung lösen, die Sie dazu gebracht hat zu glauben, Ihre Rolle als Frau sei gleichbedeutend mit Selbstaufopferung. Sharon musste ihrem Vater klarmachen, dass er lernen müsse, sich von jemand anderem als nur von ihr versorgen zu lassen. Und ihr Vater musste zudem von einer lebenslangen Konditionierung Abschied nehmen, die ihn gelehrt hatte, dass ihm alle Haushaltsdinge automatisch abgenommen werden würden. Es ist gut dokumentiert, dass ältere Leute, auch Männer, bis ans Lebensende lernen und wachsen können. Es gibt keinen vernünftigen Grund anzunehmen, ein Mann könne nicht lernen, wie man ein Ei kocht, ein Putenschnitzel brät oder seine Kleider in die Waschmaschine steckt! Eltern, die uns wirklich lieben, wollen unser Bestes, selbst wenn das bedeutet, dass sie einige ihrer Verhaltensweisen und Erwartungen überdenken und verändern.

Schritt sechs: Warten Sie nicht, bis ein Elternteil oder ein Verwandter versorgt bzw. gepflegt werden muss, bevor Sie mit Ihren Geschwistern einen möglichen Plan diskutieren. Auf diese Weise können Sie die »Notfallversorgung« vermeiden, die scheinbar unvermutet über uns hereinbricht, aber in Wirklichkeit bereits Jahre zuvor von unseren Überzeugungen und Entscheidungen in Gang gesetzt worden ist.

Eine meiner Freundinnen, eine älteste Tochter, die gerade vierzig geworden ist, hat ihrer jüngeren Schwester, die in derselben Stadt wie ihre Mutter wohnt, bereits klargemacht, dass sie nicht die Absicht hat, ihre Mutter, eine sehr unselbstständige, »klammernde« Frau, einzuladen, bei ihr zu leben, wenn ihrem Vater etwas passieren sollte. Meine Freundin ist nicht selbstsüchtig. Sie ist nur realistisch. Sie liebt ihre Mutter, aber sie ist nicht bereit, ihr Leben oder ihre Karriere für sie zu opfern. Mit ihrem ehrlichen Ansatz macht sie andere Familienmitglieder darauf aufmerksam, dass diese sich nicht automatisch darauf verlassen können, dass sie es ist, die ihre Mutter in Zukunft beherbergen und versorgen wird, sollte sich die Notwendigkeit ergeben. Das zerreißt die Kette mit der Gravierung Die älteste Tochter muss sich opfern, bevor sie überhaupt erst zusammengefügt wird.

Schritt sieben: Lernen Sie Nein zu sagen. Die Kunst, mit Charme und Leichtigkeit Nein zu sagen, gehört zu den wichtigsten Fähigkeiten überhaupt. Das Schöne an den mittleren Jahren ist, dass Sie nun Ihre Schuldigkeit getan und genug Erfahrung haben, um zu wissen, was Sie erschöpft und was Sie aufbaut. In dem Buch Sei dir wichtig (Berlin 2015) schreibt meine Kollegin Cheryl Richardson: »Es ist schon komisch, aber nach Jahren angewandten Sich-selbst-wichtig-Nehmens habe ich Folgendes bemerkt: Wenn Sie ein authentisches und sinnvolles Leben leben wollen, dann müssen Sie die Kunst der Enttäuschung lernen, des Andere-in-Wallung-Bringens, die des Gefühle-Verletzens und sich dem Umstand stellen, dass manche Leute Sie einfach nicht mögen. Das ist vielleicht nicht einfach, aber entscheidend. Vor allem, wenn Ihr Leben Ihre wahren Sehnsüchte, Werte und Bedürfnisse spiegeln soll.«3 Das ist auch der Grund, warum ich in ihrem Buch das Kapitel mit der Überschrift »Lassen Sie mich Sie enttäuschen« so mag.

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