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1. Grammatikalische Auslegung
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Die wortlautorientierte Auslegung fragt nach dem Bedeutungsgehalt des Begriffs vor dem Hintergrund des in der Sprachgemeinschaft vorherrschenden Verständnisses. In der EU mit ihren 24 gleichberechtigten Amtssprachen (Art. 55 I EUV, Art. 358 AEUV) sind daher grundsätzlich alle Sprachfassungen einzeln zu berücksichtigen und abzugleichen. Insofern wohnt der grammatikalischen Auslegung immer ein vergleichender Aspekt inne, der in vollem Umfang freilich häufig nicht praktikabel ist. In der Rechtsprechungspraxis kommt deswegen zum einen den am weitesten verbreiteten Amtssprachen (d.h. dem Englischen, Französischen und Deutschen) größere Bedeutung zu, zum anderen kommt es regelmäßig zu einer eigenständig unionsrechtlichen Begriffsbildung,[28] die sich von nationalen Begriffsverständnissen löst.
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Dadurch wird gleichzeitig der Autonomie der Unionsrechtsordnung Rechnung getragen. Dieser in den Entscheidungen Van Gend en Loos[29] und Costa/ENEL[30] entwickelte Grundsatz besagt, dass das Unionsrecht eine eigenständige Rechtsordnung darstellt. Sie hat absoluten Vorrang vor den nationalen Rechtsordnungen und darf durch nationales oder zwischenstaatliches Recht nicht beeinträchtigt oder in ihrem Bedeutungsgehalt verändert werden. Bereits im Rahmen der Auslegung soll vermieden werden, dass nationale Rechtsbegriffe auf das Unionsrecht übertragen werden und dieses determinieren könnten. EU-Vorschriften sind folglich unionsrechtlich-autonom auszulegen.
Beispiel:
In der Entscheidung Lawrie-Blum stellte der EuGH fest, der Begriff des Arbeitnehmers im Sinne von Artikel 48 EWG-Vertrag [nun Art. 45 AEUV] habe eine gemeinschaftsrechtliche Bedeutung.[31] Als Arbeitnehmer wird danach grundsätzlich jeder eingestuft, der während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält.[32] Auf die Arbeitnehmereigenschaft nach nationalem Recht kommt es damit nicht an. Deutschland durfte somit Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten den Vorbereitungsdienst für ein Lehramt nicht auf Grundlage ihrer Nationalität verweigern.