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2. Systematische Auslegung
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Im Rahmen der systematischen Auslegung wird die Stellung einer Rechtsnorm im Zusammenhang mit anderen Normen der gleichen Vorschrift, des gleichen Abschnitts oder des gesamten Rechtstextes gewürdigt. Die Grundannahme dabei ist, dass der Normgeber gleichen Begriffe eine konsistente Bedeutung geben wollte und dass Normen in ihren Verwendungszusammenhängen sinn- und wirkungsvoll auszulegen sind.
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Im Unionsrecht ist daher eine Norm in Übereinstimmung mit dem gesamten hierarchisch gleich- oder übergeordneten Recht auszulegen.
Beispiel:
Als Beschränkungsmöglichkeiten der Grundfreiheiten nach den Art. 36, 45 III und Art. 51 AEUV werden gleichlautend die Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit genannt. Mittels systematischer Auslegung kann damit die sog. Konvergenz der Grundfreiheiten,[33] d.h. der Gleichlauf ihrer Prüfungen, auch auf Rechtfertigungsebene begründet werden.
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Eine besondere Ausprägung der systematischen Auslegung ist die sog. primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten EU-Rechts. Die Normenhierarchie des Unionsrechts sieht die Unwirksamkeit von Normen vor, die gegen höherrangiges Recht verstoßen.[34] Deshalb muss zuvorderst versucht werden, die niederrangige Norm im Einklang mit dem höherrangigen Recht auszulegen, da die Norm nur so ihre Wirksamkeit behalten kann. Umgekehrt gilt dies jedoch nicht: Eine am Sekundärrecht orientierte Auslegung des Primärrechts verkennt, dass das Primärrecht Geltungsgrund allen Sekundärrechts ist und die EU-Mitgliedstaaten als Herren der Verträge das primärrechtliche Programm und damit auch den Handlungsrahmen des Unionsgesetzgebers vorgeben, und nicht umgekehrt.[35]
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Keine Auslegung im eigentlichen Sinne stellt die mitunter erforderliche wertende Rechtsvergleichung des EuGH zur Ermittlung des Unionsrechts dar. Hierbei handelt es sich um Rechtsfindung, die anhand eines Vergleiches mitgliedstaatlicher Regelungen erfolgt und die konstitutiv für die sodann in Anwendung gebrachte Norm ist. Damit die wertende Rechtsvergleichung die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung nicht überschreitet, bedarf es jedoch einer „Ermächtigung“ in Form eines primärrechtlichen Anknüpfungsmomentes. Solche finden sich teilweise explizit in den EU-Verträgen. Beispielsweise haftet die Union nach Art. 340 II AEUV außervertraglich für Schäden ihrer Organe und Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeiten nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind.
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Daneben können auch (andere) allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts einer Zusammenschau mitgliedstaatlicher Regelungen entnommen werden (arg. e. Art. 6 III EUV).[36]