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1.5.3 Textkritische Problematik von Gal 3,28d

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Wie bereits festgestellt liegt ein Teil der diskutierten Problematik in der diffizilen textkritischen Lage begründet. Jedoch wird die sich anschließende Erörterung der belegten Varianten erweisen, dass nicht erst Textverderbnis o.ä. zu einer unsicheren Textbasis und damit schwierigen Ausgangslage für die Interpretation geführt hat, sondern dass die unterschiedlichen Varianten der ältesten Zeugen – teilweise mit mehrfachen Korrekturen – auf eine frühe Diskussion und unterschiedliche Verstehensmöglichkeiten hinweisen. Die wesentlichen, von Nestle/Aland28 aufgenommenen Textversionen zu 3,28d sind folgende: 1) ἕν εστε εν Χριστω, 2) εστε Χριστου, 3) εστε εν Χριστου (evtl. zu lesen als ἕν Χριστου), und 4) die als txt gelesene Version εἷς ἐστε ἐν Χριστῷ. Sie sollen im Folgenden einzeln auf die Qualität ihrer Bezeugung sowie auf die Plausibilität in Vers und Kontext hin untersucht werden.

1) […] πάντες γὰρ ὑμεῖς ἕν ἐστε ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ – „[…] denn ihr seid alle eins in Christus Jesus“: Erst ab der 26. Auflage listen Nestle/Aland diese lediglich von drei Zeugen belegte Variante auf. Alle drei werden erst auf das 9. Jh. datiert, wobei die beiden Majuskeln Codex Augiensis (Fp/010) und Codex Boernerianus (Gp/012) der Textwertkategorie II bzw. III zugeordnet werden,1 die Minuskel 33 hingegen der höchstens Kategorie. Jedoch bezeugen diese die wohl einfachste Aussage unter den belegten Varianten. Die neutrische Form zielt dabei lediglich auf eine Einheitsvorstellung, wie sie aus unterschiedlichen ekklesiologischen paulinischen Texten bekannt ist2 – hier herbeigeführt durch das „sich-mit-Christus-Umgeben“ in der Taufe und leicht als Konsequenz aus der neuen Unterscheidungslosigkeit und damit auch Zusammengehörigkeit zu verstehen, welche in 3,28a–c beschrieben wird. Nimmt man 3,27f als eine stringente Argumentation, mglw. sogar Tradition an, so wirft diese Einheitsvorstellung „in Christus Jesus“ nicht nur ein Licht zurück auf das Aufeinanderverwiesensein, wie es in 3,28a–c thematisiert wird, sondern spricht zugleich für eine räumliche Vorstellung von 3,27b: Wo doch die Einheit nicht zuletzt darin begründet wird, dass alle Getauften sich – erstmals ohne Unterschied – „in diesem Christus“ wiederfinden. Jedoch ist die Bezeugung so schwach, dass diese Variante 1 kaum als ursprünglich angenommen werden kann, sondern eher als späterer Versuch der Vereinfachung verstanden werden muss.

2) […] πάντες γὰρ ὑμεῖς ἐστε Χριστοῦ Ἰησοῦ – „[…] denn ihr seid alle des Christus Jesus“: Zunächst3 bieten Nestle/Aland überhaupt nur diese Variante als Alternative zu txt und können dazu mit dem P. Chester Beatty III (P46; um 200), einer Korrektur des Codex Sinaiticus (‎‏א‏‎ / 01; 4. Jh.)4 und dem Codex Alexandrinus (A/02; 5. Jh.) drei sehr alte Majuskeln mit der Textwertkategorie I anführen. Damit ist die Variante ähnlich gut belegt wie txt und bietet zudem eine verständliche Aussage, die auch der darauffolgende Vers kennt: Über den Genitiv wird die Zugehörigkeit zu Christus ausgedrückt (vgl. 3,29a). Auch der Anschluss über εἰ δὲ ὑμεῖς kann als bewusste Wiederholung verstanden und damit einer Harmonisierungsargumentation für Gal 3,28d entgegengehalten werden. Zudem handelt es sich bei der Genitiv-Konstruktion um einen von Paulus des Öfteren auf Christus angewendeten Ausdruck.5 Die vorangehende Argumentation ließe sich dann dahin deuten, dass in der Taufe diese Zugehörigkeit zu Christus grundgelegt wird, indem εἰς Χριστόν getauft wird – ein Gedanke, welcher ja auch ἐνδύομαι Χριστόν eignet. Die Einleitung über πάντες γάρ zielt dann weniger auf das Aufeinanderverwiesensein der drei Gegensatzpaare in 3,28a–c ab (wie bei Variante 1), sondern allgemeiner auf das wirklich-alle-einschließende-Element der Taufe. Dabei ist zu überlegen, ob das „des-Christus-Sein“ bereits als eigene Kategorie verstanden wird, und zwar als die einzig entscheidende, welche jede andere (bisherige) Kategorisierung obsolet und gegenstandslos werden lässt. Dazu aber mehr im Zusammenhang mit 3,29a.

3) […] πάντες γὰρ ὑμεῖς ἐστε ἐν/ἕν Χριστοῦ Ἰησοῦ – „[…] denn ihr seid alle in Christus Jesus“ oder „[…] denn ihr seid alle eins des Christus Jesus“: Die dritte Variante, welche mit der ursprünglichen Lesart des Codex Sinaiticus einen Zeugen der ersten Kategorie anführen kann, ergänzt durch eine Einzelhandschrift der Vulgata,6 bietet eigentlich auf Grund der fehlenden Akzente zwei Lesemöglichkeiten. Beide stellen zwar inhaltlich mögliche und durchaus anschlussfähige Aussagen dar, wären aber genauso beide grammatikalisch inkorrekt. […] ἐστε ἐν Χριστοῦ Ἰησοῦ liegt inhaltlich auf der Linie der ersten Variante (ohne den Einheitsaspekt), nur dass ἐν den Dativ statt den Genitiv fordert. […] ἐστε ἕν Χριστοῦ Ἰησοῦ hebt auf den Einheitsgedanken ab, wobei neben dem Genitiv bei diesem Verständnis auch die Wortstellung unpassend erscheint. Insofern stellt ἐν m.E. die ursprüngliche Lesart des Sinaiticus dar, deren Wortstellung und Konstruktion mit Genitiv zugleich den Anlass für die Korrekturen gegeben hat. Grund dafür dürfte ein Abschreibfehler sein, wobei bereits die sehr unterschiedlichen Korrekturen (Variante 2 und txt), welche beide anderweitig gut belegt sind, andeuten, dass man sich über den hinter dem Fehler vermuteten ursprünglichen Text keineswegs einig ist.

4) […] πάντες γὰρ εἷς ἐστε ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ – „[…] denn ihr seid alle einer in Christus Jesus“: Die von Nestle/Aland bevorzugte Variante ist qualitativ noch etwas besser belegt als Variante 27 und hat (auf Grund des Mehrheitstextes) die absolute Mehrheit der Zeugen für sich. Die vielfältigen, bereits zu Variante 1 dargelegten, Relationen zum Kontext lassen sich auch für diese Variante wahrnehmen: der Einheitsgedanke (vgl. 3,28a–c), der räumliche Aspekt (vgl. 3,27b), sowie die in der Taufe begründete Christusbindung (vgl. 3,27a.b.a). Der einzige, doch vermutlich entscheidende Unterschied liegt darin, dass nicht von einer neutralen Gemeinschaft gesprochen wird, sondern davon, dass alle Getauften „einer“ sind, demnach als eine (männliche) Person aufgefasst werden. Ohne vergleichbare Vorstellungen, welche die Gemeinde als eine Person verstehen, muss diese Variante als schwierigste erscheinen. Doch wie bereits im Rahmen des Forschungsüberblicks dargestellt, wird zu ihrer Interpretation oft die Leib-Christi-Vorstellung herangezogen.

So bieten also mehrere Varianten inhaltlich sinnvolle Versionen zu 3,28d, die sich jeweils ganz ähnlich in anderen paulinischen Texten finden lassen. Die Bezeugung spricht schließlich dafür, dass es sich entweder bei ἐστε Χριστοῦ Ἰησοῦ oder εἷς ἐστε ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ um die ursprüngliche Variante handelt. Allein die Korrekturgeschichte des Sinaiticus8 macht deutlich, dass hier nicht nur eine sehr alte, sondern auch äußerst kontrovers diskutierte textkritische Stelle vorliegt, nicht zuletzt daran ersichtlich, dass die beiden Korrekturen (siehe die beiden oben zitierten Varianten) auf ganz unterschiedliche Aussagen abzielen, welche jeweils erheblichen Einfluss auf die Interpretation von 3,27f im Ganzen haben.9

Jedoch verbleibt eine weitere Möglichkeit, die Plausibilität der beiden Varianten zu beurteilen, indem man nämlich 3,27f als Tradition wahrnimmt.10 Die zwei Hauptaspekte, welche für 3,27f eine traditionelle Formulierung vermuten lassen, sind dabei beide von textkritischer Relevanz: 1) der geprägte Sprachgebrauch: Die bildhafte Vorstellung des εἷς ἐστε ἐν Χριστῷ fügt sich dabei nahtlos an den äußerst knappen, den Ablauf des Taufrituals bildlich erläuternden Stil von V. 27 an. Jedoch handelt es sich auch bei ἐστε Χριστοῦ um eine verknappte theologische Aussage, welche sich zudem in V. 29a wiederholt. Aussagekräftiger für die textkritische Diskussion sind daher schon eher 2) die beiden anderen Stellen, an denen die Tradition Verwendung findet:11 In Zusammenhang mit der Taufe bieten auch 1Kor 12,13 und Kol 3,11 negierte Gegensatzpaare, verwandt denen in Gal 3,28a–c, und lassen diesen argumentativ begründend eine Einheitsaussage folgen: In 1Kor 12 – eigentlich im gesamten 1Kor – malt Paulus den Korinthern ihre gegebene Einheit bei aller Vielfalt vor Augen, wobei 1Kor 12,12f zweifellos einen der Höhepunkte in dieser leidenschaftlichen Argumentation bildet.12 Die besprochene Tradition wird dazu herangezogen, um diese in der Taufe grundgelegte Einheit und Einzigkeit zu betonen: καὶ γὰρ ἐν ἑνὶ πνεύματι ἡμεῖς πάντες εἰς ἓν σῶμα ἐβαπτίσθημεν, εἴτε Ἰουδαῖοι εἴτε Ἕλληνες εἴτε δοῦλοι εἴτε ἐλεύθεροι, καὶ πάντες ἓν πνεῦμα ἐποτίσθημεν (1Kor 12,13). Und während diese Einheit in 1Kor 12 kontextbezogen anhand des einen Geistes erläutert wird, findet sich der Aspekt in Kol 3,11 wie auch in Gal 3,28d ausgedrückt über die alles entscheidende Christusbindung des Getauften: ὅπου οὐκ ἔνι Ἕλλην καὶ Ἰουδαῖος […] ἀλλὰ [τὰ] πάντα καὶ ἐν πᾶσιν Χριστός. Dass damit nicht allein die ethische Vorbildwirkung Christi gemeint ist, erweist sich darin, dass Paulus im Folgenden zu Gunsten der Liebe und des Friedens Christi untereinander daran erinnert, dass καὶ ἐκληθήτε ἐν ἑνὶ σώματι (Kol 3,15). Ebenfalls beachtenswert ist, dass diese Einheit nicht absolut ausgesagt wird, sondern jeweils als eine Einheit ἐν … näher qualifiziert wird: καὶ γὰρ ἐν ἑνὶ πνεύματι ἡμεῖς πάντες εἰς ἓν σῶμα ἐβαπτίσθημεν … (1Kor 12,13); … πάντες γὰρ ὑμεῖς εἷς ἐστε ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ (Gal 3,28); … ἀλλὰ τὰ πάντα καὶ ἐν πᾶσιν Χριστός (Kol 3,11).

Die Tradition wird in ihrem Wortlaut nicht mehr genauer zu rekonstruieren sein, jedoch lassen sich drei Elemente festhalten: 1) der Taufbezug, der konstitutiv für 2) die Negierung der Gegensatzpaare ist, auf welche (argumentativ begründend) 3) eine Einheitsaussage folgt. Wenn man sich nun die beiden textkritischen Varianten anschaut, welche als gut belegt und zugleich plausibel beurteilt werden können, so stellt man fest, dass ἐστε Χριστοῦ Ἰησοῦ der Einheitsaspekt vollkommen fehlt.13 Dass eine Einheitsaussage aber definitiv Bestandteil der Tradition gewesen ist, konnte anhand des jeweiligen Kontextes von 1Kor 12,13 und Kol 3,11 aufgezeigt werden. Demnach ist εἷς ἐστε ἐν Χριστῷ als die ursprüngliche Lesart anzusehen,14 da nur sie den Einheitsaspekt bietet.

Mit dieser Feststellung ist nun zu überlegen, wie εἷς zu verstehen ist und welche Auswirkung 3,28d als Abschluss und zugleich argumentativer Bestandteil von 3,27f auf die Interpretation des Abschnittes hat.

Die Taufe auf den Tod Christi

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