Читать книгу Sehnsuchtskarussell - Cleo Maria Kretschmer - Страница 8
Оглавление9. Januar
Ich liebe die Liebe und ihre verführerischen Geschichten. Kurz vor Weihnachten zum Beispiel habe ich mich unsterblich in Finnland und seine Menschen verliebt. Um genau zu sein, in den finnischen Tango, um noch etwas genauer zu werden, in Mauri Antero Numminen. Er ist ein Philosoph, Musiker und Schabernacker, der immer dann zu gackern beginnt, wenn die anderen Amen sagen. Dieser Mann – M.A.N. – inspiriert mich.
Am 11.11.2003, so gegen 11 Uhr, sprang dieser Mann wie ein Kobold aus dem finnischen Wald in mein Leben. Ich erinnere mich genau, es war ein Dienstag, und die Zahl Elf war schon immer meine Glückszahl. Jedes Mal wenn mir in Dreitorenbach die Decke auf den Kopf fällt, fahre ich mit dem Stadtexpress nach München, bummele dort ein wenig herum, schlendere ziellos durch die Straßen, gehe ins Kino, in ein Café oder mache sonst etwas Schönes, um meine Seele zu füttern und das Nervenkostüm zu entspannen.
An diesem Tag entdeckte ich eine wunderbare jüdische Buchhandlung in der Nähe vom Wiener Platz. Eine seltsame Magie ging von diesem Laden aus, und ich konnte und wollte seinem Sog nicht widerstehen. Interessante, mir zum Teil unbekannte Autoren konnte man dort finden, und eine Vielzahl von herrlichen Kunst- und Fotobänden. Eigenartig war die Erregung, die ich zu spüren begann, denn ich wusste, hier liegt ein Schatz für mich verborgen, ich musste ihn nur noch aufspüren.
In einer kleinen Vitrine, versteckt in einer Ecke, entdeckte ich plötzlich Musik. Wie kleine Zinnsoldaten standen die bunten CDs stramm und gerade aufgereiht hinter dem blitzblanken Glasfenster und lockten mit Titeln wie Russendisco, Palomas und Finnischer Tango.
Finnischer Tango?
Das Wort elektrisierte mich. Finnischer Tango, was soll denn das sein?
»Hören Sie doch einfach mal rein!«, meinte die nette Verkäuferin, ein bildhübsches Rehkitz von einer Frau, mit Augen so schwarz wie glänzende Tollkirschen. Ich ließ mich nicht lange bitten.
Wer bei dieser CD nicht sofort anfängt zu weinen, muss aus Beton gemacht sein. Und wer bei Finnischem Tango anfängt zu lachen oder die Musik ironisch findet, ist ein Idiot. Die melancholische Erotik dieser Lieder nahm mich gefangen. Dann kam plötzlich der Song »Ich mit meiner Braut im Parlamentspark« von Mauri A. Numminen, und schon war es um mich geschehen. So was kann man sich doch nicht trauen, dachte ich mir, mit so einer Kieksstimme zu singen und dann auch noch einen derart wilden Text. Mauri und sein rotzfrecher Mut überzeugten mich sofort. Ich kaufte ihn – und jetzt gehört er mir.
Wieder zu Hause verschlang ich zuerst einmal jede Zeile in dem kleinen CD-Booklet und erfuhr, welcher Gigant dieser Kiekser in Wirklichkeit ist. Natürlich erstand ich auch sofort eines seiner Bücher. Nur wegen ihm begegnete ich Wittgenstein und dessen genialen Satz: »Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.« Und jetzt überlege ich mir gerade ernsthaft, ob ich nicht die Penispeitsche, die in Mauris Roman Tango ist meine Leidenschaft eine so entscheidende Rolle spielt, als erotischen Geschenkartikel auf den Markt bringen soll, gleichsam unter dem Motto: Nietzsche einmal richtig verstanden und gelebt.
Nur Knäckebrot und Fischkonserven schmecken mir zurzeit, und sobald ich wieder Geld habe, kaufe ich mir Mauris Buch Der Kneipenmann, weil ich jetzt alles über 132 finnische Kneipen und verdünntes Bier wissen will.
Im Moment ist meine Welt kompletto Däga-Däga, und das ist gut so. Däga-Däga, Numminens CD, ist Dadaismus, Surrealismus und finnischer Underground in Reinkultur. Ja, da macht doch das Leben gleich wieder Spaß. Künstlerische Bewegungen, die sich mit so viel Intelligenz, Humor und Talent gegen den etablierten Kulturbetrieb richten, wie es bei dem göttlichen Numminen und seiner Band auf dieser silbernen kleinen Scheibe zu spüren ist, würzen das Leben mit Freude. Nächsten Monat, wenn ich Geburtstag habe, schenkt mir mein Freund, die Honigbiene, für meine Bildung hoffentlich M.A.N.’s mutige Vertonung von Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus, die da heißt Tractatus Suite.
Die Honigbiene ist schon seit fünf Jahren ein Freund. Wenn wir zusammen ausgehen, was wir oft tun, bin ich die Biene Maja und er macht den Willi. Das heißt: Wir beide hecken immer wieder Pläne aus, wie das normalerweise nur Kinder tun. Wir spielen einfach lustige, emsige Bienen, die gerne Honig naschen und vieles mehr. Nachts, wenn ich manchmal von ihm träume, hat er immer ein schwarz-gelb gestreiftes T-Shirt an, das ihm wirklich toll steht.
Ich habe ihn Honigbiene getauft, weil das Süße der Inhalt seines Lebens ist. Er könnte locker bei Thomas Gottschalk auftreten, weil er alle Schokoladen, Bonbons, Pralinen, Kekse, Zucker-, Eiscreme- und Honigsorten Deutschlands kennt. Honig schleckt er am liebsten gleich aus dem Glas.
Er ist liebenswert, groß, lustig und seine Aura hat einen honigfarbenen Glanz. Den meisten erotischen Frauen läuft gleich das Wasser im Mund zusammen, wenn sie ihn sehen, weil sie mit ihren feinen Nasen den königlichen Liebhaber zehn Kilometer gegen den Wind wittern. Niemand will mir glauben, dass unsere enge Beziehung nur platonischer Natur ist, doch mir ist das sanfte Feuer einer ewigen Freundschaft mehr wert als eine glühende Leidenschaft, die nur zu einer Trennung führen kann. Vor allem, weil bei ihm zu Hause seine Ehefrau, die Bienenkönigin, das Zepter schwingt und ihr königliches Reich leidenschaftlich regiert und verteidigt, kommt er für mich als. Liebhaber nicht in Frage.
Aber als mein Freund ist er allererste Sahne, und ich bin mehr als glücklich darüber, ihn damals beim Met-Trinken am Viktualienmarkt kennen gelernt zu haben.
Natürlich habe ich ihm auch gleich eine Däga-Däga-Finnenwelt-CD geschenkt, und er ist von dem rosa Cover begeistert, auf dem ein bärtiger Männerkopf mit Hut zu sehen ist, der sich mit gespreizten Fingern die Nase zuhält. Die Honigbiene hat ein gutes Gefühl für avantgardistische Optik, denn er ist ein meisterhafter Fotograf und Flohmarktgänger, ein leidenschaftlicher Sammler und Lebenskünstler.
Wir inszenieren oft gemeinsam Flohmärkte auf dem Lande, denn für uns ist das die bevorzugte Art, Theater zu spielen. Richtiges, echtes Straßentheater, mit Musik, Geschichten, koketten Augenaufschlägen, Flirts und dem Verschenken von Glück an Menschen, die sich über die tollen Schnäppchen freuen, die wir ihnen bieten. Das Geld, das wir zusätzlich bei diesem Spaß verdienen, verfuttern wir gleich in schönen Gasthäusern.
Es ist einfach schön, mit der Biene durchs Leben zu fliegen.
Ich muss nur aufpassen, dass ich dabei nicht zu dick werde.
Obwohl – seitdem mir Mauri A. Numminen begegnet ist, weiß ich auch, dass ich nicht durig, sondern mollig bin, denn ich habe von ihm gelernt, dass es Völker und Menschen gibt, die entweder auf Dur- oder Molltönen schwingen – und eine Blueserin wie ich ist natürlich voll Moll. Dieses Wissen erlöst mich von vielen Ängsten und Zwängen. Ehrlich gesagt, fühle ich mich jetzt im Winter in dieser gemütlichen Molligkeit sauwohl.
In dieser Woche passt die Göttin Lakshmi auf mich auf. Diese wunderbare indische Göttin des Glücks, dieses kostbare Juwel, sie spiegelt den Glanz des Reichtums wider. Hoffentlich, kann ich nur sagen, denn die heilige Automatenkuh der Sparkasse will einfach keine Milch mehr geben.
Ich bin wieder einmal pleite und beobachte seit einiger Zeit mit gerunzelter Stirn, wie die Geier majestätisch über meiner Hütte kreisen. Im Dezember war alles noch voller Glanz. Ein Maharadscha vom Chiemsee, der mir auf der Vernissage eines befreundeten Künstlers zugefallen war, hatte mich huldvoll in seine Sänfte und seinen Palast geladen, mir Diamanten und Perlen versprochen, mich mit leckeren Trüffelsüppchen gespeist – und wollte mir gar ein eigenes Palästchen bauen, GmbH genannt, in dem ich, Maria Mariak, die Geschäftsführerin sein sollte.
Toll, dachte ich, und das alles gegen Sold und Lohn. Geringer Lohn zwar, aber immerhin. Endlich wieder auf eigenen Füßen tanzen, mit beiden Beinen auf der Erde stehen.
Dann kamen die rauen Nächte. Finstere Geister und Simsalabim ließen die leuchtenden Zukunftspläne ins Nirwana verschwinden, aus dem sie gekommen waren.
Siegfried, mein geliebter Freund und Anwalt, raufte sich nur noch verzweifelt die Haare, als ich ihm meine neuesten Pläne offenbarte. Dummerweise glaube ich so sehr an das Gute im Menschen, dass ich schon einige Male im Leben Verträge unterschrieben habe, die alles andere als zu meinem Vorteil waren. Obwohl ich wunderschöne grüne Augen habe, mit ganz langen Wimpern, bin ich manchmal mehr als blauäugig. Aus diesem Grund unterschreibe ich nichts mehr, ohne dass Siegfried es zuvor abgesegnet hat, und das ist mein Glück.
Jetzt kenne ich mich aus mit GmbHs und Geschäftsführereien gegen geringen Lohn und weiß auch, dass es gar nicht gut ist, wenn das Ganze praktisch nur eine Briefkastenfirma sein soll und die Maharadschas sich um die Buchführung selbst kümmern wollen.
Schon gar nicht, wenn in ihrem großen Reich gerade der Krieg ausgebrochen ist, was heißen soll, dass die eigene Firma gerade Pleite geht und so ein Unschuldslamm wie ich wie gerufen kommt. Mit einer frischen GmbH kann man anscheinend für kurze Zeit so viel einkaufen, wie man will. Einzig der Geschäftsführer muss dafür geradestehen, während das Cleverle mit der erbeuteten Ware in Ungarn verschwindet und sich dort in dem schönen Haus, das er schon lange für einen Apfel und ein Ei erstanden hat, ein schönes Leben macht und etwas Neues aufzieht.
Man möge mir verzeihen. Ich war eben sechs Jahre schwer krank und arbeitsunfähig. Ein Aneurysma im Gehirn ist in den meisten Fällen tödlich oder führt zu einer lebenslangen Schwerstbehinderung, und es setzt die betroffenen Menschen oft für lange Zeit auf die Bewusstseinsstufe einer Pflanze. Eine Krankenversicherung hatte ich – mit jugendlichem Leichtsinn und bärenstarker bayerischer Gesundheit ausgestattet – vorher nicht für nötig gehalten. In dem Moment, in dem der große Gong für einen geschlagen wird, knallt man mit der realistischsten Realität zusammen, die man sich vorstellen kann. Alles, was zuvor ein fester Bestandteil des Lebens zu sein schien, löst sich in ein Nichts auf.
Damals, als es den großen Knall in meinem Kopf gab, als dieses Aneurysma im Gehirn, direkt im Sprachzentrum, platzte, und es zu der lebensgefährlichen Gehirnblutung kam, entschwanden in einer Zehntelsekunde mein Leben, meine Sprache, meine Bewegung, mein Beruf, viele Freunde und auch das wenige Geld auf meinem Konto in den Nebeln des Unsichtbaren.
Plötzlich erwacht man auf einer Intensivstation, wird wiedergeboren, und dann fängt ein neues Leben an. Man muss alles neu erlernen und im Laufstall des Sozialamts erst einmal das Krabbeln versuchen.
Eine der Künste, die man begreifen muss, ist Leben mit unendlicher Wenigkeit. Das ist sehr spannend, denn man überschreitet die Grenze in das Land von »wichtig und unwichtig«; in diesem Land herrscht ein neues Gesetz, das lautet: Weniger ist mehr!
In so einer Lebenssituation lernt man sich zum ersten Mal wirklich kennen, denn es gibt nichts mehr, hinter dem man sich verstecken kann, es gibt nur noch den eigenen Wert. Man hat nichts mehr, denn die Sozialhilfe deckt gerade das Existenzminimum, und man schwebt plötzlich in einem luftleeren Raum.
Nach der Gehirnoperation musste ich das Sprechen wieder mühsam erlernen, und auch mein Kurzzeitgedächtnis war jahrelang verschwunden; es hat einfach nicht funktioniert.
Wenn man als Baby nicht zu dick ist, kommt man ja auch leichter auf die Beine, flüstert einem dann der schwarze Humor ins Öhrchen. Irgendwann einmal macht das Krabbeln aber keinen Spaß mehr. An den therapeutischen Gitterstäbchen lernt man, sich hochzuziehen, und irgendwann kann man wieder gut und sicher stehen. Dieses Gefühl ist königlich.
Aber dann wird der Laufstall natürlich zu eng. Man will jetzt Laufen lernen und greift nach jeder Hand, auch wenn diese in Wirklichkeit nur eine Socke ist. GmbHs sind sehr oft Socken. Sogar, wenn diese zunächst duften und aus hellblauer Seide sind wie bei diesem Maharadscha.
Doch zum Glück habe ich diesen Sonntag ja die Lotuskönigin Lakshmi gezogen. Darüber bin ich mehr als glücklich, denn allein ihr Anblick verspricht mir neue Ideen, Möglichkeiten und Hilfen.
Dieses wundervolle Göttinnenorakel lege ich mir jeden Sonntag. Gayan Sylvie Winter hat es geschaffen, und ich danke ihr und dem liebevollen Freund, der es mir schenkte, von Herzen, denn es ist ein wichtiger Teil meiner Heilung geworden. Den Dialog mit den Sternenschwestern, ich weiß ihn sehr zu schätzen.